zentralplus besucht den 1. Mai in Luzern

Durchhalteparolen und Arbeitskampf-Folklore auf dem Kapellplatz

Die Mitglieder der Gewerkschaft Syndicom jassen und diskutieren im Festzelt.

(Bild: gwa)

Der Tag der Arbeit fristet in Luzern im Vergleich zur Grosskundgebung in Zürich ein Mauerblümchen-Dasein. Das liegt nicht nur daran, dass der 1. Mai kein Feiertag und das Wetter in Luzern notorisch schlecht ist. Ein Augenschein bei den wackeren Genossen auf dem Kapellplatz.

Wie so oft am Fusse des Pilatus ist das Wetter den Gewerkschaften und linken Parteien an diesem 1. Mai nicht hold: Es ist grau, kalt und nass. Die Festteilnehmer haben sich an diesem späten Vormittag ins Zelt verzogen. «Heute gibt es wohl nicht allzu viel zu tun», kommentiert der ehemalige Grünen-Kantonsrat Nino Froelicher mit Blick auf den verhaltenen Besucheraufmarsch. Er hat einen Job an der Kasse gefasst.

Daneben steht Rolf Spörri mit Unterschriftenbögen in der Hand am Zelteingang: «Ich will mich nicht nur beschweren über die Zustände, sondern etwas dagegen tun», erklärt der 71-Jährige sein Engagement. Der Sonderpädagoge und Ex-SP-Grossstadtrat ist seit 40 Jahren Mitglied des VPOD, die Gewerkschaft im Service public. Spörri ist seit vielen Jahren fast an jeder 1.-Mai-Veranstaltung in Luzern dabei. Es gefällt ihm, auf dem Kapellplatz langjährige Mitkämpfer zu treffen, die er sonst selten sieht.

Das Festzelt am 1. Mai 2017 bietet Schutz vor Regen und Kälte.

Das Festzelt am 1. Mai 2017 bietet Schutz vor Regen und Kälte.

(Bild: giw)

Den linken Jungparteien und dem Gewerkschaftsnachwuchs war die 1.-Mai-Feier in Luzern bereits 2011 zu zahm. Sie organisierten jährlich eine alternative Demo kurz vor oder nach dem Tag der Arbeit – bis 2015 die Polizei hart durchgriff (zentralplus berichtete). Dass es im Gegensatz zur grossen Kundgebung in Zürich sehr ruhig bleibt, dafür ist Spörri dankbar: «Ich schätze es, dass es keinen Mais gibt in Luzern. Klar wäre es schön, würden mehr Leute mobilisiert.» Die Veranstaltung habe jedoch nicht an Relevanz eingebüsst – trotz lauer Demo: «Böse Zungen nennen es auch einen Umzug», fügt Spörri lächelnd hinzu.

Rolf Spörri nutzt die Veranstaltung für die Unterschriftensammlung.

Rolf Spörri nutzt die Veranstaltung für die Unterschriftensammlung.

(Bild: gwa)

«Solidarität und Präsenz zeigen»

Aus Sicht des langjährigen Gewerkschafters herrsche eine Neidgesellschaft, die sich gegenseitig nichts gönne. «Der 1. Mai ist gerade im konservativ-katholischen Luzern sehr wichtig. Es geht darum, Solidarität und Präsenz zu zeigen.» Der Rückgang der Teilnehmerzahl erklärt sich Spörri mit einer generellen Entwicklung: «Den klassischen Arbeiter gibt es immer seltener.»

Während Spörri sich über die Sparmassnahmen des Kantons zulasten der Staatsangestellten enerviert, ertönen im Hintergrund alte Arbeiterlieder aus den Boxen und der Duft von Raclettekäse und Frittieröl zieht durch das halbleere Zelt. Längst nicht alle Anwesenden haben einen roten 1.-Mai-Sticker aufgeklebt, einige Festbänke sind mit hungrigen Touristen besetzt.

«Plakate aufhängen reicht nicht»

Nicht nur zum Schlemmen hier ist die Delegation von Syndicom, der Gewerkschaft für Medien und Kommunikation, die es sich am Nebentisch gemütlich gemacht hat. Die sieben Mitglieder klopfen gemeinsam einen Jass. Zum ersten Mal an der Luzerner Feier dabei ist der 55-jährige Kurt Pfyffer. Der Informatiker hat sich die Veranstaltung lebendiger und mit mehr Publikum vorgestellt.

Überrascht ist er nicht: «Wehende rote Fahnen und Grossdemos entsprechen nicht mehr dem Zeitgeist.» Ausserdem sei es in Luzern halt kein Feiertag. Man habe gute Jobs und die Sorgen seien relativ klein. Trotzdem liege es in der Hand der Organisatoren, mehr Leute an die Veranstaltung zu locken: «Plakate aufhängen reicht eben nicht, man muss die Leute persönlich ansprechen», findet Pfyffer, der sich als politisch neutral bezeichnet.

Bratwürste, Raclette und Pommes gibt es in der Festwirtschaft.

Bratwürste, Raclette und Pommes gibt es in der Festwirtschaft.

(Bild: gwa)

Viel linke Polit-Prominenz

Ausserdem findet Pfyffer die Form der Veranstaltung etwas veraltet, er sieht Luft nach oben: «Es fehlt der Festcharakter und das Essen sollte kostenlos sein.» Wichtig sei die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft auf jeden Fall, betont seine Kollegin: «Viele kennen ihren Gesamtarbeitsvertrag und ihre Arbeitnehmerrechte nicht. Dank meiner Mitgliedschaft habe ich einiges an Know-how gewonnen.» Nach ein paar Minuten schaltet sich Regionalsekretärin Valentina Müller-Smajli ein: «Essenszeit. Lasst uns eine Wurst holen.»

Es ist kurz nach zwölf. Im Vorzelt stehen die Festhelfer am Grill und versorgen sowohl Genossen als auch asiatische Touristengruppen mit handfester Kost: Bratwürste, Raclette, Schnitzel und Pommes. Es bildet sich eine kurze Schlange, eingereiht haben sich auch ein paar bekannte Gesichter: Stadtpräsident Beat Züsli, der Nationalrat und ehemalige Gewerkschaftssekretär Louis Schelbert, Grossstadtrat und Ex-Jusopräsident Yannick Gauch oder der neue Präsident des Luzerner Gewerkschaftsbundes, Martin Wyss.

Konzerte und Kundgebungen

Richtig los geht das Fest aber erst am späteren Nachmittag. Um 18 Uhr folgt eine Rede von Regula Bühlmann, Zentralsekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). Es folgen Konzerte von Long Tall Jefferson, Canaille du jour und Friedrich Stiller. Vor dem grossen Festzelt bereitet Arlette Fischer das Pilz-Risotto vor. «Seit 30 Jahren bin ich am 1. Mai in Luzern dabei.» Die 56-jährige Lehrerin unterrichtet an einer Schule für schwer Erziehbare. Engagieren tut sie sich aus Prinzip: «Es gehört sich einfach, sich zu organisieren.» Bereits ihr Vater sei in der Gewerkschaft gewesen.

Dass sie heute deutlich weniger Risotto verkaufe als früher und die Kundgebung deutlicher kleiner ist, sei ihren Vorkämpfern zu verdanken: «Den Leuten geht es heute nicht mehr um die Existenz, sie nehmen die sozialen Errungenschaften als selbstverständlich wahr.»

Arlette Fischer ist verantwortlich für das Risotto am 1. Mai.

Arlette Fischer ist verantwortlich für das Risotto am 1. Mai.

(Bild: gwa)

Fischer beschreibt sich selbst als sehr nostalgische Person – für sie geht es am heutigen Tag um die Würdigung des Arbeiterkampfes – und um politische Besitzstandswahrung: «Wir sind in der Defensive.» Sie ärgert sich grün und blau über die Sparmassnahmen im Kanton: «KP 17 und Organisationsentwicklung sind alles nur schöne Begriffe fürs Sparen. Die Bürgerlichen wollen das mit dem Grind durch die Wand durchsetzen.»

Deutlich weniger Demo-Teilnehmer

Arlette Fischer ist sich bewusst, dass die Zeit der grossen Arbeitermärsche vorbei ist: «Die Form der 1.-Mai-Veranstaltung braucht eine Erneuerung.» Die Nachfolge für sie und ihre Mitkämpfer sei in Luzern noch nicht gefunden worden. Man müsse sich an die neue Zeit anpassen: «Es wird immer wieder darüber nachgedacht, den Demozug abzuschaffen.» Während das Wasser im Topf langsam Hitzebläschen entwickelt, formiert sich die traditionelle Kundgebung.

Die Kundgebung beginnt mit dem Marsch über die Seebrücke.

Die Kundgebung beginnt mit dem Marsch über die Seebrücke.

(Bild: gwa)

Marschierten in den 30er- und 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts Tausende für Arbeiterrechte und internationale Solidarität am Tag der Arbeit durch die Luzerner Innenstadt, sind es inzwischen kaum mehr als 200 Kundgebungsteilnehmer (zentralplus berichtete). Touristen aus China fotografieren die wartenden Politiker und Gewerkschaftsmitglieder mit Entzücken. Zu den Takten des antifaschistischen Kampfliedes «Bella Ciao» setzt sich die Demo nach 17 Uhr in Richtung Seebrücke in Bewegung. Leise und einstudiert bewegen sich die Kundgebungsteilnehmer mit polizeilichem Geleitschutz über die Reuss zur Hauptpost.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Ueli Hunkeler
    Ueli Hunkeler, 01.05.2017, 22:48 Uhr

    Lieber Herr Waldvogel, ‹Schule für schwer Erziehbare› schreibt man schon länger nicht mehr! Schreiben Sie ‹Schule für schwierige Kinder› oder ‹verhaltensauffällige›. Überhaupt liest sich ihr Artikel ein bisschen wie ein Schüleraufsatz – auch wenn die Veranstaltung langweilig war, oder gerade deswegen, dürfte der Text durchaus etwas mehr Pfiff haben … Ueli Hunkeler

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