Was macht man an einem Bahnhof, wenn das Wesentliche nicht in Betrieb ist? zentralplus hat sich am Luzerner Bahnhof umgeschaut. Und Erstaunliches entdeckt. Zum Beispiel ein öffentliches Klavier und ein rabenschwarzes Gipfeli.
Täglich wuseln am Bahnhof Luzern Tausende Leute hin und her auf dem Weg zur Arbeit, zur Schule, zur Uni. Eingequetscht stehen und sitzen die Pendler auf den Perrons und in den Zügen herum. Gestresst und genervt. Das ist jetzt mal anders: Am Bahnhof läuft, beziehungsweise fährt, nichts wie gewohnt – dafür wird es geradezu poetisch.
Keine Apokalypse, nur eine Pause
«Achtung! Letzter Aufruf!», dröhnt es vor dem Haupteingang aus dem Megafon eines SBB-Mitarbeiters, der die Leute statt in die Züge zu den richtigen Bussen weist. «Ich wiederhole: Letzter Aufruf für Passagiere nach Ebikon!» Ein leichter Schauer kriecht mir in den Nacken. Das Knacken und Knistern aus dem Megafon hat etwas Dramatisches. Verstärkt wird dieses Gefühl von all den Männern, die mit Leuchtwesten am Platz präsent sind, bepackt mit Funkgeräten und Signalisationswerkzeug.
Aber wir sind ja hier nicht in einer Apokalypse gestrandet – wie im Film «Die Strasse», in dem Vater und Sohn durch ein komplett zerstörtes Amerika ziehen und überall Gefahren lauern. Wir sind nur bei einem Bahnhof gelandet, der ein paar Tage lahmgelegt ist. Und in guter Luzerner Manier hat man das im Griff (zentralplus berichtete).
Die Leute stehen stoisch in der Schlange vor den Ersatzbussen, daneben ein paar improvisierte Toi-Toi-Häuschen. Der zuweisende SBB-Mitarbeiter ist zufrieden. «Es läuft recht ruhig und hat sich gut eingespielt», sagt er.
Freie Bahn auf der Rolltreppe
Das Puff bei den Veloständern rund um den Bahnhof ist nicht kleiner als sonst. Erstaunlich. Ob die alle nach Obwalden fahren? Die Zentralbahn ist schliesslich bis Sonntag die einzige Verbindung, die per Zug nach irgendwohin fährt. Das macht sich bemerkbar an den wenigen Reisenden, die herumstehen: Es sind fast alles asiatische Touristen auf dem Weg nach Engelberg.
Ein aufgedrehter China-Sprössling hat die Rolltreppe für sich entdeckt, rauf und runter und rauf und runter fährt er und quietscht dazu fröhlich. Das stört heute niemanden, ausser dem Jungen nimmt kaum jemand den Weg ins Obergeschoss.
Statt Pendler picknicken Tauben
Den Weg nach unten in die Shopping-Mall finden auch nur wenige. Es herrscht gähnende Leere. Die Prozent-Schildli an den Läden von H&M und Co baumeln noch trauriger vor sich hin als sonst. Die Schiebetür der Bachmann-Filiale geht so selten auf, dass Tauben davor in aller Ruhe Brosamen aufpicken.
Der Verkäufer beim Kiosk hat Zeit zum Plaudern. «Das ist absolut unüblich. Normalerweise wäre hier eine lange Schlange», sagt er. Theoretisch könnte er Ferien machen, so wenig Kunden seien unterwegs. Für die Geschäfte im Bahnhof ist das natürlich überhaupt nicht lustig: Der Blackout im Zugverkehr beschert ihnen einen grossen Umsatzverlust.
In trauter Einsamkeit die Curry-Wurst essen
Aber eben: Was für die einen schlecht ist, kann für die anderen gut sein. Diese grossen, leeren Hallen zeigen ihren Charme einmal von einer anderen Seite. Nirgends muss man warten, weder im Coop an der Kasse noch beim Scannen ebendort und in den anderen Shops zeigt sich das gleiche Bild.
Tote Hose auch bei den Food-Ständen, die Curry-Wurst lässt sich in trauter Einsamkeit verzehren. Verloren sitzt ein japanisches Pärchen beim Café und nicht einmal in der Permanence sind die Stühle besetzt. Dass auch die Ticketautomaten verwaist in Reih und Glied vor sich hin stehen, versteht sich von selbst: Wozu ein Ticket kaufen, wenn da gar kein Zug ist?
Musik kommt nicht aus Konserve
Irgendwo krakeelt ein Baby, die Rolltreppe murrt, ein paar Stöckelschuhe klappern über den Beton. Ansonsten ist es nahezu still. Bis plötzlich ein ungewohnter Sound zu hören ist. Zuerst etwas stockend, dann immer virtuoser schweben die Klänge durch die Luft, füllen den Raum und schaffen eine zauberhafte Atmosphäre. Da musiziert jemand. Und zwar richtig, nicht aus der Konserve.
Ein Blick in die Tiefe schafft Klarheit: Mitten in der Halle ist ein Klavier platziert. Frei zur Verfügung für gelangweilte Passanten. Jetzt sitzt Melissa dran und spielt ein schönes Lied. Die wenigen Passanten bleiben stehen, hören zu und lächeln. Tönt blöd, aber so ist es: eine romantische Sache. «Ich bin wegen dem Klavier schon mehrmals hierhin gekommen. Zu Hause haben wir keins und ich spiele gerne», sagt die 18-Jährgie. Und so tönt’s:
An jeder Ecke wird geputzt
Weiter geht es vom Untergeschoss per Rolltreppe wieder nach oben in die Halle. Auf der Suche nach der Leere. Und dem Sinn, über diese Leere etwas zu schreiben. Aber wir sind ja hier nicht in einem Philosophiekurs und glücklicherweise treffe ich auf die Reinigungs-Crew der SBB. Das ist allerdings nicht schwierig, denn die Mitarbeiter mit und ohne Wägeli putzen im ganzen Bahnhof wie die fleissigen Bienen.
Geländer werden poliert, Perrons gewaschen, längst vergessene Ecken von Staub befreit. «Immerhin hat man jetzt mal richtig Zeit für solche Sachen», sagt einer der Mitarbeiter, der gerade mit dem Wischtuch das Treppengeländer bearbeitet. Wenn alle solchen Einsatz bringen, wird man den Bahnhof am Sonntag abschlecken können.
Niemand verschlingt die Gratisblätter
Aufräumen muss man auch bei den Gratiszeitungen. Die Dispender mit «20 Minuten» und «Blick am Abend» sind proppenvoll. Obschon es bereits 10 Uhr ist. Üblicherweise sind die Blätter dann weg und verschlungen von den Pendlern, die sich auf dem Weg zur Arbeit mit News füttern. Jetzt räumt einer die Zeitungen weg, damit es Platz gibt für die neuen Ausgaben, auch wenn die wohl genauso liegen bleiben.
Apropos liegen: Auf meiner Wanderung stosse ich auf eine Sitzgruppe. Hier kann man sich hinsetzen, auf einen Knopf drücken und sich den Rücken massieren lassen. Auch das gehört zu den seltsamen Dingen, die man in einem belebten Bahnhof schlicht übersieht. Genauso wie das «richtige» Telefon, das in der Halle in einer Ecke hängt und darauf wartet, dass jemand den Hörer in die Hand nimmt. Sofern überhaupt noch jemand weiss, wie das funktioniert.
Schwarze Gipfeli sind nicht zwingend verkohlt
Gegen Mittag schlendern etwas mehr Leute herum. Es sind vor allem Kids, die in der Mittagspause bei den Food-Ständen etwas essen. Ich setze mich ins Café Spettacolo und schaue der ungewohnten Gemütlichkeit im Bahnhof Luzern zu. Vor mir ein seltsames Gipfeli, von dessen Existenz ich bis heute auch noch nichts wusste: Es ist rabenschwarz. Das Gipfeli ist jedoch nicht verkohlt, sondern eine Eigenkreation des Cafés und schmeckt nach Kokosnuss.
Auch solche Entdeckungen lassen sich machen, wenn man im Bahnhof etwas anderes unternimmt als Reisen. Doch nach einer Stunde im halbleeren Bahnhof wünscht man sich dann doch das normale Gipfeli zurück. Und dazu den Kafi im Becher, um ihn gemütlich im Zug zu trinken. Das wird bald wieder möglich sein. Und dann wird der Bahnhof Luzern wieder das sein, was ein Bahnhof halt so ist: ein belebtes Reisezentrum.
Hier gibt es weitere Eindrücke vom temporär stillgelegten Bahnhof:
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annighedda, 26.03.2017, 13:57 Uhr «Warten kann man immer.»
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