Junger Luzerner Autist zeigt seine Welt

Autismus – eine Flut in seinem Kopf

Adrian von Bergen in seinem Gewächshaus, wo er Pflanzen aus aller Welt zieht.

(Bild: jav)

Klischees über Autisten gibt es einige und Figuren wie «Rain Man» aus Hollywood zeigen genau dieses Bild. Wir haben einen jungen Luzerner getroffen, der seit sieben Jahren mit der Diagnose «Autismus-Spektrum-Störung» lebt. Dem bekannten Bild entspricht er jedoch gar nicht.

Adrian von Bergen ist 25 Jahre alt und lebt in Fischbach. Er ist blond, 1,80 gross und schlank, etwas linkisch in seinen Bewegungen und lacht viel.

Der gelernte Zierpflanzengärtner arbeitet als Hauswart, in seiner Freizeit verbringt er viel Zeit im Gewächshaus und mit seinen Bienenvölkern. Sonst unternimmt er Ausflüge mit seiner Freundin. Er spielt in einer Guuggenmusik, taucht gerne, engagiert sich im Imkerverein und fährt einen dunklen Skoda Fabia. Alles nichts Ungewöhnliches.

Doch Adrian von Bergen ist anders. Wenn seine rechte Hand müde wird, schreibt er mit seiner linken weiter – beide Seiten sind gleich stark. Er kann sich vieles merken, hat immer einen Plan B und Plan C im Köcher. Er reagiert stark auf Kälte, trägt im Winter immer fünf Schichten und trotzdem sticht es in seinen Fingerkuppen. Bei kleinen Dingen im Alltag braucht er Unterstützung, er erkennt Ironie nur mit Mühe, doch er lässt den Leuten ihren Spass.

Adrian von Bergen leidet unter einer Autismus-Spektrum-Störung (siehe Box). Und das macht so einige Dinge in seinem Leben komplizierter.

«Erst wenn die Stimme kippt, weiss ich, dass etwas nicht mehr in Ordnung ist.»

Erst mit 18 Jahren erhielt er die Diagnose. «Bis dahin war es ein langer Kampf. In der Schule hatte ich meinen Kopf überall.» ADHS galt lange als Erklärung – doch irgendwie passte es nicht wirklich. Nach zahlreichen Abklärungen und Schulwechseln lag nach der Lehre das Ergebnis auf dem Tisch: Autismus. «Es war erlösend.» Von Bergen lacht.

Stempel drauf und weg

Wir treffen uns in Fischbach, in seinem Elternhaus, wo von Bergen noch wohnt. Bald jedoch will er mit seiner Freundin zusammenziehen. Seit eineinhalb Jahren sind die beiden ein Paar. Vorher hatte er mit Frauen kein Glück. Teilweise habe er sich über Wochen toll mit einer Frau verstanden, doch kaum erwähnte er den Autismus, sei der Kontakt abgebrochen. «Bei den meisten normalen Frauen bist du als Autist schlicht chancenlos, abgestempelt.»

Autismus-Spektrum-Störung

Menschen mit einer Störung aus dem Autismus-Spektrum nehmen ihre Umwelt anders wahr. Sie können sich nur mit Mühe in andere Menschen einfühlen und mit ihnen kommunizieren. Sie können die Stimmung ihres Gegenübers aus dessen Gesicht schlecht erkennen. Gerne befassen sie sich mit einem Spezialgebiet. Sie haben Schwierigkeiten, sich auf Neues einzustellen und den Wunsch, Alltagsabläufe immer gleich zu gestalten.

Oft orientieren sie sich an Details und haben Mühe, eine Situation ganzheitlich zu erfassen. In vielen Fällen sind die Betroffenen in ihren Bewegungen eher ungeschickt. Auch Über- oder Unterempfindlichkeiten gegenüber Licht, Gerüchen, Geräuschen oder Berührungen sind häufig.

Mehr Informationen, Unterstützungsangebote und Kontakte finden sich auf der Webseite von «Autismus Deutsche Schweiz».

Wir setzen uns auf den Balkon, die Sonne knallt auf das Vordach. Der Nachbar mäht lautstark Gras, es läuft Metalmusik, die den Mäher sogar noch übertönt. Doch der ganze Lärm scheint von Bergen nicht zu kümmern.

Bienenvölker und Pflanzenkolonien

Begegnungen mit Menschen, die von seinem Autismus wissen, seien für das Gegenüber oft aufregender und überfordender als für ihn selbst, weiss er. Diese Einschätzung kann von Bergen jedoch nur aufgrund von Erzählungen treffen. Es sei sehr schwierig für ihn, die Emotionen anderer Menschen in ihren Gesichtern zu erkennen. Was die andere Person denkt oder was sie von seinen Gefühlen wahrnimmt, bleibt für ihn ein Rätsel. «Erst, wenn es mir jemand direkt sagt, oder wenn die Stimme kippt, weiss ich, dass etwas nicht mehr in Ordnung ist.» Er nutze – wahrscheinlich deshalb – auch kaum Emojis in seinen Nachrichten.

Bei einer grossen Führung durch Garten und Gewächshaus taut von Bergen richtig auf. Er gestikuliert mit seinen grossen Händen, seine Augen schliesst er oft so, dass nur noch etwas Weiss zu sehen ist. Während er von seinen exotischen Pflanzen spricht und den Bienenvölkern, zeigt sich, wie er sich in Rage reden kann. Die Reaktion des Gegenübers nimmt er scheinbar kaum noch wahr. Gleichzeitig zeigt sich sein beeindruckendes Wissen.

Adrian von Bergen erhielt erst mit 18 Jahren die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung.

Adrian von Bergen erhielt erst mit 18 Jahren die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung.

(Bild: jav)

IQ gegen Verarbeitung

Sein Gedächtnis sei ziemlich gut, weiss von Bergen. «Vom IQ her würde es zum Professor reichen, haben sie mir gesagt.» Doch mit der Verarbeitung hapert es. Immer weiter überlege er, schweife ab und verzettle sich. Ein analytischer Schachbrettdenker, positiv formuliert. «Es ist wie Brainstorming. Diesen Spass habe ich den ganzen Tag lang.» Er habe ständig hunderte Baustellen im Kopf, immer alle Alternativen durchgespielt. Er könne nicht einfach ein Glas Wasser eingiessen. Erst werde in seinem Kopf alles thematisiert: Wie soll man das Wasser reinschütten, von wie hoch, wie schnell, wie viel?

Zahlreiche alltägliche Dinge führen so zu Stresssituationen. Manchmal komme er aus dem Chaos kaum noch raus. «Es ist dann so, als wären da fünf Brände in meinem Kopf, aber nur zwei, die löschen.» Da brauche er dann seine Rückzugsmöglichkeiten. Auch Listen helfen ihm dabei, Prioritäten zu setzen.

Keine Lügen

Wenn er sich etwas wünschen könnte, dann eine Gesellschaft, die den Fokus nicht auf Defizite, sondern auf Stärken legt. «Dass die Frage ist: Was kannst du gut, und nicht, was kannst du nicht.» Nach seinen Stärken gefragt, zögert er jedoch einen kurzen Moment. «Ich kann mich schlecht aus der Perspektive anderer betrachten.»

Doch nach einem kurzen Augenschliessen: «Ich habe ein breites Wissen im Bereich Pflanzen, Insekten, Tierzucht. Zudem kann ich eigentlich fast alles flicken. Ich habe immer einen Plan B und C bereit, immer Alternativen, mein Gedächtnis ist sehr gut. Ich mache meine Arbeit seriös, fast perfektionistisch. Und ich lüge nicht.» Das sei oft Vorteil und Nachteil zugleich. Er sei oft zu ehrlich. Ungefiltert spreche er aus, was er denke. Und manchmal sei das halt nicht, was gerade «angebracht» wäre. Doch Adrian von Bergen nimmt auch das mit Humor.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Beat Leu
    Beat Leu, 03.06.2018, 17:31 Uhr

    Eine «gschpürige» Reportage habe ich gelesen. Bravo!. Einige Eigenschaften von Adrian würde ich auch gerne haben. Aber seine Eigenschaft «ungefiltert Sprechen» habe ich. Was dann passiert, da kann ich mit Adrian mitfühlen. Das fährt bei nicht wenigen Menschen quer ein, was anschliessend Nacharbeit nötig macht oder die Folge hat, dass ich als scheinbar Ungeniessbarer zurückbleibe. Obschon ich doch eigentlich als Normalo durchgehen sollte….

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