Oh du sinnlicher Familienstreit!

«Der Weihnachtsknatsch kommt nicht von ungefähr»

Wenn die Weihnachtsvorbereitung stressig ist, kann's brenzlig werden (Christbaummarkt am Schwanenplatz Luzern 1979).

(Bild: Emanuel Ammon/AURA/Montage zentralplus)

Kennen Sie das? Sie sitzen im Schosse der Familie – vollgegessen, angetrunken und kerzenumflackert. Eigentlich total gemütlich, aber eben auch der perfekte Nährboden für den grossen Familienstreit. Das muss nicht sein, sagt der Luzerner Familientherapeut Joseph Bendel.

Jahrzehntelang beriet er Paare und Familien. Der 71-jährige Psychotherapeut Joseph Bendel weiss, wieso Menschen streiten – und wie man es verhindern kann. Wir haben uns in seine Praxis gesetzt und über die Gefahrenzone Adventszeit gesprochen.

zentralplus: Joseph Bendel, wieso streiten Familien über Weihnachten? Einfach, weil man zusammenkommt und viel Zeit hat?

Joseph Bendel: Wenn die Familie unter dem Jahr die Beziehung nicht pflegt und Spannungen nicht gelöst sind, dann steigert es sich schlichtweg. Und wenn es dann noch dunkel und kalt ist, sitzen alle drin am Ofen oder vor dem Christbaum und haben grosse Erwartungen.

zentralplus: Kommt es wirklich häufiger zu Konflikten an Weihnachten?

Bendel: Ich bin nicht so sicher, ob’s wirklich viel mehr Knatsch gibt als sonst. Aus Therapien mit Familien und Paaren weiss ich, dass man auch sonst viel streitet. Und die ganzen Scheidungsgeschichten laufen nicht an Weihnachten, dann sind Gerichtsferien (lacht).

zentralplus: Wieso haben wir denn ein übersteigertes Bild von Weihnachten?

Bendel: Ich habe hier ein paar Weihnachtsreklamen … (zeigt auf den Tisch mit Heften von Weihnachtswelten). Man soll mit all dem Zeugs glücklich werden oder andere beschenken. Es wird uns weisgemacht, dass es nie genug sei. Ich weiss gar nicht, ob man sich der suggerierten und übersteigerten Erwartungen bewusst ist.

«Es geht nur noch um den Stutz.»

zentralplus: Sie haben selbst eine grosse Familie mit einigen Kindern und Enkelkindern. Sind die Feiertage für Sie ein Stressfaktor?

Joseph Bendel: Absolut nicht.

zentralplus: Wie machen Sie das?

Bendel: Ich muss dafür etwas ausholen, sonst sind wir bei der Symptombekämpfung und dummen Ratschlägen, die nicht funktionieren.

zentralplus: Nur zu!

Bendel: Es gibt drei Ebenen, die uns prägen: Erstens die klimatische und gesellschaftliche Ebene. Sie beeinflusst uns, wir merken es nur nicht mehr. Zweitens die familiäre Ebene, denn der Weihnachtsknatsch kommt nicht von ungefähr, der wird übers Jahr programmiert …

zentralplus: … und entlädt sich an Weihnachten?

Bendel: Genau, so ist es. Und als dritte käme noch die persönliche Ebene. Ich vermute, dass die meisten sich gar nicht überlegen, wo sie stehen und wie es ihnen geht in dieser Zeit, wenn es dunkel ist. Womit wir wieder bei der ersten Ebene wären. Wenn man diese drei Ebenen nicht als Grundraster nimmt, kommt man nicht zu schlauen Antworten, wieso es zu Konflikten kommt.

Zur Person

Über 37 Jahre lang führte Joseph Bendel eine Praxis für Paar- und Familientherapie im Tribschenquartier (zentralplus berichtete). Hunderte von Paaren haben dem 71-jährigen Psychotherapeuten schon ihre Probleme anvertrauten. Zudem war Bendel Gewaltberater und führte das «Männerbüro» in Luzern. 2016 veröffentlichte er mit der Zuger Sex-Expertin Caroline Fux den Ratgeber «Das Paar-Date – miteinander über alles reden». Der vierfache Vater und sechsfache Grossvater ist seit 45 Jahren verheiratet.

zentralplus: Was hat das Klima mit Familienstreit zu tun?

Bendel: Die Adventszeit ist ja die Wende vom Dunkeln zum Hellen, es kippt dann rein meteorologisch gesehen. Das hat man schon in alten Kulturen gewusst, mit den Rauhnächten und noch älteren Bräuchen. Das ist spannend, denn Wendepunkte sind keine Höhepunkte, auch keine Tiefpunkte, aber sie bereiten einen Richtungswechsel vor. Das ist der springende Punkt: Da kippt etwas.

zentralplus: Und dem sind wir uns zu wenig bewusst?

Bendel: Ja, früher hat man Advent gefeiert. Während Jahrhunderten war es die Vorbereitung auf die Geburt des Jesuskindes. Advent kommt vom lateinischen «advenire» – zu-, hingehen, sich näherkommen. Davon merken wir absolut nichts mehr. Es gibt einfach Adventsfenster, Reklamen, Weihnachtsmärkte und weiss der Teufel was alles. Aber es ist kein Bewusstsein mehr da, dass irgendetwas passiert und was das mit uns macht. Man knipst einfach das Licht an und es ist hell.

zentralplus: Licht ist doch schön!

Bendel: Aber die Alten hatten den Umgang mit Dunkelheit und Licht noch gepflegt. Heute wird die ganze Dynamik, die von der Natur aus nahegelegt wäre, überblendet. Das ist im ganzen Getriebe der Wirtschaftlichkeit untergegangen. Mir kommt der Tanz ums goldene Kalb in den Sinn: Es geht nur noch um den Stutz.

«Weihnachten kann man mit Erwartungen völlig kaputt machen»: Paartherapeut Joseph Bendel.

«Weihnachten kann man mit Erwartungen völlig kaputt machen»: Paartherapeut Joseph Bendel.

(Bild: jwy)

zentralplus: Das Ökonomische hat also das verdrängt, worum es eigentlich ginge?

Bendel: Ja. Es geht um das Zusammensein. Und das findet in einer Phase statt, in der es einen Wendepunkt gibt. Der beeinflusst uns rein klimatisch und meteorologisch gesehen, da können wir machen, was wir wollen.

zentralplus: Das tönt nach einem Dilemma.

Bendel: Das Familiäre kommt noch dazu. Es dreht sich extrem viel um Erwartungen, die man suggeriert. Geht es mir um möglichst viele eingepackte Geschenke? Oder was will ich wirklich an diesem Tag? Das überlegt man sich gar nicht.

zentralplus: Wie können wir dem wieder gerecht werden?

Bendel: Wenn Sie mich nach einer Lösung fragen, ist eine Variante das «Wichteln». Das schafft einen Rahmen und es ist klar definiert, dass eine Person einer anderen, die es nicht weiss, etwas Kleines schenkt. Aber dieser Rahmen muss ausgehandelt werden, was in vielen Fällen nicht geschieht – und es kommt zum Crash.

«Weihnachten kann man mit Erwartungen völlig kaputt machen.»

zentralplus: Zurück zu Ihrer Familie: Wie feiern Sie Weihnachten?

Bendel: Am 24. muss uns niemand kommen, dann sind wir bei den Nachbarn (lacht). Für den 25. oder 26. sagen wir unseren vier erwachsenen Kindern: Klärt unter euch ab, was ihr wollt. Sie regelten das dieses Jahr per WhatsApp innert einer halben Stunde und wir nehmen das Resultat in Empfang. So ist der Rahmen abgesteckt.

zentralplus: Eine sehr pragmatische Lösung. Aber ist es schlecht, wenn man sich an eine fixe Tradition hält und die nicht infrage stellt?

Bendel: Nur, weil man es immer so gemacht hat, muss es immer so weitergehen? Es ist doch nicht in Stein gemeisselt, das sind Meinungen, Vorstellungen und Erwartungen – mehr nicht. Und die sind zu diskutieren! Darum denke ich, dass es auf die pragmatische Ebene gehen muss, um einen Rahmen abzustecken. Jedes Individuum ist ein eigenes System und funktioniert nur bedingt nach gemeinsamen Regeln. Deshalb ist der Respekt vor jedem Menschen so grundlegend. Denn wer möchte urteilen, was richtig und falsch ist?

zentralplus: Vielleicht schätzen es die Eltern, und die Kinder kommen aus familiärer Tradition zusammen. Ist das schlecht?

Bendel: Wissen Sie, auch Traditionen ändern – sobald man in einer festen Beziehung lebt und erst recht, wenn Kinder da sind. Bei jedem neuen Lebensabschnitt überlegt man sich die herkömmlichen Traditionen. Einfach so weitermachen, wie wenn nichts wäre, funktioniert doch heute nicht mehr, denken Sie nur an die leeren Kirchen.

zentralplus: Andere sagen, die Kinder wollen halt feiern, darum machen wir’s so.

Bendel: (Seufzt) Ja, aber dann wird die Verantwortung abgeschoben, der eigene Standpunkt verschwiegen. Das ist ein fauler Trick.

zentralplus: Also muss man Weihnachten immer wieder neu aushandeln?

Bendel: Ich denke, das wäre eine gute Lösung. Aber es müssen sich alle beteiligen und ehrlich sein, sonst haut es nicht hin. Wir haben zum Beispiel gelernt, dass die einen hier sind, die anderen auf Weltreise oder wo auch immer. Ich zeichne Ihnen schnell etwas … (steht auf und geht zur Wandtafel)

Er zeichnet eine Skizze, die zeigt: Ohne eigenen Standpunkt kann man nicht verhandeln:

«Rahmen schaffen!», ist für Joseph Bendel das A und O.

«Rahmen schaffen!», ist für Joseph Bendel das A und O.

(Bild: jwy)

zentralplus: Sie haben eine ziemlich rationale Herangehensweise an die sinnlichen Festtage.

Bendel: Es ist wie in der Paarbeziehung: Es geht darum, gewisse Sachen nicht zu überhöhen. Auch Weihnachten kann man mit Erwartungen völlig kaputt machen, das finde ich schade. Mir ist lieber, man ist sich bewusst, was wirklich ist und findet Antworten auf Fragen wie: Wo stehe ich? Was ist mir wichtig? Und wie halte ich die Ruhe aus? Wie steht es mit meinen familiären Beziehungen, wie geht es mir mit Weihnachten, den christlichen Traditionen?

«Der Mensch braucht Festtage, aber man soll sie vernünftig begehen.»

zentralplus: Also lieber pragmatisch als mit falschen Erwartungen?

Bendel: Damit schaffen Sie einen Rahmen, das ist für mich das A und O. Aber viele sagen, sie wollen im Privaten nicht auch noch organisiert sein. Das heisst auf Deutsch: Sie machen gar nichts. Aber wenn Sie den Rahmen nicht haben, fehlen die Spielregeln und dann fällt es auseinander. Es rennen ja alle nur diesem Plunder hinterher …

zentralplus: Wär’s am besten, wir hätten gar keine Weihnachten?

Bendel: Ich denke, der Mensch braucht Festtage, aber man soll sie vernünftig begehen. Wir können diesen Wendepunkt nicht ändern, also muss man sich damit auseinandersetzen. Das ist schon sinnvoll, weil es etwas mit uns macht. Wieso werden sonst so viele depressiv, wenn es dunkel wird? Oder wieso macht man einen Leichenschmaus nach der Beerdigung? Es hat damit zu tun, miteinander etwas zu ertragen. Ich las kürzlich einen schönen Spruch aus Nigeria: «Der Mensch ist die Medizin des Menschen.»

zentralplus: Angenommen, man hat die Bedürfnisse abgesteckt und kommt in der Familie zusammen. Wo lauern sonstige Gefahren?

Bendel: Wenn ungelöste Konflikte schwelen oder alte Rechnungen offen sind und man alles nochmals auftischt. Das sind Sachen, die dann im falschen Moment kommen. Da muss man Disziplin üben und nicht alle verrückt machen. Diese Konflikte entstehen nicht an Weihnachten, aber werden leider oft dann ausgetragen.

zentralplus: Und wenn dann noch Alkohol dazu kommt …

Bendel: Uff, dann ist sowieso «Gute Nacht». Ja, leider. Aber auch da kommt es auf die Dosis an – wie Paracelsus schon sagte: So geniesse ich gerne mit meinen Lieben ein Glas Wein.

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