Der Mensch im WM-Fieber

Fussball ähm … bewegt die Welt

Ein Juniorenspiel zwischen Adligenswil/Meggen und Rotkreuz artete aus. (Bild: fotolia)

Fussball ist der Sommertrend 2018 in Luzern und die Begeisterung für die WM ist nicht zu bremsen. Wie kann man da anders, als ebenfalls in völlige Ekstase zu verfallen? Denn schliesslich geht es um Frisuren, Simulanten und… Flitzer.

Die WM läuft. Die Welt ist aus den Fugen.

Geschrei aus Hinterhöfen, Vorgärten und von überfüllten Beizen-Terrassen wirft den gemeinen Velofahrer fast vom Sattel. Die Balkone zeigen sich rot-weiss beflaggt, denn Fussball ist überall. Derzeit erkennt man die Beliebtheit dieser Sportart in Luzern an ganz vielen Orten. Alpenquai, Lädeliplatz, Eichwäldli, Hotel Schweizerhof, Schüürgarten, Neubad, Bourbaki, Seesicht vor dem Hotel Palace, am Helvetiagärtli, auf der Facebook-Startseite und so weiter und so fort. Überall kommen Abend für Abend die sonst so kühlen Schweizer Gemüter in Wallung.

Man kommt schlicht nicht drumherum. Und so sitzt man schliesslich, schwitzende Oberschenkel an schwitzende Oberschenkel, reckt den Hals und versucht, bei «spannenden» Momenten möglichst wenig Bier vom Nachbar abzubekommen. Links wird über Ronaldos Leihmutter diskutiert, rechts über das Unterhemd von Jogi Löw – Fussball ähm … bewegt die Welt.

Begeisterung, Ekstase, Nationalstolz

Auch alle, die sonst nur unter Zwang und Protest an einen Sportanlass geschleift werden – an der WM, wenn alle gemeinsam schreien, dann schreien sie mit. Und bald hat man’s raus: Will man wirklich dazugehören, dann beleidigt man zwischendurch lautstark den Schiri und greift sich jaulend an den Schädel, wenn der Ball in die Nähe des Tors gerät, was glücklicherweise nicht allzu oft vorkommt. Und zäck, gehört man dazu.

Und so lässt sich das Volk kollektiv begeistern. Nicht unbedingt vom Sport, aber von der Stimmung und so … Zur WM braucht man auch nichts über Fussball zu wissen. Es ist bei dieser Sportart ja bekanntermassen nicht besonders viel Intellekt gefragt, was sich an den Protagonisten zeigt. So drehen sich die Diskussionen kaum um sportliche Leistungen, sondern um Frisuren, die vielleicht in den 90ern scharf waren, um Simulanten und Wetten, um koksende Nationalhelden und Doppeladler.

Und es gibt so viele Dinge, die man zur WM endlich mal wieder tun kann: Endlich dürfen wieder Länderfahnen von den Balkonen und über den Schrebergärten wehen, ohne dass der plötzlich ausgebrochene Patriotismus von den Nachbarn kritisch beäugt wird.

Endlich können ideenfreie Werbeagenturen wieder eine neue Plakatkampagne auf den Markt schmeissen, und endlich hat man wieder ein Gesprächsthema mit den ehemaligen Schulkameraden – nicht bloss das Wetter und wer sich denn diesen Sommer alles so traut.

Saufen und Besserwissen

Endlich darf wieder über 50 Mal über 90 Minuten lang auf eine extra angelegte Rasenfläche im frisch aufgemöbelten Stadion gestarrt werden. Die Ausbeutung der Arbeitskräfte in St. Petersburg soll sich ja auch gelohnt haben. Und die Wirte sollen sich nicht umsonst auf Stühle und Zehenspitzen gestellt haben, um die Gratis-Fähnchen aufzuhängen. Und endlich geht bei denen auch wieder gehörig Bier über den Tresen.

Endlich wird wieder hupend der Hintern aus dem Fenster des fahrenden Autos gehängt – oder war es eine Flagge? Als hätten sie die Revolution angezettelt und gewonnen. Und endlich darf wieder «Wir haben gewonnen» gebrüllt werden, auch wenn man seiner Lebzeiten noch nie einen Mannschaftssport betrieben hat.

Endlich kann wieder über die Sängerqualitäten, den Nationalstolz und die erleichterte Einbürgerung unserer Mannschaft gelästert werden. Und endlich braucht man sich über Inhalte keine Sorgen mehr machen. Es ist ein bisschen wie mit RTL2 am Nachmittag – endlich darf man wieder alles besser wissen und sich zum Schluss, bei den Interviews mit den Kopfball-versehrten Fussballbirnen, so viel intelligenter fühlen.

Man darf sich fühlen wie Stallone in seinen guten Jahren, wenn sich Profisportler nach einer leichten Berührung am Arm mit einem gefühlten Oberschenkelhalsbruch dreimal quer über den Platz rollen.

Grapschen und Wälzen

Endlich darf auch wieder gepöbelt werden, unbeschwert gelittert, geschrien und die Reporterin ganz länderverbindend abgeküsst – #letherdoherjob. Weil Fussball verbindet die Welt.

Und endlich darf auch als homophobes Mannsbild wieder verschwitzten Männern zugeklatscht werden, die sich gegenseitig an den Hintern greifen und sie sich nach einem Tor alle wild auf einem Haufen wälzen.

Schreien und Rennen

Aber bei aller Ironie muss man fairerweise sagen, dass Fussball ja nicht nur zur WM beliebt ist. Konkreter: Männerfussball ist beliebt.

Für alle, die diese Behauptung mit Begründungen untermalt wünschen: Das erkennt man während des Jahres, wenn Fussballspiele in der näheren Umgebung stattfinden. Denn dann wird auch viel geschrien und oft rennen danach Menschen in gleichfarbigen T-Shirts und mit Stöcken durch die Luzerner Neustadt. Sie schreien Dinge wie «Hurensöhne», trommeln und werfen die geballten Fäuste in die Luft. Sie singen gemeinsam hochstehende Texte in beinahe variierenden Melodien. Sie sind ganz emotional und mit dem Herzen dabei, könnte man sagen. So wie nun urplötzlich die ganze Welt.

Für mich ist das Ganze schon seit einer Weile nicht mehr so emotional wie früher. Nämlich seit sich die Veranstalter in Zensur üben.

Ohne Flitzer macht Fussball halt einfach keinen Spass mehr.

 

 

Übrigens: Wenigstens in Luzern sind die Flitzer noch nicht ausgestorben. Ein weibliches Exemplar wurde im Neubad gesichtet. (Zum Artikel)

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