Schule Finstersee vor möglicher Schliessung

«Als würden meinem Kind die Wurzeln abgeschnitten…»

Alle wissen etwas. Kinder der Schule Finstersee im Unterricht.

(Bild: wia)

Anfang März entscheiden die Menzinger über die Zukunft der Schule Finstersee. Die Dorfbevölkerung wehrt sich vehement gegen die Schliessung. Befürchtet wird, dass junge Familien aus dem Weiler wegziehen. Doch wie ist das eigentlich, wenn vier Schulstufen in einem Klassenzimmer unterrichtet werden?

Montag, 8.20 Uhr, Catherine Scherer pfeift durch die Finger und prompt strömen die Kinder ins Schulhaus. Eine Schulglocke gibt es nicht. Das ist jedoch kein Problem, denn hier, in der Schule Finstersee, ist alles klein und übersichtlich. Fehlt ein Kind, fällt das sofort auf. Und irgendjemand weiss bestimmt auch Bescheid, wo es abgeblieben ist.

Denn Finstersee ist klein. Zu klein für eine Schule, findet der Gemeinderat. Zu teuer sei es, den Unterricht im Weiler aufrechtzuerhalten. Und deshalb wird im März darüber abgestimmt, ob die Schule bleibt oder ob die Erst- bis Viertklässler, die hier gemeinsam in einer Klasse unterrichtet werden, künftig nach Menzingen müssen. Dieses liegt vier Kilometer entfernt.

Der Altersunterschied ist kaum spürbar

Der Unterricht beginnt, wir setzen uns. Scherer begrüsst die elf Kinder vorerst im Vorraum. Natürlich gibt es auch ein richtiges Schulzimmer mit Pulten und Wandtafeln. Doch die Anfangsstunde wird heute hier abgehalten, wo die Kinder im Kreis sitzen. Letzten Samstag nämlich fand der Fasnachtsumzug statt, und dieser will heute rekapituliert werden.

Was war gut, was weniger, was hat Spass gemacht, was gar nicht? «Das Ausschneiden der Masken mit dem Japanmesser war schwierig», sagt eines der jüngeren Mädchen. «Der Umzug war toll. Vor allem, dass ich meine Mutter mit Konfetti bewerfen konnte, war lustig», findet einer der älteren Buben schmunzelnd. Dass der Altersunterschied der Kinder ziemlich gross ist, fällt kaum auf. Wenn ein Schüler redet, dann hören die anderen zu. Egal, ob er nun sieben oder zehn Jahre alt ist.

Wie immer am 22. des Monats dürfen diesen Montag Familienmitglieder beim Unterricht dabei sein. Obschon auf den Bänken hinter dem Schülerkreis einige Eltern, Gottis und Grosseltern sitzen und lauschen, sind die Kinder kaum beeindruckt von deren Anwesenheit. Überhaupt herrscht eine gute Disziplin im Raum. Ohne dass sich die Lehrerin sonderlich anstrengen müsste.

«Mittlerweile lasse ich mich nicht mehr stressen von einer möglichen Auflösung der Schule.»

Catherine Scherer, Klassenlehrerin in Finstersee

Catherine Scherer ist ein alter Hase in Finstersee. Seit 16 Jahren unterrichtet sie hier. Und glaubt man den Stimmen der Eltern, macht sie es gut. Was, wenn die Schule geschlossen wird? «Das Thema ist ja schon immer präsent, seit ich diese Stelle angenommen habe. Mittlerweile lasse ich mich jedoch nicht mehr stressen von einer möglichen Auflösung der Schule», sagt Scherer. Und sie fügt an: «Man hat mir zugesichert, dass ich auch in Menzingen eine Stelle hätte. Ob ich das will, weiss ich jedoch nicht. Die Art, wie ich hier unterrichten kann, gefällt mir sehr.»

Catherine Scherer ist seit 16 Jahren Lehrerin in Finstersee. Und sie mag ihren Job.

Catherine Scherer ist seit 16 Jahren Lehrerin in Finstersee. Und sie mag ihren Job.

(Bild: wia)

Der Altersunterschied als Win-win-Situation

Scherer unterrichtet Kinder, die teilweise vier Jahre Altersunterschied haben. Das dürfte herausfordernd sein. «Man muss umdenken. In einer Regelklasse ist die Vielfalt genau gleich gross. Zwar arbeitet man dort vermeintlich am gleichen Thema, doch hat jedes Kind sein eigenes Tempo, seine eigenen Schwächen und Stärken.» Diese zu erfassen, sei für die Klassenlehrerin einfacher, wenn sie nur drei oder vier Kinder derselben Stufe unterrichte.

Zudem können laut Scherer auch die Schüler vom vorhandenen Altersunterschied profitieren. «Es kommt vor, dass ich einen Drittklässler bitte, einem Jüngeren etwas zu erklären. Das geht nur, wenn der Ältere das Thema wirklich verstanden hat. So entsteht eine Win-win-Situation.»

Um 9 Uhr – die Fasnachtsauswertung ist erledigt – übernehmen die beiden Praktikantinnen das Unterrichten und führen ein neues Thema ein. Es geht um Gewichte. Wie schwer ist ein Beutel Mehl? Ein Schwamm? Eine Tintenpatrone? Wenig später rotten sich die Schüler in Dreiergruppen zusammen, um selber eine Waage zu bauen, mit denen sie verschiedene Gegenstände wägen sollen. Bewusst achten sie darauf, dass jüngere Schüler mit älteren zusammenspannen. Und das funktioniert reibungslos.

Die erste Lektion des Tages findet im Vorraum statt. Zuerst wird der vergangene Fasnachtsunterricht rekapituliert. Später lernen die Kinder, Gewichte richtig zu benennen.

Die erste Lektion des Tages findet im Vorraum statt. Zuerst wird der vergangene Fasnachtsunterricht rekapituliert. Später lernen die Kinder, Gewichte richtig zu benennen.

(Bild: wia)

Das Lehrerzimmer ist auch für Eltern offen

Um viertel vor zehn ist Pause, die Kinder eilen hinaus auf den verregneten Pausenplatz, während sich Eltern, Praktikantinnen und die Lehrerin im Lehrerzimmer zum Kaffee treffen. Spätestens jetzt wird klar, wie eng man im Dorf miteinander arbeitet. Alle Anwesenden kennen sich gut, sind engagiert und verfolgen letztlich dasselbe Anliegen: Die Schule muss offen bleiben.

Corinne Kramer, eine der anwesenden Mütter, sagt: «Geht die Schule zu, bedeutet das für die Kinder vor allem eins: viel mehr Stress.» Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil es keinen Schulbus gebe und der Weg nach Menzingen, gerade für Erstklässler, relativ weit sei. Zudem soll der Postautobetrieb Ende des Jahres eingestellt werden. Zwar würden die Kindergartenkinder bereits heute nach Menzingen fahren für den Unterricht, doch dieser finde normalerweise nur halbtags statt, was die Sache deutlich einfacher mache.

Zur Transportproblematik erklärt Peter Dittli, Menzinger Gemeindepräsident: «Die Gemeinde Menzingen hat seit vielen Jahren einen Schulbus, der die Kinder aus allen Ortsteilen in die Schule Menzingen bringt. Dieses Angebot wird auch weiterhin bestehen bleiben.»

Abgesehen von den logistischen Fragen gibt Kramer zu bedenken: «Was nach der Schliessung der Schule mit dem Dorfleben passiert, lässt sich heute schwer sagen. Es ist möglich, dass wir heute an einem Rädchen drehen, die Auswirkungen aber erst in fünf Jahren zu spüren bekommen.» So habe Kramer bereits einige Eltern über einen allfälligen Wegzug reden hören.

Das Schulhaus Finstersee ist klein und nicht mehr ganz so modern. Das störe jedoch überhaupt nicht, findet die Klassenlehrerin.

Das Schulhaus Finstersee ist klein und nicht mehr ganz so modern. Das störe jedoch überhaupt nicht, findet die Klassenlehrerin.

(Bild: wia)

1,7 Millionen Franken Sanierungsaufwand. Aber wofür?

Der Grund, warum die Gemeinde damit liebäugelt, die Schule Finstersee zu schliessen, ist ein einfacher. Die Aufrechterhaltung lohne sich finanziell nicht. Der Gemeinderat schätzt die Sanierungskosten auf 1,7 Millionen Franken. Und doch scheinen die Finsterseer gar nicht so recht zu wissen, wofür dieses Geld denn konkret eingesetzt werden solle.

«Hinter diesen hohen Betrag setze ich ein Fragezeichen», gibt die Klassenlehrerin zu bedenken. «Klar müsste man die Fassade des Schulhauses und die Elektroinstallationen erneuern. Auch die Fenster sind mittlerweile in die Jahre gekommen. Ansonsten genügt das Haus meines Erachtens den Ansprüchen. Nicht zuletzt birgt dieses relativ alte Haus auch Chancen. So können wir die Räume viel kreativer gestalten als bei einem Neubau.»

«Wir wehren uns dagegen, zum Schlafdorf zu werden, und wollen nichts unversucht lassen.»

Corinne Kramer, Mutter aus Finstersee

Brigitte Blättler, ebenfalls Mutter eines der Schulkinder, mutmasst, dass der vom Gemeinderat genannte Betrag bewusst so hoch angesetzt worden sei, um die Bevölkerung abzuschrecken. Was eine Schulschliessung für Blättlers Kind bedeuten würde, fasst sie in einem Satz zusammen: «Das wäre, als würden meinem Kind die Wurzeln abgehauen.»

Die 1,7 Millionen Franken seien laut dem Menzinger Gemeindepräsidenten Peter Dittli von einem externen Planungsbüro im Jahr 2014 beziffert worden. «Basis für die Grobschätzung der Investitionskosten sind die Bruttogeschossfläche und die Anzahl der Geschosse, in denen allfällige Umbaumassnahmen vorzusehen wären», so Dittli auf Anfrage. Dazu kämen die Lehrergehälter sowie die Hauswartung, für welche rund 160’000 Franken aufgewendet werden müssen. «Diese wiederkehrenden Kosten entfallen bei einem Verzicht auf den Schulstandort Finstersee», erklärt der Gemeindepräsident.

Corinne Kramer sagt: «Letztlich ist es ein Abwägen zwischen finanziellem Aufwand und Werten, die weniger einfach messbar sind. Doch wir wehren uns dagegen, zum Schlafdorf zu werden, und wollen nichts unversucht lassen.»

Es ist fünf nach zehn. Die Pause ist vorbei. Scherer öffnet das Fenster des Lehrerzimmers im ersten Stock und pfeift laut durch die Finger.

Welcher der ausgebreiteten Gegenstände ist wohl am schwersten? Eine Schülerin überlegt.

Welcher der ausgebreiteten Gegenstände ist wohl am schwersten? Eine Schülerin überlegt.

(Bild: wia)

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