Befürchtungen haben sich bisher nicht erfüllt

Häusliche Gewalt: Trotz Ohrfeige durch Sparmassnahmen nicht mehr Fälle

Wenn aus Banalitäten Handgreiflichkeiten entstehen. (Symbolbild: ida)

Die aktuelle Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» setzt sich zum Ziel, die Bevölkerung für das Thema der häuslichen Gewalt zu sensibilisieren. In Luzern ist die Situation besonders brisant, weil der Sparhammer des Kantons auch diesen Bereich traf. Waren die Befürchtungen der Beratungsstellen überzogen?

Häusliche Gewalt stellt nach wie vor oft ein Tabuthema in der Gesellschaft dar. Experten warnen, dass jede fünfte Frau von häuslicher Gewalt betroffen ist. Aus einer Banalität wie einem nicht vor die Tür gestellten Abfallsack oder einer vergessen gegangenen Rechnung kann sich ein Streit entfachen. Der Teufelskreis in den eigenen vier Wänden nimmt seinen Lauf: Beleidigungen fallen, Drohungen werden gemacht, die erste Faust fliegt.

Der Kanton Luzern sparte 2017 40 Stellenprozente im Bereich der häuslichen Gewalt ein. So kam es zu Kürzungen der Präventions- und der Öffentlichkeitsarbeit und zu einem Wegfall des «Runden Tisches häusliche Gewalt». Aber auch die Mitarbeit in verschiedenen Arbeitsgruppen wurde gestrichen genauso wie mehrere Informations- und Weiterbildungsveranstaltungen. Vor einem Jahr hat sich herauskristallisiert: Fach- und Beratungsstellen im Bereich häuslicher Gewalt warnten, dass sich die Situation wegen des Sparhammers zuspitzen wird (zentralplus berichtete). Wie hat sich die Lage ein Jahr später tatsächlich entwickelt? 

Leichte Abnahme von Strafanzeigen im Bereich häuslicher Gewalt 


 

 

Dazu wäre interessant zu sehen, wie sich die Zahl der Straftaten im Bereich häuslicher Gewalt entwickelt hat. Doch zu den Anzeigen im Jahr 2017 will die Luzerner Polizei keine Auskunft geben und verweist auf die polizeiliche Kriminalstatistik, die im März 2018 präsentiert wird.

Fach- und Beratungsstelle nehmen leichte Zunahme wahr

Auch die betroffenen Stellen haben Mühe, genaue Zahlen zu nennen. Gemäss Thomas Jost, Leiter der Fach- und Beratungsstelle Agredis, seien die Fallzahlen durch starke Schwankungen geprägt. Dennoch sei insgesamt betrachtet eine leichte Zunahme spürbar von Männern, die sich freiwillig zu einer Beratung anmelden, aber auch von Männern, die durch das nahe Umfeld oder der Polizei gemeldet werden. 

Eine tragende Rolle schreibt Jost Kampagnen zu wie beispielsweise der aktuell laufenden «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» (siehe Box) oder der Aktion «Lueg häre!», die auf wahren Erlebnisberichten von Agredis beruhen (zentralplus berichtete). In der Gesellschaft sei ein immer stärker werdender Druck von aussen wahrnehmbar. Es ist das unmittelbare Umfeld, das gewalttätige Männer dazu motiviert, ihr eigenes Verhalten zu überdenken und verändern zu wollen.

Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen»

Vom 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, bis zum 10. Dezember findet schweizweit die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» statt, die 2008 erstmals in der Schweiz lanciert wurde. Im Blickfeld der diesjährigen Kampagne steht Gewalt an Mädchen und jungen Frauen – nach wie vor ein grosses Tabuthema. Die Kampagne will die Bevölkerung sensibilisieren und Wege aus häuslicher Gewalt aufzeigen, um Betroffenen und Angehörigen Mut zuzusprechen.

Im Besonderen möchte man Beratungsstellen bekannt machen und die Aufmerksamkeit auf weniger sichtbare Formen der Diskriminierung an Frauen lenken. Am 9. Dezember findet in Kooperation mit dem Luzerner Theater der Aktionstag gegen häusliche Gewalt statt. 

Das Frauenhaus Luzern registriert ebenfalls eine leichte Zunahme der Fälle. Bis Anfang Dezember 2017 haben insgesamt 85 Frauen mit 100 Kindern Zuflucht gefunden. 2016 waren es 78 Frauen mit 84 Kindern. In früheren Jahren waren diese Zahlen ähnlich stabil. Das bedeutet, dass das Frauenhaus häufig ausgelastet ist. Gründe für eine Erklärung dieser Entwicklung kann die Geschäftsleiterin des Frauenhauses, die namentlich nicht genannt werden möchte, jedoch nicht liefern. Sie zieht einen Vergleich zur Notfallstelle eines Spitals, bei dem Unvorhergesehenes auf der Tagesordnung steht.

Hohe Dunkelziffer

Die offiziellen Zahlen zeigen aber so oder so nur das halbe Bild. Nach wie vor besteht im Bereich der häuslichen Gewalt eine sehr hohe Dunkelziffer. So gehen Experten davon aus, dass lediglich 22 Prozent aller Fälle häuslicher Gewalt tatsächlich an zuständige Behörden und Stellen gemeldet werden. Während schwere Fälle öfters an die Öffentlichkeit gelangen, bleiben leichte bis mittelschwere Fälle häuslicher Gewalt, die von Beleidigungen, Bedrohungen bis hin zu leichten handgreiflichen Eingriffen übergehen können, oftmals im Dunkeln. 

«Gewalt beginnt schon damit, dass ich die Verantwortung dem Gegenüber abgebe.»

Thomas Jost, Geschäftsleiter Fach- und Beratungsstelle Agredis

Viele Täter bleiben unsichtbar, die Opfer leiden heimlich hinter verschlossenen Türen. Deshalb sei es besonders wichtig, die Bevölkerung durch Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit zu sensibilisieren, argumentiert Jost. Auch dafür, dass Gewalt nicht erst bei Handgreiflichkeiten beginnt, sondern bereits dann, wenn man die eigene Verantwortung von sich schiebt und durch Schuldzuweisungen den anderen für das eigene Verhalten zur Rechenschaft zieht.

Schwerwiegende Folgen erwartet – auf lange Sicht

Auf den ersten Blick lassen die Eindrücke der Fach- und Beratungsstellen indessen darauf schliessen, dass der hohe Anstieg im Bereich der häuslichen Gewalt trotz des Sparhammers ausblieb. Also alles nur halb so schlimm?

«Die Gesellschaft wird langfristige Konsequenzen tragen müssen.»

Geschäftsleiterin des Frauenhauses Luzern

Das streiten die Fachstellen vehement ab. «Wenn bestehende Organisationen und Einrichtungen zum Beispiel im Bereich der Prävention häuslicher Gewalt derart zum Sparen genötigt werden, wird die Gesellschaft langfristige Konsequenzen tragen müssen, die sich in den nächsten Jahren weiter negativ entwickeln werden», sagt die Geschäftsleiterin des Frauenhauses. Die Folgen schätzt sie als sehr schwerwiegend ein, doch sie entstehen und verfestigen sich ihrer Ansicht nach nur langsam.

Könne die Polizei nicht zeitnah oder zum Teil gar nicht mehr ausrücken, habe dies konkrete Konsequenzen für die Opfer. Die fehlende Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit seitens des Kantons bedeutet zudem weniger Aufklärung in Schulen. Die Bevölkerung sei künftig nicht mehr genug aufgeklärt, könne sich allenfalls nicht wehren oder wisse nicht, wo man Hilfe finden kann, so ihre Meinung.

Fenster zur Veränderung ist nur kurz offen

Auch Jost bedauert den Entscheid der Regierung, den Runden Tisch der häuslichen Gewalt abzuschaffen. Durch den fehlenden Austausch zwischen Behörde und einzelnen Institutionen könnten zukünftig noch mehr Täter ungestraft davonkommen, so die Befürchtung. Und nicht nur das. Jost argumentiert weiter, dass aufgrund der abnehmenden Sensibilisierung der Gesellschaft mehr Männer gewaltbereit handeln könnten. Jost rechnet damit, dass die Sparmassnahmen des Kantons klar zu einer Verschlimmerung der Situation führen. Eine Sorge, die auch in der Stadt Luzern vorhanden ist (zentralplus berichtete).

Bei der Beratungsstelle Agredis müssen Männer, die sich freiwillig bei der Beratungsstelle melden und nicht durch eine Behörde verwiesen werden, neu 150 statt 100 Franken für eine Beratung zahlen. Die höheren Selbstkosten, die durch die Sparmassnahmen des Kantons entstanden sind, können Männer im ersten Schritt zwar abschrecken. Dennoch werde jedem Mann, der sein Verhalten ändern möchte, eine Beratung ermöglicht, sagt Jost. Sind Männer in finanziellen Nöten, können sie Unterstützung auf dem Sozialamt einfordern.

Schnelles Handeln sei auch wichtig, da das Fenster zur Veränderung des Verhaltens eines gewaltbereiten Mannes, der selbst zum Telefon greift und eine Beratungsstelle kontaktiert, nur sehr kurz offen sei.

Arbeiten haben laut Kanton «guten Stand erreicht»

Erwin Rast, Medienverantwortlicher des kantonalen Justiz- und Sicherheitsdepartements, und Renate Gisler, Fachperson Gewaltprävention, wehren sich gegen die Vorwürfe der Fach- und Beratungsstellen. Zwar räumen sie ein, dass durch die Aufhebung des «Runden Tisches häusliche Gewalt» jetzt nur noch eine reduzierte Koordination stattfindet. Eine kleinere Arbeitsgruppe, die sich dieses Jahr aus 8 statt 18 Stellen zusammensetzt, trifft sich ein- bis zweimal jährlich.

Die Arbeit im Bereich häuslicher Gewalt hat nach ihrer Ansicht aber einen guten Stand erreicht. Nach wie vor sei der Kanton aktiv im Bereich der Präventionsarbeit. So habe man soeben wieder Informationsmaterialien erstellt. Neustes Beispiel dafür sind Flyer, die an Ärzte und medizinisches Personal verteilt wurden, die bei Straftaten häuslicher Gewalt häufig involviert werden. Die Konsequenzen der Sparmassnahmen im Bereich häuslicher Gewalt können jedoch aus Sicht des Kantons heute noch nicht abgewogen werden.

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