Besuch in der «Kunsti» mit ihren Favelas

Wie es sich in Emmens «verbotener Stadt» arbeitet

«Ein Privileg, an einem solchen Ort zu sein»: Gabriela Christen, Direktorin der Abteilung Design & Kunst.

(Bild: jwy)

Mitten in der Viscosistadt haben sich Künstlerinnen und Designer eingenistet. Wie sie die anfängliche Skepsis der Arbeiter überwunden hat, wann sie neidisch nach Zürich blickt – und wie sie mit 40 Grad im alten Industriebau klarkommt: Direktorin Gabriela Christen hat die Antworten.

Eineinhalb Jahre nach dem Einzug ist Leben in der Bude, die Kunst- und Designstudenten haben den Bau 745 annektiert. Sie schwirren mit Kaffees umher, haben in den hohen, hellen Räumen ihre Werkstätten und Ateliers installiert und in der grossen Aktionshalle im Parterre findet gerade ein Treffen statt.

Das alte Industriegebäude in der Viscosistadt, wo einst Fäden produziert wurden, ist seit September 2016 das Zuhause der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Zumindest für die Hälfte der Studenten, der Rest zieht 2019 nach, wenn der Neubau daneben fertig ist (zentralplus berichtete). Danach wird die gesamte «Kunsti» mit ihren 800 Studenten und 150 Mitarbeiterinnen in Emmen konzentriert. Einst waren es sechs Standorte über die ganze Stadt verteilt.

Die umgangssprachliche Bezeichnung «Kunsti» behagt der Direktorin dieser Hochschule nicht. Weil diese den Aspekt «Design» auslässt – und damit die wichtige Verbindung zur Wirtschaft, zur Forschung und also zur Praxis. «Wir leisten einen Beitrag für die Entwicklung der Gesellschaft», sagt Gabriela Christen. «Die Leute wissen überhaupt nicht, was wir in diesem Bereich alles machen. Sie haben das Gefühl, wir würden nur in Kunst ausbilden, doch 75 Prozent studieren Design und Film.»

Baulärm von nebenan durchdringt das Gebäude, Gabriela Christen ist angetan von ihrer neuen Heimstätte und der Industrie-Umgebung. Der Ausblick von ihrem Büro im vierten Stock reicht auf mit Stahl beladene Güterzüge, den neuen Stadtpark und riesige Shedhallen-Dächer, die bald weichen.

zentralplus: Sie sind jetzt etwas mehr als ein Jahr hier. Sind Sie zuhause?

Gabriela Christen: Wir sind hier in einer Transformationswelt, und da fühlen sich Designerinnen, Künstler oder Filmerinnen extrem zuhause. Nicht im Sinne einer Gemütlichkeit, sondern weil die Aufgabe und Identifikation darin besteht, dass wir die Welt verändern wollen. Wir denken immer daran, wie alles auch anders sein könnte. Daher sind wir hier in einem idealen Umfeld.

zentralplus: In einem fertig gebauten Stadtteil wäre es Ihnen weniger wohl?

Christen: Es waren die Kunst-Studierenden, die auf der Suche nach Atelierräumen in dieses Areal kamen und den Ort entdeckten. Wir verstehen uns als Pioniere des Städtischen, des Urbanen. Was hier besonders ist: Emmen hat seit 150 Jahren eine Industrie-DNA, und wir schreiben an diesem Ort der Textilindustrie eine Tradition weiter. Wir machen Textildesign und betreiben Forschung im Textilen.

«In Zürich-West lebt heute kaum mehr ein Kreativer. Hier hingegen finden unsere Studierenden Wohn- und Atelierraum.»

zentralplus: Und Sie persönlich hätten Ihr Büro nicht lieber im Stadtzentrum?

Christen: Es ist als Hochschule ein Privileg, an einem solchen Ort zu sein, wir können einen Teil zur Entwicklung von Luzern Nord beitragen. Mir haben solche Industriegebiete immer gefallen, ich wohne selber in Reussbühl. Wenn Sie nach Zürich schauen: Auch Zürich-West, wo die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) steht, war einmal ein Industrie-Areal. Aber dort lebt heute kaum mehr ein Kreativer, das ist schon gentrifiziert. Hier hingegen finden unsere Studierenden Wohn- und Atelierraum.

zentralplus: Was sind die offensichtlichsten Änderungen, seit Sie hier sind?

Christen: Für mich war das Wichtigste das «Nylon 7», das neue Restaurant der IG Arbeit ganz in der Nähe. Damit wurde die alte Kantine der Viscose wiederbelebt. Es ist ein toller Begegnungsort für die unterschiedlichsten Leute. Wir waren auch beteiligt an der Rettung des Tramhüsli und mit dem öffentlichen Park hinter dem Gebäude gibt es einen neuen Zugang zu dieser Landschaft an der kleinen Emme. Man darf nicht vergessen: Für Emmer war das ganze Areal lange die verbotene Stadt, wo man nicht hineinkonnte.

Neben dem Bau 745 entsteht momentan der Neubau, der 2019 bezogen wird.

Neben dem Bau 745 entsteht momentan der Neubau, der 2019 bezogen wird.

(Bild: jwy)

zentralplus: Sprechen wir über den Bau 745. Von einem zweckmässigen, wenig komplizierten Bau war bei der Eröffnung die Rede. Hat sich das bewährt?

Christen: Ja, hundertprozentig, ich höre kaum Negatives. Die grosszügigen, fünf Meter hohen Räume hatten von Anfang an so eine Selbstverständlichkeit, auch hier in den Büros. Wir haben eine hohe Flexibilität und konnten die Räume und Werkstätten den Bedürfnissen und Mentalitäten anpassen.

Auch für Animation und Video, die zuvor an der Baselstrasse waren, ist das hier ein Riesensprung. Mit der neuen Infrastruktur kann die Hochschule nun in der obersten Liga mitspielen. Mit dem «Rex» haben wir zudem ein kleines Kino, das wir grösstenteils selber gebaut haben.

zentralplus: Man traut sich, die Räume wirklich zu nutzen?

Christen: Ja, die Architekten haben immer gesagt: Es ist ein robuster Bau. Man kann hier alles machen.

«Favelas»: In diesen Nischen haben die Studierenden ihre Ateliers eingerichtet.

«Favelas»: In diesen Nischen haben die Studierenden ihre Ateliers eingerichtet.

(Bild: jwy)

24 Stunden geöffnete «Favelas»

Die grossen Hallen sind unterteilt in Ateliernischen, hier auch «Favelas» genannt. Ein Wirrwarr aus Stellwänden, angefangenen Arbeiten, Nähmaschinen und Möbelstücken. Die Atmosphäre im ganzen Haus ist hell, grosszügig und lebhaft. In der Abteilung der Animation hat’s gemütliche Ecken mit Sofas und wohnliche Nischen. Linien am Boden markieren den Putz-Equipen, bis wo sie aufräumen dürfen («Ist das Kunst oder kann das weg?»).

Das ganze Haus ist für die Studierenden rund um die Uhr offen, Künstlerinnen und Designer halten sich nicht an Bürozeiten. Die grosszügigen Fenster wirken wie Gemälde und eröffnen immer wieder neue Blicke auf die industrielle Umgebung. Auf der riesigen Terrasse stehen ein Ping-Pong-Tisch, Kübel mit Pflanzen und ein Grill.

«Eine gigantische Baustelle»: Gabriela Christen auf der Terrasse der Hochschule.

«Eine gigantische Baustelle»: Gabriela Christen auf der Terrasse der Hochschule.

(Bild: jwy)

zentralplus: Gibt es keinen Bereich, wo man mehr hätte investieren müssen?

Christen: Es gibt Bereiche, wo wir in den nächsten Jahren nachrüsten müssen. Aber das haben wir gewusst. Etwa in der Aktionshalle, wo 300 Leute Platz haben, gibt es noch keine Lüftung. Da müssen wir sicher nachrüsten, ebenso in der Bibliothek. In den Ateliers ist es weniger ein Problem, man muss an die Disziplin appellieren und lüften. Aber sonst sind wir sehr zufrieden. Es ist ein Gebäude, das man sich im Verlauf der Zeit aneignen muss.

«Wir ziehen nicht morgen wieder weg.»

zentralplus: Ist es im Sommer nicht heiss?

Christen: Doch, extrem heiss (lacht). In einigen Büros wird es 40 Grad warm, das geht nicht, da überlegen wir uns Lösungen. Aber in der Sentimatt war’s auch sehr heiss, und ich mag Büros, in denen man die Fenster öffnen kann.

140-jährige Kunstgewerbeschule

Gabriela Christen (56) ist seit 2010 Direktorin der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Die Luzernerin arbeitete zuvor 14 Jahre lang als Kulturredaktorin bei Radio SRF in Basel. Christen hat in Basel, Paris, Wien, Zürich und Bern studiert und war an der Zürcher Hochschule der Künste tätig.

Die HSLU D&K ist die älteste Kunstschule der Deutschschweiz und wurde vergangenes Jahr 140 Jahre alt. Sie bietet Bachelorstudiengänge in den Bereichen Kunst und Vermittlung, Visuelle Kommunikation, Film und Produktdesign sowie Masters in Design, Film und Fine Arts. Zudem einen gestalterischen Vorkurs sowie zahlreiche Werkstätten und Forschungsgruppen.

zentralplus: Was wünschen Studenten am meisten?

Christen: Das grösste Thema? Kochen! (lacht) Sie wünschen sich Küchen in jedem Gebäude, aber wir haben natürlich Auflagen der Feuerpolizei. Es wird im Neubau mehr Kochmöglichkeiten geben und wir haben draussen Grillstellen und eine Kochstelle. Kochen ist häufig Teil von Kunstprojekten, es hat viel mit Teambildung zu tun und mit einem Selbstverständnis, wie man Leben und Kunst verbinden möchte.

zentralplus: Es herrscht momentan eine grosse Baustelle, stört das nicht?

Christen: Das Areal ist eine gigantische Baustelle, das wird noch in den nächsten Jahrzehnten so sein. Auf allen Seiten wird gebaut, hier bei den Shedhallen wird ein Platz so gross wie der Mühlenplatz entstehen. Das wird weitergehen, aber wir sind alle extrem tolerant. Jetzt ist es grad etwas mühsam, weil die Durchbrüche vom alten zum neuen Bau gemacht werden.

zentralplus: Sie sind hier in einem zweckmässigen Bau einquartiert. Sind Sie nie neidisch auf den 500-Millionen-Bau der ZHdK auf dem Toni-Areal in Zürich?

Christen: Mit EM2N hatten wir ja die gleichen Architekten wie in Zürich, sie haben den Wettbewerb für den Masterplan des ganzen Geländes hier in der Viscosistadt gewonnen. Ich kenne das Toni-Areal gut, ich habe 10 Jahre an der ZHdK gearbeitet. Die haben natürlich eine Weltklasse-Infrastruktur. Etwa der Jazzclub, der Orgelraum und vor allem das Museum mit der gigantischen Sammlung der Designgeschichte – darauf bin ich total eifersüchtig. Dieses Niveau der Perfektion ist für uns undenkbar.

Aber Sie müssen auch sehen: Wir haben 2013 mit dem Projekt hier angefangen, 2019 ist es abgeschlossen. Das ist unglaublich schnell, das Toni-Areal war ein 15-Jahre-Projekt mit Verschiebungen und Kostenüberschreitungen. Wir sind auch jetzt bei der zweiten Hälfte mit unserem Anbau im Zeit- und Finanzrahmen.

zentralplus: Kann man sagen: Der Bau 745 passt zur «Kunsti» Luzern?

Christen: Bei einer Besichtigung in Zürich sagte unser Investor: «Die Studierenden werden das ganze Leben nicht mehr unter so idealen Bedingungen arbeiten können. Ist das gut?» Bei unserer Ausbildung ist es so, dass die Studierenden fast überall selbstständig arbeiten können. Die Fachinfrastruktur ist so eingerichtet, dass sie selber damit arbeiten können. Es gibt keinen 30’000-Franken-3D-Drucker, wo ein Techniker danebenstehen muss. Der einfache Zugang zu den Werkstätten ist unsere Stärke.

zentralplus: Wie sind eigentlich die Rückmeldungen aus der Umgebung? Von Arbeitern etwa?

Christen: Es hat einen Annäherungsprozess gebraucht, es ist wirklich noch ein Industrieareal, da fahren Lastwagen vor. Die sind sich das nicht gewohnt und hatten etwas Angst vor diesen Künstlern und was da alles passiert. Die Kantine ist ganz wichtig, dort begegnet man sich und das Zusammenleben hat schnell eine Normalität bekommen.

zentralplus: Da prallen sicher Welten aufeinander mit Arbeitern und Studenten.

Christen: Ja, das war ja zuvor ihr Fabrikareal, aber ich habe nie etwas Negatives gehört. Für die Viscosistadt ist so eine Ankermieterin, wie wir es sind, das Beste. Wir ziehen nicht morgen wieder weg (lacht).

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