Wo es in Luzern für Blinde heikel wird

«Luzern ist nicht unter den Top drei der blindenfreundlichen Städte»

Die Spaziergänge entlang dem Quai sind für Michael Heer nicht immer nur entspannend.

(Bild: ida)

Personen, die im Bahnhof herumstehen und die Bodenmarkierungen blockieren, sind längst nicht das einzige Problem für Blinde. Eine Krankheit raubte Michael Heer beinahe das gesamte Augenlicht. Er erklärt, wo Blinde in Luzern auf Hindernisse und schwierige Stellen stossen – und warum er in einem Bahnhof drei Minuten auf dem Gleis herumirrte.

Schauplatz Bahnhof Luzern: Ein Mann tappt im Untergeschoss bereits zum zweiten Mal an die Wand. Er scheint sichtlich verwirrt zu sein. Muss er mehr nach links oder rechts laufen? Wo befindet er sich überhaupt? Wieder läuft er in die Wand. In seinen Händen hält er eng umschlossen einen Blindenstock.

Solche Situationen kennt auch Michael Heer (44). Auf dem einen Auge ist er vollständig blind, auf dem anderen erkennt er noch leichte Schattierungen. In früher Kindheit litt er unter grauem Star. Es folgten diverse Operationen. Die Krankheit wäre heilbar gewesen – bis eine Netzhautablösung der Augen eintrat. Diese raubte ihm beinahe das gesamte Augenlicht.

Wenn der Abfalleimer zum Hindernis wird

Läuft Michael Heer durch das Untergeschoss des Bahnhofs, weicht auch er einmal zu sehr nach rechts ab. Er verliert sich ums Eck beim «Tschümperlin». Er bewegt sich vorsichtig und langsam, stets mit Bedacht. Das Klopfen seines Blindenstocks folgt, Schritt für Schritt. Mal unsicher, mal kräftiger. Schliesslich findet er zurück, um sich den Weg zur Rolltreppe zu bahnen.

Abfalleimer, Säulen und ein Wagen des Putzequipments stellen Hindernisse dar, die für einen Blinden zu einem echten Problem werden können, wie Heer erklärt. «Früher versuchte ich jeweils, das Untergeschoss zu meiden. Genau aus diesem Grund.»

Heute wohnt Heer in Goldau. In Luzern findet er sich mittlerweile gut zurecht, weil er jahrelang in der Stadt wohnte. «Ein Blinder, der das erste Mal in dieser Unterführung steht, ist jedoch total überfordert.»

Nicht jede Ampel funktioniert für Blinde

Eine Gefahr stelle jeweils auch das Überqueren von Strassen dar. Thomas Karrer, Projektleiter Verkehrssteuerung der Stadt Luzern, sagt, dass rund 95 Prozent aller Ampeln in der Stadt mit taktilen Signalgebern ausgestattet seien. Drückt man den angebrachten Knopf, gibt er bei grünem Licht ein Tackern von sich und beginnt zu vibrieren. Zumeist werden die Signale sogar automatisch ausgelöst.

Nicht jede scheint jedoch einwandfrei zu funktionieren. Ein Test zeigt, dass ausgerechnet diejenige am Schwanenplatz, die von der Seeseite zur Stadt führt, nicht vibriert und laut Heer «zu leise» pfeife.

«Dieser Mangel ist uns nicht bekannt – und dürfte auch nicht sein», sagt Karrer. Um die besagte Ampel werde man sich kümmern. Im Rahmen von Wartungsarbeiten werden diese mindestens einmal jährlich auf ihre Funktionalität hin überprüft.

 

Vibriert nicht und das Geräusch ist nur sehr leise hörbar: Die Ampel beim Schwanenplatz fiel bei Michael Heer durch.

Vibriert nicht und das Geräusch ist nur sehr leise hörbar: Die Ampel beim Schwanenplatz fiel bei Michael Heer durch.

(Bild: ida)

Viel Verbesserungspotenzial für Luzern

«Luzern ist sicher nicht unter den Top drei der blindenfreundlichen Städte», sagt Michael Heer. «Eher so im Mittelfeld.» Heer sieht einige Verbesserungsmöglichkeiten für Blinde in Luzern, wie das besagte Bahnhofsuntergeschoss, das man vollständig mit Leitlinien ausstatten könne.

Auf dem Gelände der SBB ist der Bahnhof Luzern im Bereich des Kopfbahnhofs und der Perrons vollständig mit taktilen Leitlinien versehen. Nicht jedoch das Untergeschoss. Grund ist, dass der eigentliche Zugang zu den Zügen über das Erdgeschoss erfolge, wie Daniel Pallecchi, Mediensprecher der SBB, sagt.

«Warum beim Umbau der Unterführung Süd vor einigen Jahren auf diese Leitlinien verzichtet wurde, können wir heute nicht mehr sagen», fährt Pallecchi fort. Alle Aufgänge zu den Gleisen bei der Bahnhofsunterführung Süd sind jedoch mit Braille und taktiler Normschrift gekennzeichnet.

Im Winter aufs Gleis gelangt

Dass Leitlinien überlebenswichtig sind, weiss Heer nur zu gut aus eigener Erfahrung. «Im Bahnhof Aarau gelangte ich einmal auf ein Gleis», erinnert er sich. Es war in einer Winternacht: «Die Blindenlinien waren derart mit Schnee bedeckt, dass davon überhaupt nichts mehr ersichtlich war.» Heer sei wohl drei Minuten auf dem Gleis umhergeirrt, bis ihm jemand zu Hilfe eilte. Dennoch musste er ins Spital, da er sich beim Sturz sein Handgelenk gebrochen habe.

Auch die Nutzung des öffentlichen Verkehrs könnte in Luzern blindenfreundlicher sein, sagt Heer. Der jetzige SBB-Fahrplan ist zwar bereits jetzt schon mit entsprechender Software für Blinde nutzbar. Informationen zu Abfahrszeiten gibt die SBB jedoch nur bei Fernverkehrszügen akustisch durch.

Der Bahnhof Baden nehme da eine Vorbildfunktion ein: «Da gibt es bei jedem Bus eine Säule mit einem Knopf. Betätigt man diesen, erklingt eine Stimme, die sagt, welche Buslinie da Halt macht und wann der nächste Bus fährt», sagt Heer. Derzeit testet der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband mit den Zuger Verkehrsbetrieben eine App, die blinden und sehbehinderten Menschen helfen soll, selbständig den gewünschten Bus oder Zug auffinden zu können.

Und Menschen versperren die Wege …

Doch auch Menschen selbst können zur Krux werden. «Zum Teil schrecken mich die vielen Touristen ab. Es ist ein altbekanntes Problem, dass Personen Blindenlinien mit ihren Rollkoffern versperren. Viele realisieren nun mal nicht, dass dies nicht ihr Terrain ist.»

Nach wie vor passt Michael Heer seinen Alltag seiner Krankheit an. Er meidet die Altstadt sowie Grossanlässe. Fährt er mit dem öV, berechnet er jeweils genügend Zeit und nimmt lieber einmal «den übernächsten Bus». Möchte er in ein Café, sucht er dasjenige aus, das er bereits kennt. «Man kann nun einmal niemanden dazu zwingen, Blindenlinien auf den Boden zu zeichnen», sagt Michael Heer.

Das Blindenleitsystem führt Blinde durch die Strassen. Doch was, wenn dieses aufhört?

Das Blindenleitsystem führt Blinde durch die Strassen. Doch was, wenn dieses aufhört?

(Bild: ida)

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