Nach 10 Jahren Heroin: Luzerner über neues Leben

Die Höhen und Tiefen eines Ex-Junkies

Roland Lang lebt heute ohne die Drogen, die jahrzehntelang sein Leben und seine Beziehung bestimmten.

(Bild: jav)

Über zehn Jahre spritzte er Heroin. Er verkehrte auf dem Platzspitz und ging auf den Strich. Die Wende in seinem Leben kam durch den Tod seines Partners – und durch ein Kaninchen, das wieder Licht ins Dunkle brachte. Heute hat Roland Lang seine Sucht hinter sich und eine neue Aufgabe gefunden.

Roland Lang aus Horw ist ein eleganter Mann mit hohen Wangenknochen, mit gepflegtem, grau meliertem Haar und einem Gespür für Mode.

Gut behütet wuchs Roland als Wunschkind mit seinen Eltern und dem älteren Bruder in Horw an der Kantonsstrasse auf. Er war ein hübscher Junge mit langem blondem Haar, ein Sonnenschein, selbstbewusst und schlagfertig. «Ich kam überall gut an», erinnert sich der 48-Jährige, während wir uns im Café Parterre eine ruhige Ecke suchen. Und im Gespräch mit ihm spürt man diese Selbstsicherheit noch immer.

Doch man merkt ihm auch seine Drogenvergangenheit an. Er braucht manchmal einen Moment, um seine Erinnerungen zu sortieren. Er notiert sich Jahreszahlen, um nicht durcheinanderzukommen. Besonders sein Kurzzeitgedächtnis hat gelitten. Auch Rolands Körper hat zu kämpfen – Darmverschluss, Leberzirrhose, Hepatitis C, Vernarbungen auf Organen, Ableger auf der Lunge.

Zu Hause unerwünscht

Mit 14 Jahren outet sich Roland, gesteht seinen Eltern seine Homosexualität. Ein Schock für die engagierte Familie, die man im Dorf gut kennt, besonders für den Vater. «Meine Mutter ging gut damit um, informierte sich und besuchte Selbsthilfegruppen.» Doch der Vater kann mit der Homosexualität des Sohnes nicht umgehen. Die Erinnerungen sind schmerzhaft, aber im selben Atemzug spürt man die Erleichterung darüber, dass Vater und Sohn mittlerweile eine liebevolle Beziehung zueinander haben.

«Zugedröhnt war ich weniger verletzlich.»

Roland macht also damals die Lehre bei Kleider Frey, modelt ein wenig, verkehrt bald in wohlhabenderen Kreisen. «Mein Umfeld war mindestens zehn Jahre älter als ich. Ich war naiv und liess mich einladen.» Auch das Mode-Medikament X-112, einen Appetitzügler, konsumiert Roland damals.

1989, mit der Rekrutenschule als Spitalsoldat in Moudon, beginnt ein neuer Abschnitt. Dort lernt er Marcel kennen. Schnell werden die beiden ein Paar, ihre Beziehung leben sie offen, akzeptiert von RS-Kollegen und Vorgesetzten. Doch schon im Militärdienst beginnt Roland, beim Kiffen und Trinken gerne noch einen draufzusetzen. Er merkt schnell: «Zugedröhnt war ich weniger verletzlich. Ein Zusammenschiss, ein böser Kommentar machten mir nichts mehr aus.»

Roland unterbricht seinen Redefluss und den Augenkontakt für einen Moment und nimmt einen Schluck von seinem Kaffee. Sortiert seine Gedanken.

Am Letten

Nach der RS gehen Marcel und Roland zusammen nach Zürich. «Wir hatten gute Jobs, Marcel in der Buchhaltung, ich als Leiter eines Kundendienstes.» Es sind die goldenen 80er, die beiden verdienen reichlich. Neben der Arbeit kiffen sie regelmässig, das Haschisch besorgen sie sich beim Platzspitz.

Doch an einem Tag gibt es nichts zu kaufen. «Stattdessen wurde uns Heroin angeboten.» Das erste Briefchen reicht fürs Wochenende. «Dann war Montag, sowieso ein Scheisstag. Also haben wir noch mehr eingekauft.» Innerhalb von zwei Wochen sind die beiden vollkommen abhängig. «Wir haben es probiert, es hat uns gefallen und wir haben nicht mehr aufgehört.» Es ist Herbst 1990.

Die nächsten drei Jahre arbeitet das Paar Vollzeit und schnupft täglich Heroin. «Mittags fuhren wir mit dem Auto zur Tankstelle neben dem Letten. Marcel hat getankt und ich hab auf der Brücke Heroin gekauft. Wir haben es konsumiert und sind wieder zur Arbeit.» Bald jedoch funktioniert das nicht mehr reibungslos. Wenn kein Heroin zu haben ist, heisst es Warten – manchmal bis zu drei Stunden, für das Geld gehen sie auch auf den Strich. Manchmal wird Roland bei Razzien auf dem Letten aufgegriffen. Bei der Arbeit kommen die beiden öfters zu spät, ihre Stellen werden im gegenseitigen Einvernehmen gekündigt.

Im Strudel

Die beiden ziehen nach Steffisburg in Bern, finden wieder tolle Jobs. Roland erneut in einer Führungsposition. Doch schnell wird auch diese Stelle zu viel. 1995 sind beide arbeitslos und leben vom Sozialamt. Zu diesem Zeitpunkt spritzen sie sich das Heroin bereits. Denn zum Spritzen braucht man am wenigsten «Material». Und finanziell läuft es schon eine ganze Weile nicht mehr rund.

Die nächsten zehn Jahre hängen die beiden Männer an der Spritze. Ihr Alltag ist bestimmt durch die Beschaffung und den Konsum von Drogen.

Bis 2004, als sich für Roland alles ändert. «Wir sassen auf dem Mühleplatz in Thun, hatten uns verschiedenste Medikamente gespritzt, Alkohol getrunken, und wir wollten noch hoch zum Schloss, einen Joint rauchen. Auf dem Weg fiel Marcel plötzlich zu Boden. Also habe ihn aufgehoben und getragen.» Er habe in dem Moment gedacht, Marcel habe bloss etwas zu viel erwischt.

Doch Marcel stirbt auf dem Weg in Rolands Armen. Als Passanten die Ambulanz rufen, sitzt Roland auf der Mauer des Schlosses, mit Marcel auf dem Schoss. «Wir sassen da, eine gefühlte Ewigkeit, ich hatte mir in die Hose gemacht, konnte mich nicht bewegen.» Roland erzählt gefasst, er stockt nur kurz und seine angespannten Hände verraten, wie sehr ihn das Erlebte noch immer mitnimmt.

Nach Hause

Als die Sanitäter die Wiederbelebungsversuche aufgeben und Marcel das Tuch über das Gesicht ziehen, dreht Roland durch. Er geht auf den Arzt los. «Ich wollte es nicht wahrhaben. Erst, als ich die Farbe in Marcels Gesicht sah, das Erstarrte, wurde es mir klar. Als ich ihn küsste, war er kalt.» Seither hat Roland nie mehr Heroin gespritzt.

Sein Bruder holt ihn nach Hause, er bleibt für ein paar Monate bei seinen Eltern, kommt ins Methadonprogramm, macht einen Entzug und wohnt danach drei Jahre im Luzerner Männerheim.

«Ich war allein. So einsam, dass ich mit einem Teddybären sprach.»

Dann lernt er Sandro kennen. Sie seien sich zufällig begegnet und schnell habe er ihm vertraut. «Ich war so alleine, ich habe nach jemandem gesucht, dem ich vertrauen und mit dem ich eine Beziehung aufbauen kann.» Die Drogenszene sei so link und verlogen. «Du wirst hintergangen und betrogen. Ich nehme mich da nicht raus, ich war genauso», gibt Roland zu.

Sucht statt Liebe

Eine richtige Beziehung habe er seit seinem ersten Heroinkonsum nicht mehr geführt. Wenn er sich an Marcel erinnert, wird seine Stimme belegt und der sonst so kommunikative Mann sinkt etwas in sich zusammen. «Es ist himmeltraurig. Wir waren so lange zusammen, und als er starb, habe ich drei Nächte auf dem Friedhof in Steffisburg geschlafen, weil ich nicht ohne ihn sein wollte. Aber eigentlich haben wir nie wirklich eine Beziehung gelebt.»

Mit Drogen spiele das Sexuelle keine Rolle mehr. Auch sich in den Arm zu nehmen, sich Nähe zu geben – all das passiert nicht mehr. Für Gefühle, gemeinsame Interessen, für Ausflüge oder ein Hobby gibt es keinen Platz, weil der Tagesablauf bestimmt wird durch das Beschaffen, das Konsumieren. «Alles ist Sucht. Von Beziehung kann man nicht mehr sprechen. Schon gar nicht von einer Liebesbeziehung.»

Obwohl das auch mit Sandro ähnlich war, blieb Roland bis vor vier Jahren mit ihm zusammen. Rückfällig wurde er in dieser Zeit nicht. Nach der Beziehung jedoch liess er sich für zwei Monate in die Psychiatrie einweisen. «Ich wusste nicht mehr, wer und wo ich war.» Doch der Neuanfang wurde zum Kraftakt. «Ich habe getrauert. Ich war allein. So einsam, dass ich mit einem Teddybären sprach, ihn überallhin mitnahm.»

Ein neuer Anfang

Dann kam Leon. Kein neuer Freund, sondern ein Zwergkaninchen, das Roland neuen Lebenssinn gab, und auch Verantwortung. «Ihn habe ich auf nicht sehr seriöse Art bekommen», sagt Roland und schwankt beim Erzählen sichtlich zwischen Lachen und schlechtem Gewissen. Im Tiergeschäft «Qualipet» habe er mit ihm gespielt und als das Geschäft schloss, «da hab ich ihn einfach eingepackt und mit nach Hause genommen».

Der Hasendiebstahl: ein mittlerweile offenes Geheimnis. Schon mehrmals hat die Luzerner Gassenzeitung über Leon berichtet und kein Geringerer als Seelsorger Franz Zemp von der Gassenarbeit Luzern hat das Kaninchen gesegnet.

Mit dem langsamen Reduzieren seiner Methadondosis und der Arbeit für «Abseits – Luzern» (siehe Box) tut Roland weitere Schritte. Seit Ende 2017 ist der 48-Jährige als «Guide» unterwegs und führt Menschen in einer anderen Art der Stadtführung durch die dunklen Seiten der Leuchtenstadt (zum Artikel über Abseits). Man spürt den Stolz, seine Augen leuchten, wenn er erzählt: Es sei eine tolle Arbeit. Und anspruchsvoll. «Es ist eine Ehre für mich, dass so viele Fragen kommen und die Tour immer einiges länger dauert als geplant», sagt er lachend.

Die Führungen

Bei «Abseits Luzern» stehen sieben verschiedene Touren zur Auswahl, bei denen jeweils zwei Guides ihre persönliche Lebensgeschichte erzählen und Einblick in soziale Institutionen gewähren.

Die erfolgreichen Stadtführungen dauern 2,5 Stunden und werden von Montag bis Samstag angeboten.

Keine Garantie

Er hoffe, dass es ihm gelinge, sauber zu bleiben. «Aber Garantie kann ich keine geben.» Auch für seine Familie, die nach 30 Jahren noch immer hinter ihm stehe. «Sie sind nicht blauäugig. Und die Angst kann ich ihnen nur stückchenweise nehmen und niemals wieder ganz, das weiss ich.»

Ihm selber machten die Drogen keine Angst mehr. «Ich habe Angst davor, noch mehr Menschen zu verlieren.» Rolands letzter Freund Sandro ist vor wenigen Wochen gestorben – an einer Überdosis Kokain.

Es ist eine Zeit, in welcher sich Roland zurückhält und den Kontakt zur Gasse weniger sucht. «Die Trauer und die Hilflosigkeit nüchtern zu erleben, ist nicht einfach.» Er vermeide deshalb grosse Lücken im Alltag, verabredet sich dann zum Kaffee mit seiner Mutter und verteilt seine Termine über die Woche hinweg.

Ohne Drogen als Schutzmauer

Jahrzehntelang habe er mit den Drogen eine künstliche Mauer geschaffen, die alles abfederte. «Ich habe keine natürliche Schutzmauer mehr. Die habe ich verlernt.» Es sei für ihn deshalb oft eine Herausforderung, nüchtern an Familienfeste zu gehen, nüchtern vor Menschen zu sprechen oder eben Schicksalsschläge zu verarbeiten. «So vieles im Alltag tut weh. Und jetzt kommt es direkt an mich ran.»

Um damit besser umzugehen, sei «Abseits Luzern» das Beste, was ihm hätte passieren können. «Es gibt mir die Möglichkeit, darüber zu sprechen, was ich weiss. Und ich merke, dass die Leute interessiert, was ich sage – was ich nüchtern sage. Sie verstehen mich. Und sie nehmen mich ernst.» Sagt es, lächelt und nimmt einen grossen Schluck von seinem Kaffee.

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