Sexualität darf Thema sein

Lust, Liebe und Behinderung: Luzerner Experte über Tabus

Verliebt lebt es sich leichter. Auch mit Behinderung.

 

(Bild: fotolia)

Die Integration von Behinderten wird in der Gesellschaft hochgehalten. Sexualität und der Kinderwunsch von Menschen mit einer geistigen Behinderung sind jedoch noch immer für viele ein Tabu. Der Grund dafür: «Unwissen», sagt der Luzerner Experte Janosz Santschi. Er arbeitet seit 13 Jahren bei der Luzerner Stiftung Brändi. 

Menschen verknallen sich, sie begehren, sie lieben und leiden.

Dass dies auch bei Menschen mit einer Behinderung der Fall ist, dass auch sie erotische und romantische Gefühle hegen, stellte lange Zeit ein Tabu dar. Sexualität wurde behinderten Menschen nicht zugestanden und bis 1985 durften Frauen mit einer geistigen Beeinträchtigung gar zwangssterilisiert werden. Doch seither hat ein massiver Wandel stattgefunden.

Janosz Santschi arbeitet seit 13 Jahren im Wohnhaus Horw der Stiftung Brändi. Hier leben Menschen mit Beeinträchtigung zwischen 18 Jahren und dem Pensionsalter in Wohngruppen zusammen. Im Interview mit zentralplus gibt er einen Einblick, wie heute in der Behindertenbetreuung mit den intimen Themen im Alltag umgegangen wird.

zentralplus: Wie hat sich der Umgang mit Sexualität im Behindertenbereich in Ihrer bisherigen Laufbahn verändert?

Janosz Santschi: Die grösste Veränderung ist, dass es heute Thema sein darf. Dass man sagen darf: Sexualität ist ein wichtiger Teil der Lebensqualität und wir wollen den Menschen zu diesem Recht verhelfen. Die Bedürfnisse der Menschen waren früher dieselben wie heute. Ganz bestimmt jedoch gab es mehr Ängste und moralische Keulen, welche von der Erziehung und der Aufklärung nachhaltig geprägt waren. Heute leben wir das ganz anders vor.

«Progressives Denken hat nichts mit Alter zu tun.»

zentralplus: Inwiefern?

Santschi: Bereits bei der Aufnahme in ein Wohnhaus wird klar, dass Sexualität ein Thema sein wird. Uns interessiert es, ob jemand seine Bedürfnisse formulieren kann und ob die Person weiss, was sie will und was nicht. Wir suchen Antworten auf die Fragen: Wie wehre ich mich, wie grenze ich mich ab, wann ist mir etwas zu nahe? Wie wirke ich auf andere? Wir wollen unterstützen, wenn Wünsche nach einer Beziehung oder nach Körperlichkeit da sind.

zentralplus: Vor rund zehn Jahren hat Pro Infirmis die «Berührerinnen» zum Thema gemacht – die Konsequenz waren massive finanzielle Einbussen, da sich die Spender reihenweise distanziert haben. Unterstützung von Behinderten ja, aber die sollen bloss keine sexuelle Wesen sein?

Santschi: Tatsächlich hat sich damals gezeigt, dass die Gesellschaft noch nicht soweit war. Das Thema hat grosse Verunsicherungen ausgelöst.

zentralplus: Sexualität und Behinderung – ein Tabu?

Santschi: Manchmal gleich ein doppeltes. (Lacht.)

Janosz Santschi im Brändi.

Janosz Santschi im Brändi.

(Bild: jav)

zentralplus: Weshalb existiert in der Gesellschaft das Bild des asexuellen Behinderten?

Santschi: Unwissen. Je mehr wir über behinderte Menschen wissen, über ihre Bedürfnisse und Wünsche, desto weniger Unsicherheiten sind da. Wenn wir die Bedürfnisse aber nicht kennen, dann interpretieren wir ihr Verhalten und behandeln aufgrund von Interpretationen. Sie sehen, es ist wichtig, dass wir uns mit den Tatsachen auseinandersetzen.

zentralplus: Wie gehen Sie mit Angehörigen um, die eine Beziehung oder sexuelle Erfahrungen ihrer beeinträchtigten Kinder ablehnen?

Santschi: Man muss hier vorausschieben: Die Beziehung von Menschen mit Behinderung zu ihren Eltern sind oft hochemotional. «Das Kind» bleibt hier immer das bedürftige Kind, auch wenn es längst erwachsen ist. Wenn jedoch ein Angehöriger sagt: «Mein Sohn hat keine Sexualität, ich will nicht, dass da etwas angesprochen und gar geweckt wird», dann suchen wir das Gespräch, leisten Aufklärungsarbeit. Wichtig ist dabei, dass kein Loyalitätskonflikt zwischen Eltern und Kind entsteht. Wir sehen uns hier als Vermittler, denn schlussendlich sind wir für die Lebensqualität unserer Klientinnen und Klienten da. Sie leiden unter einem allfälligen Streit mit den Eltern, aber auch bei unterdrückter Sexualität.

zentralplus: Gibt es hier merkliche Unterschiede zwischen der älteren Generation und jüngeren Angehörigen?

Santschi: Aus meiner Erfahrung kann ich sagen: nein. Progressives Denken hat nichts mit Alter zu tun.

«Die Erkenntnis, kein Kind haben zu können, ist von einer grossen Trauer begleitet.»

zentralplus: Im Brändi leben auch Paare zusammen. Was sind die Punkte, die Sie mit ihnen thematisieren?

Santschi: Meist geht es zu Beginn darum, was jemand in einer Beziehung möchte und wie er oder sie dazu kommt. Es geht darum, Kommunikation zu üben und nicht problembehaftet, sondern ganz offen über Bedürfnisse und Fragen zu reden. Beispielsweise über das Bedürfnis nach Nähe, möglicherweise auch Sex, Verhütung. Beim Zusammenleben sind es schliesslich dieselben Probleme wie bei Paaren ohne Beeinträchtigung. Es geht um die «Mödeli» und Macken des anderen, um die alltäglichen Ärgernisse, die beim Zusammenleben auftauchen oder auch um Prioritäten, Werte- und Zukunftsvorstellungen.

zentralplus: Wie gehen Sie mit einem Kinderwunsch um?

Santschi: Wichtig ist, dass wir den Wunsch sehr ernst nehmen und dann versuchen, die Realität aufzuzeigen. Oft existieren unfertige, romantisierte Bilder von Elternschaft. Wenn wir erklären, was die Konsequenzen sind, was die Verantwortung für ein Kind zu tragen alles bedeutet, dann wird oft schnell klar: So habe ich mir das nicht vorgestellt.

zentralplus: Und dann ist das Thema abgehakt?

Santschi: Im Gegenteil. Unsere Arbeit beginnt mit der Erkenntnis, kein Kind haben zu können. Denn die ist von einer grossen Trauer begleitet. Es gibt ja noch andere Wünsche, die sich bei Menschen mit Behinderung nicht erfüllen. Dann geht es darum aufzuzeigen, was möglich ist: Wie geht es weiter, was macht dich glücklich? Kann man andere Pläne schmieden, andere Ziele setzen?

zentralplus: Und was, wenn plötzlich doch ein Kind entsteht?

Santschi: Würde es tatsächlich dazu kommen, dass ein Kind entsteht, wäre die Betreuung hier eine enorme Herausforderung. Man müsste vieles anders organisieren, es wären andere Strukturen in der Betreuung und der Wohnsituation gefragt. Wie geht man beispielsweise damit um, dass ein Kind mit zehn Jahren seinen Eltern schulisch bereits voraus ist?

Janosz Santschi

Janosz Santschi ist Abteilungsleiter im Wohnhaus Horw der Stiftung Brändi. Er ist Experte im Bereich Agogik*. Im Nebenamt ist er Lehrbeauftragter beim Verband Heime und Institutionen Schweiz, Curaviva. Der 50-jährige Sozialpädagoge ist Vater von drei Kindern und lebt in Horw.

* Agogik ist die Lehre über das professionelle Leiten und Begleiten von Menschen.

zentralplus: Beziehungen zu leben ist ein Thema. Wie gehen Sie damit um, wenn jemand den Wunsch äussert, eine Prostituierte oder Berührerin besuchen zu wollen?

Santschi: Hier gibt es zwei Aspekte: den wirtschaftlichen und den inhaltlichen. Erstens ist ein solcher Besuch mit Kosten verbunden, genauso wie bei Menschen ohne Beeinträchtigung muss man das Geld dafür selber aufbringen können. Inhaltlich ist es unser Job, diese Form von Dienstleistung zu erklären, damit aus dem erhofften, positiven Erlebnis keine negative Nachgeschichte erwächst. Beispielsweise, dass es sich bei der Prostituierten nicht um die Freundin oder zukünftige Frau handelt, sondern um eine Dienstleisterin.

zentralplus: Apropos negative Aspekte: Wie gehen Sie mit den Themen sexuelle Gewalt und Ausbeutung um?

Santschi: Das ist ein sehr vielschichtiges Thema. Wir investieren da viel, weil so viel kaputtgehen kann. Ohne Strafregisterauszug stellen wir kein Personal ein. Zudem gibt es regelmässig Weiterbildungen zu diesem Thema. Auch die gegenseitige Kontrolle ist vorhanden. Wir beobachten auch den Umgang der Bewohnerinnen und Bewohner untereinander sehr genau.

zentralplus: Wo wird es zu nahe? Wo kommt auch das Personal an seine Grenzen?

Santschi: Es gibt Fälle, in welchen jemand ein Thema so intensiv mit der Betreuungsperson besprechen will, dass diese sich abgrenzen muss. Wir reflektieren unser eigenes Verhalten und unsere eigenen Emotionen laufend. Zum Beispiel: Wird mir etwas zu viel, zu nah, stresst mich etwas. Wenn etwas davon zutrifft, ist der Kontakt nicht mehr konstruktiv, dann muss eine andere Betreuungsperson übernehmen. Es gibt auch Fälle, wo Betreuer von Bewohnern angemacht oder angefasst wurden. Auch hier muss man ganz klare Grenzen setzen und konsequent handeln.

zentralplus: Sie überarbeiten im Brändi regelmässig das Konzept zum Thema Sexualität. Was ist dabei ein neueres Thema?

Santschi: Gesellschaftliche Veränderungen machen auch vor unseren Klienten nicht halt. Neu ist daher auch bei uns ein konsumorientierter Umgang mit der Sexualität, dass Pornografie durch die Digitalisierung viel mehr Thema geworden ist. Der Umgang damit muss geschult werden, wir erklären die Zusammenhänge und Gefahren. Wo gebe ich wie viel von mir preis, was kann gefährlich sein, wo mache ich mich strafbar und welche Bilder sind unrealistisch.

«Grundsätzlich soll die Sexualität positiv und nicht defizitorientiert besprochen werden.»

zentralplus: Was ist dabei die Schwierigkeit?

Santschi: Gerade jungen Menschen mit Beeinträchtigung ist oft nicht bewusst, wie gross das weltweite Netz ist. Da kann ein Post eines Bewohners, ein zweideutiges Video oder ein Bild, schnell in die falschen Finger geraten und zu einer öffentlichen Blossstellung führen. Nicht nur bei jüngeren Bewohnern ist das ein Thema. Wichtig ist auch zu verstehen, dass eine einmalige Aufklärung das Thema nicht erledigt. Es braucht viele Wiederholungen, die selben Fragen tauchen immer wieder auf.

zentralplus: Was ist bei einem solchen Sexualitäts-Konzept grundsätzlich wichtig?

Santschi: Es muss handlungsleitend und haltungsbildend sein. Es muss Sicherheit und Klarheit vermitteln. Wir achten aber auch darauf, dass wir die Negativ-Punkte klar vom Rest abgrenzen. Denn grundsätzlich soll die Sexualität positiv und nicht defizitorientiert besprochen werden. So ein Konzept kommt ja schon grundsätzlich nicht besonders lustorientiert daher. (Lacht.)

zentralplus: Was wäre Ihr grundsätzlicher Wunsch zu dieser Thematik?

Santschi: Ich wünsche mir, dass es wichtiger wird, was ein Mensch kann, und nicht, was er nicht kann. Ich wünsche mir, dass der Fokus nicht auf den Unterschied, auf die Behinderung gelegt wird. Das Leben in der Stiftung Brändi unterscheidet sich nicht gross vom «normalen Leben». Die Trends in der Gesellschaft sind auch unsere Trends.

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