Werden Mitarbeiter ausgenützt? Betriebe verneinen

Soziale Cafés in Luzern: Pro Infirmis sieht falsche Anreize

Im Innern des «Café Sowieso»: Es soll eine Begegnungsplattform zwischen Menschen mit Handicap und Gästen sein.

(Bild: pze)

Kaffee trinken und dabei Gutes tun – das kommt bei den Luzernern an. Restaurants, die Menschen mit Handicap einstellen, haben in der Leuchtenstadt zugenommen. Ziel ist unter anderem, Angestellte in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Doch die Betriebe haben kaum Anreize, gute Mitarbeiter in ein normales Arbeitsverhältnis abzugeben.

In Luzern gibt es mehrere Gastronomiebetriebe, die ein soziales Konzept verfolgen. Sie schaffen geschützte Arbeitsplätze und stellen Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen ein. Unter sozialpädagogischer und arbeitsagogischer Leitung lernen und arbeiten beispielsweise Menschen mit Lernbehinderungen, leichten geistigen Behinderungen, Sucht- oder psychischen Krankheiten in diesen Gastronomiebetrieben in Service oder in der Küche. In diesen Lokalen wird so eine Begegnungsplattform zwischen Kunden und Menschen mit Handicap geschaffen.

Die sozialen Gastrobetriebe stossen bei den Luzernern auf eine positive Resonanz. Das Restaurant «Quai 4» am Alpenquai beispielsweise sagt, am Mittag sei man ausgelastet, die Abendveranstaltungen nehmen ständig zu. Das «Café Sowieso» im Wesemlinrain wurde bereits vor 16 Jahren gegründet – vor einem Jahr unterzog man das Lokal einem Grossumbau. Auch dort heisst es: Der Betrieb läuft.

Pro Infirmis: Gastrobetriebe sind gut, aber…

Die Menschen mit Beeinträchtigungen arbeiten in diesen Gastronomiebereichen in einem geschützten Umfeld. Das heisst: Gegenüber dem ersten Arbeitsmarkt sind die Anforderungen tiefer, dafür ist der Lohn symbolisch, sprich: drei bis acht Franken die Stunde. Die Mitarbeiter leben hauptsächlich von einer Rente der Invalidenversicherung und von Ergänzungsleistungen.

Die Fachstellen begrüssen grundsätzlich vielfältigere Angebote an geschützten Arbeitsplätzen im Gastronomie-Bereich, denn es gebe den Menschen mit Behinderung mehr Auswahl bei der Suche nach einer geeigneten Stelle. Martina Bosshart, Geschäftsleiterin Pro Infirmis Luzern, Ob- und Nidwalden, sagt: «Die Angebotspalette ist für Menschen mit Behinderung viel kleiner als für andere.»

«Die Betroffenen dürfen nicht ausgegrenzt werden, egal, wo sie arbeiten.»

Martina Bossart, Pro Infirmis

Aber trotzdem erachten die Fachstellen Pro Infirmis und die Partnerstiftung «Profil Arbeit und Handicap» geschützte Arbeitsplätze im Gastrobereich nicht als einzige Lösung. Tobias Hasler, Leiter Regionalstelle «Profil Arbeit und Handicap» sagt: «Unser Ziel ist es, dass Personen mit Handicap, wenn möglich und erwünscht, direkt im ersten Arbeitsmarkt arbeiten, zum Beispiel in Form von Nischenarbeitsplätzen.»

«Es gibt Menschen mit Behinderung, für die eine Arbeit im geschützten Bereich stigmatisierend wirkt. Für ihr Selbstwertgefühl kann es wichtig sein, zu sagen: ‹Ich arbeite in der Auto-Garage XY.› Man ist so Teil der ‹regulären› Arbeitswelt.» Bosshart pflichtet bei: «Die Betroffenen dürfen nicht ausgegrenzt werden, egal, wo sie arbeiten.»

Pro Infirmis sieht falsche Anreize

Betriebe mit sozialem Auftrag befänden sich zudem stets in einem Spannungsfeld: Zum einen erhalten die Betriebe Geld vom Kanton, welches an eine klare Leistungsvereinbarung geknüpft ist. Die Betriebe betreuen Menschen mit Handicaps und bieten ihnen einen geschützten Arbeitsplatz. Zum anderen müssen die sozialen Betriebe qualitativ gute Dienstleistungen erbringen und betriebswirtschaftlich arbeiten, sprich: schwarze Zahlen schreiben.

Martina Bosshart erklärt: «In diesem Spannungsfeld besteht die Gefahr, dass Menschen, die trotz Beeinträchtigung bereit und fähig wären für den Schritt in den ersten Arbeitsmarkt, länger als nötig im Betrieb gehalten werden.» Denn Mitarbeiter, die trotz Behinderung effizient und kompetent arbeiten, sind für den Betrieb sehr lukrativ: Nicht nur erhalten diese kaum Lohn, der Betrieb erhält für die Betreuung auch noch den kantonalen Beitrag über die Leistungsvereinbarung.

Image-Boost dank sozialem Konzept?

Geniessen Sozial-Cafés gegenüber herkömmlichen Betrieben Vorschusslorbeeren? Pro-Infirmis-Leiterin Martina Bosshart sagt: «Die Beschäftigung von Menschen mit Beeinträchtigungen ist sicher ein positiver Image-Faktor für jeden Betrieb. Auch solche des ersten Arbeitsmarktes können so zeigen, dass sie soziale Verantwortung tragen.»

Irma Metz vom «Café Sowieso» will aber davon nicht profitieren. Sie sagt, ihre erste Amtshandlung als Geschäftsleiterin sei gewesen, alle Tafeln aus dem Restaurant zu entfernen, die darauf hinweisen, dass im Betrieb Menschen mit Beeinträchtigungen arbeiten. Die Mitarbeiter sollen sich nicht ausgestellt fühlen, so Metz.

«Den Betrieben fehlt der Anreiz, gut arbeitende Mitarbeiter weiterzuvermitteln.» Denn einen Mitarbeiter, dessen Fähigkeiten beinahe auf dem Level des ersten Arbeitsmarktes sind, mit jemandem zu ersetzen, der deutlich langsamer ist und erst wieder eingearbeitet werden muss, sei betriebswirtschaftlich uninteressant, führt Bosshart weiter aus.

IV widerspricht Pro Infirmis

René Baumann, Leiter Kommunikation IV Luzern, sagt auf Anfrage, die Erfahrungen mit den sozialen Gastrobetrieben seien «sehr positiv». Dabei bestehe keine Gefahr, dass die IV-Rentner ausgenützt werden: «Versicherte, welche von uns bei der Eingliederung unterstützt werden, arbeiten während einer definierten Zeit und mit klaren Zielvorgaben in diesen Institutionen.» Der Prozess werde von der IV eng begleitet.

Baumann sagt, die IV unterstütze den Wiedereingliederungsprozess zwar, aber: «Es gibt aber immer wieder Personen, welche diesen Schritt nicht direkt schaffen und vorübergehend auf eine intensivere und professionelle Unterstützung angewiesen sind.» Dafür seien die Gastronomiebetriebe ein wichtiger Partner.

Sozialpädagogin Irma Metz gibt ihren Mitarbeiterinnen Anweisungen.

Sozialpädagogin Irma Metz gibt ihren Mitarbeiterinnen Anweisungen.

(Bild: pze)

«Unsere Erfahrungen zeigen, dass diese Betriebe recht nah am ersten Arbeitsmarkt funktionieren. Der Betreuungsaufwand ist zwar höher, die Arbeitsbedingungen entsprechen aber häufig der Realität», so Baumann. Daher seien die Chancen für Anschlusslösungen im ersten Arbeitsmarkt gut. «Die Durchlässigkeit muss jedoch differenziert betrachtet werden», fügt er an. Oft würden Personen aus dem ersten in den zweiten Arbeitsmarkt zurückkehren, weil sie dem stetig steigenden Druck und den Anforderungen nicht mehr gewachsen seien. Baumann: «Für sie ist es wichtig, dass diese institutionellen Gastrobetriebe auch geschützte Arbeitsplätze über einen längeren Zeitrahmen anbieten.»

Betriebe spüren Spannungsfeld

In der Praxis muss sich auch das «Café Sowieso» täglich diesen Schwierigkeiten stellen. Im Betrieb werden Menschen mit Lerndefizit und leichter geistiger Behinderung betreut. Das heisst, dass sich diese Menschen oft an dieser Grenze zwischen erstem Arbeitsmarkt und geschütztem Arbeitsplatz bewegen. Irma Metz erklärt, ihr Betrieb unterstütze die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt aktiv: «Wir helfen unseren Mitarbeitern, Praktika oder Schnuppertage in Normalbetrieben zu erhalten und stehen dafür mit verschiedenen Betrieben in Kontakt.»

Der Aussenbereich des «Café Sowieso»: Die Tische sind für den Mittagsbetrieb vorbereitet.

Der Aussenbereich des «Café Sowieso»: Die Tische sind für den Mittagsbetrieb vorbereitet.

(Bild: pze)

Dafür sei auch Vorbereitung nötig: «Wir geben Leuten die Chance auf eine Ausbildung, die im ersten Arbeitsmarkt keine Lehrstelle erhielten.» Doch es ist nicht immer einfach, die Menschen mit Beeinträchtigungen im ersten Arbeitsmarkt zu platzieren, trotz abgeschlossener Ausbildung. Metz sagt: «Die Betriebe im privatwirtschaftlichen Umfeld haben klare Auflagen, welche Arbeitsleistung verlangt wird.» Könne man diese nicht erfüllen, finde man keine Stelle. «Diese Leute kommen über den Umweg des Arbeitslosenmarktes wieder zurück zu uns», so Metz.

Von Ausnützen könne also keine Rede sein, so Metz. Bei einer kurzen Führung durch das Haus stellt die Sozialpädagogin ihre Mitarbeitenden mit Handicap vor. Die Lehrtochter im ersten Jahr ihrer Ausbildung ist freundlich und zuvorkommend. Sie ist sichtlich froh, im Café Sowieso eine Stelle zu haben. Auch in der Küche bietet der Betrieb geschützte Arbeitsplätze an. Stolz wird auf das Buffet hingewiesen: Alles frisch, alles handgemacht – zwar unter der Aufsicht eines Arbeitsagogen, aber dennoch haben die Mitarbeiter teils viele Freiheiten und Verantwortung über Teilbereiche der Küche.

Zusammenarbeit mit Behinderten «unangenehm»

Trotz der vermehrten Angebote im Gastrobereich: Für die Fachstellen muss in Sachen Arbeitsintegration noch einiges passieren. Dass Menschen mit Beeinträchtigungen keine genügende Wahlmöglichkeit bei ihren Tätigkeiten haben, sei aber einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen geschuldet und nicht nur nur auf der Ebene der Politik oder der Wirtschaft lösbar. Zwar setze sich zunehmend die Einsicht durch, dass alle ihren Platz in der Arbeitswelt finden sollten.

Trotzdem: «Manchen Menschen wäre es unangenehm, mit behinderten Menschen zusammenarbeiten zu müssen. Dies hat eine umfangreiche Befragung im Auftrag von Pro Infirmis ergeben», sagt Martina Bosshart. Personen, die Menschen mit Behinderung in ihrem Bekanntenkreis haben, zeigten hier weniger Berührungsängste, ergänzt sie.

Noch kaum Wahlfreiheit

Die Privatwirtschaft müsste mehr Arbeitsplätze für Leute mit Behinderungen schaffen. «Denn auch Menschen mit Handicap sollen die Wahlfreiheit haben, zu tun, was ihnen liegt und am besten gefällt», so Bosshart. «Heute steht Menschen mit Behinderungen nur eine stark begrenzte Anzahl verschiedener Berufsfelder zur Verfügung. Dieses Spektrum muss viel breiter werden, das beginnt bereits mit der Ausbildung.» Der Wunsch der Fachstellen wäre, dass zusätzliche Anreize für Arbeitgeber und Personen mit Behinderung geschaffen werden, damit diese im ersten Arbeitsmarkt tätig sein können.

 

Hinweis der Redaktion: In der ersten Fassung enthielt der Artikel ein fehlerhaftes Zitat. Dieses wurde inzwischen gelöscht. Dafür entschuldigen wir uns.

Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


1 Kommentar
  • Profilfoto von M. Moser
    M. Moser, 12.08.2017, 11:06 Uhr

    Frau Bosshard vergisst aber ganz, dass der sogenannte erste Arbeitsmarkt gerade für Leute mit psychischen Beeinträchtigungen nicht mehr erreichbar ist. Sie scheitern am Stresslevel der in diesem Arbeitsmarkt herrscht. Stress kann zu einem Auslöser einer psychischen Krise werden. Diese Leute dann in einem «normalen» Arbeitsumfeld wieder aufzufangen, diese Leistung kann kein Betrieb im ersten Arbeitsmarkt anbieten. Dazu braucht es speziell ausgebildete Kräfte, welche die Situation entschärfen können. Für viele Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen ist auch der Schritt in den ersten Arbeitsmarkt zu gross.
    Die zunehmende Zahl der psychischen Beeinträchtigungen durch Burnout spricht hier eine deutliche Sprache. Burnouts hinterlassen bei den Betroffenen Spuren. Diese Spuren zu beseitigen kann eine Aufgabe dieser gAp (geschützten Arbeitsplätze) sein. Intensives Coaching für die Betroffenen ist eine grössere Hilfe. Ein weiteres Burnout bei einer zu frühen Integration könnte dazu führen, dass sich die IV mit einer weiteren Rentenanmeldung befassen müsste. Dies müsste dann eigentlich als kontraproduktiv angesehen werden.

    👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
Apple Store IconGoogle Play Store Icon