Drei Stunden in Luzern unter der Tattoo-Nadel

Selbstversuch: Wie mir ein Vogel unter die Haut ging

Profi mit Erfahrung: Marco Burdino arbeitet mit der Nadel erstaunlich schnell.

(Bild: jav)

In fünf Tagen zum Wunsch-Tattoo: Wie fühlt sich das an, wenn man sich als zuvor gänzlich untätowierter Mensch unter die Nadel legt? Wie wird das aussehen, wenn ein Wanderfalke auf dem Unterarm prangt? Und ist der Schmerz tatsächlich gar nicht so schlimm? Der Selbstversuch unseres Autors im Luzerner Neubad zeigt’s.

Seit einer Stunde dieses Surren. Oder wie nennt man das Geräusch der Tätowiermaschine, das an die elektrische Zahnbürste erinnert? Das unablässige Geräusch des Motors, der die Nadeln in Bewegung setzt.

Es ist Sonntagmittag und ich liege mitten im Neubad-Pool. Es riecht nach Desinfektionsmitteln und Tinte. Besucher schlendern wie bei einer Ausstellung umher, bleiben stehen, blättern in Büchern und blicken neugierig auf das wachsende Kunstwerk auf meinem Unterarm. Am Schluss wird es ein Falke, etwa 13 Zentimeter gross, mit Schattierungen und Farbe. Jetzt sind davon ein paar schwarze Umrisse zu erkennen.

Der Sound aus den Boxen übertönt das Surren im Dutzend einer ganzen Tätowiermannschaft, die sich hier eingefunden hat. Mein Arm fühlt sich etwas lahm an, aber die Stiche der Nadel, die sich eher wie ein Kratzen anfühlen, sind weniger schmerzhaft als befürchtet. Wie eine Messerspitze auf leicht gereizter Haut.

Tätowieren im Akkord

Ich wähne mich in guten Händen. Der Mann, der mir gerade Farbe unter die Haut sticht, heisst Marco Burdino und ist selber von Kopf bis Fuss tätowiert. Weitere knapp zwei Stunden bin ich seinen Stichen ausgesetzt. Ich liege auf dem Rücken und bin recht entspannt – und gleichzeitig gespannt. Hebe immer wieder den Kopf, um einen Blick auf das Bild zu erhaschen, das da auf meinem Arm entsteht und nicht mehr weichen wird.

 

Der Jahrmarkt der schönen Stiche findet bereits zum zweiten Mal im Neubad statt. Dieses Jahr haben 21 Tattoo-Künstler während zwei Tagen ihr temporäres Studio errichtet. Trotz des schönen Wetters ist der Pool bevölkert, kaum eine Liege ist unbesetzt und es wird im Akkord tätowiert. Die Tätowierer zeigen ihre schönsten Werke. Wer den Mut hat, kann sich spontan unter die Nadel legen und eines der mitgebrachten Motive stechen lassen.

Die ewigen Fragen

Spontan unter die Nadel. Das war auch an der Redaktionssitzung vom Mittwoch die Idee. Ich schleppe den Gedanken eines Tattoos schon lange mit mir herum. Doch man kann sich ewig an den Fragen aufhalten: Passt das zu mir? Was soll es denn sein – und vor allem: Zu wem soll ich gehen?

Nach einem Anruf Mitte Woche bei Marco Burdino, dem Organisator des Events, kam die Sache ins Rollen. Der 35-Jährige führt zusammen mit Mo Ducommun das Studio «Il Gatto & La Volpe» im Maihofquartier. Dass er letztlich gleich selber Zeit hat – respektive sich die Zeit nahm –, konnte ich noch nicht ahnen.

Unter dem Heiligenschein der Lampe: Marco Burdino setzt die Nadel auf die Maschine und legt los.

Unter dem Heiligenschein der Lampe: Marco Burdino setzt die Nadel auf die Maschine und legt los.

(Bild: jav)

Er, der normalerweise auf Monate ausgebucht ist, hat sehr entspannt und interessiert auf die Anfrage reagiert. Nach ein paar vagen Ideen und einem kurzen Hin und Her per WhatsApp ging es dann schnell: Am Donnerstag besuchte ich ihn im Studio, das mit seinem grossen hellen Raum so gar nichts vom schummrigen Rocker-Groove hat, der vielen Tattoo-Studios noch immer anhaftet.

Wir blätterten in Büchern, sprachen über die Grösse, die richtige Position. Sein Stil nennt sich «Neo Traditional», Tiere sind seine Vorliebe. Dass er sich kürzlich auf einem italienischen Flohmarkt einen ausgestopften Wanderfalken ergatterte, kann kein Zufall sein.

Dann: Handschlag – und ich wusste: Jetzt gibt’s kein Zurück mehr, ich lege das weitere Schicksal meines Unterarms in seine Hände. Am Freitag zeichnete er dann das Motiv des Falken auf dem iPad. Er schickte mir einen Entwurf und ich ahnte: Ich bin beim richtigen Mann gelandet.

Ein Todesbote auf dem Unterarm

Warum ein Falke? Auf diese Frage muss ich ab jetzt eine schlüssige und Small-Talk-taugliche Antwort bereithalten. Reicht ein «gefällt mir»? Muss ein Tattoo eine Geschichte haben?

Statt einer Antwort möchte ich das Buch «Der Wanderfalke» von J.A. Baker ans Herz legen, dieses «Meisterwerk der nicht-fiktionalen Literatur», wie es Autor Robert Macfarlane im Vorwort der deutschen Übersetzung bezeichnet. Im Buch gibt’s 1000 Gründe, um diesen Vogel zu bewundern, diesen «Todesboten wie bewunderten Gefährte der Einsamkeit». Der britische Autor Baker, von dem man heute nicht viel weiss, war besessen von diesem Vogel.

Nun bin auch ich es. In Form von Tinte unter der Haut. Dass ich mein erstes Tattoo nicht irgendwo versteckt platziere, war schnell klar. Ich will es sehen, will, dass es andere sehen, das darf man ruhig sagen.

Schwarz, Grautöne, Gelb, Orange und Rot: Dies sind die Farben für mein Tattoo.

Schwarz, Grautöne, Gelb, Orange und Rot: Dies sind die Farben für mein Tattoo.

(Bild: jav)

Der Schmerz nimmt zu …

Fünf Tage nach dem ersten Telefon liege ich also auf dem Rücken einer Pritsche. Marco Burdino beugt sich mit schwarzen Gummi-Handschuhen über meinen Unterarm. Zuerst hat er den Arm rasiert und schliesslich die Vorlage aus dem Printer auf die Haut übertragen. Nach den schwarzen Linien geht’s nun an die Flächen.

Mit verschiedenen Grautönen sticht er Verläufe unter die Haut, zeichnet so die Federn, den Kopf, den Schnabel und die Augen des Falken. Das schmerzt schon mehr, wie er immer wieder über die wunde Haut fährt. Wie ein Messer über Sonnenbrand, das Blut nimmt zu.

Ich bin überrascht, wie zügig Marco Burdino mit der Nadel hantiert bei gleichzeitiger Präzision, sechs Jahre als Profitätowierer machen sich bezahlt. Ich habe zuvor gelernt, dass er eine Rotary-Maschine mit Elektromotor verwendet (im Gegensatz zu den Magnetspulmaschinen). Die Elektromaschine ist mit bis zu 18’000 Bewegungen pro Minuten schneller.

Ich merke: Jeder Tätowierer hat seine Kniffs, seine Vorlieben und seine Geheimnisse. Eine Berufslehre gibt’s nicht, man lernt in einem Studio von den Erfahrenen, so wie es der ehemalige Dekorationsgestalter Burdino ebenfalls getan hat, bevor er sein eigenes Studio eröffnete.

Die schwarze Tinte hinterlässt ihre Spuren, auch neben dem eigentlichen Tattoo.

Die schwarze Tinte hinterlässt ihre Spuren, auch neben dem eigentlichen Tattoo.

(Bild: jav)

Burdino erzählt von seinen ersten Stichen, als er vor Konzentration und Anspannung noch schweissgebadet war. Jetzt ist er zwar immer noch hochkonzentriert, kann aber nebenher locker Fragen beantworten, von seinen Ferien in Venedig erzählen oder seine Kollegen begrüssen, die immer wieder vorbeischauen.

Burdino hat sich auch auf Cover ups spezialisiert, er rettet also die Sünden und den handwerklichen Pfusch von anderen. Denn schwarze Schafe gebe es unter den Tätowierern durchaus. Kein Wunder, die Nachfrage ist gross, die Dichte an Tattooshops inzwischen auch.

Am Schluss das Auge

Nach knapp drei Stunden ist das Werk vollendet. Am Schluss setzt Marco Burdino mit Farbe ein paar Akzente im Hintergrund. Das Auge des Falken hat er sich für den Schluss aufgespart – wie die Kirsche, die man auf eine fertige Torte setzt. Fertig.

Et voilà: Der Falke, wie er fortan den Unterarm zieren wird.

Et voilà: Der Falke, wie er fortan den Unterarm zieren wird.

(Bild: jav)

Eine Folie bedeckt zum Schutz das Werk, das auch eine Wunde ist. Der Unterarm fühlt sich kurz danach noch seltsam an. Einerseits gereizt, andererseits ist da jetzt etwas, das nicht mehr weichen wird und zeitlebens zu mir gehört. «Das ist wie ein neuer Körperteil», hat Marco Burdino zuvor gesagt, und genauso fühlt es sich auch an.

Gezweifelt habe ich noch keine Sekunde an meinem Spontanentscheid. Jetzt stehen ein paar Tage salben an und irgendwann wird sich die Kruste der zerstörten Haut lösen – und dann werde ich eins werden mit meinem neuen Körperteil, davon bin ich überzeugt. Und schon überlege ich mir, wie es weitergehen könnte auf meinem linken Arm.

Mehr Bilder vom Event in der Galerie:

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