«Kulturkampf» füllt die Bibliothek Zug

Als in Baar die Gemeindeversammlung in eine wüste Schlägerei ausartete

Historiker sorgen für ein volles Haus: Pirmin Meier (l.), Moderator Thomas Zaugg und Josef Lang (r.) am Podium in der Bibliothek Zug.

(Bild: Sara Marty, doku-zug)

Freisinnig oder Konservativ? Wegen dieser Frage schlug man sich früher nicht nur in der Zentralschweiz die Köpfe ein. Der Zuger Historiker und Ex-Nationalrat Josef Lang und der Luzerner Pirmin Meier, Insider des Kulturkampfs, haben dazu ein Buch geschrieben. Beide sind Publikumsmagnete, ihr Thema immer noch ein Gassenhauer.

In der Bibliothek Zug war am Mittwoch der letzte und hinterste aufgestellte Stuhl besetzt – einige Besuchende verfolgten die Diskussion sogar vom Obergeschoss aus. Grund für den Andrang war eine für die moderne Schweiz zentrale Auseinandersetzung sowie eine hochkarätige Besetzung. Sie bestand aus drei Historikern: Dem ehemaligen Mittelschullehrer und Redaktor aus Beromünster, Pirmin Meier, Moderator Thomas Zaugg, der gegenwärtig den Nachlass von alt Bundesrat Philipp Etter untersucht, sowie alt Nationalrat Josef Lang.

Diesem Spektakel wohnten rund 140 Teilnehmende bei – unter anderem die amtierende Frau Landammann, ein alt Regierungsrat, der gegenwärtige Co-Präsident der Jungen Grünen Schweiz sowie ungefähr ein «Dutzend Autoren», wie Co-Veranstalter Daniel Brunner vom Dokumentationszentrum «Doku Zug» festhielt.

Ein Buch mit zwei Vorderseiten

Der Anlass ihres Kommens: «Kulturkampf», ein im letzten Herbst erschienenes Buch mit kreativem Layout (es gibt zwei Vorderseiten). Darin befassen sich die beiden Autoren Lang und Meier, die jahrelang zum politischen Katholizismus in der Schweiz des 19. Jahrhunderts geforscht haben, in je einem Essay mit den Auseinandersetzungen, welche der Gründung des modernen Bundesstaates 1848 vorausgingen und die ersten Jahrzehnte desselben geprägt haben. Das anspruchsvolle und für die Geschichte der Schweiz höchst bedeutsame Thema wird anhand von lokalen Ereignissen, Überschneidungen von Entwicklungen in einzelnen Kantonen sowie Gemeinsamkeiten verschiedener historischer Akteure aufgearbeitet.

Der Sohn des Schwarz-Schächters

Auch Moderator Zaugg versucht zu Beginn, Gemeinsamkeiten in den Biographien der beiden Autoren hervorzuheben. Beide stammen aus katholischem, aargauischem Elternhaus, haben als Historiker doktoriert und das Kollegium Sarnen besucht. Hier hören die Parallelen erst mal auf, da Josef Lang dieses bereits nach einem Jahr aufgrund «fremder Weltanschauungen» verlassen musste. Obwohl hinlänglich bekannt, sorgt die Anekdote auch an diesem Anlass für den ersten Lacher im Publikum.

Hat Lang anschliessend gemäss eigener Aussage in einem «kreativ-marxistischen Umfeld eine zweite Sozialisation» erfahren und durch dessen Analyse – zu Beginn wohl eher unbeabsichtigt – zur Forschung über den politischen Katholizismus des 19. Jahrhunderts gefunden, erscheint Meiers Weg zu seinem Forschungsgebiet direkter, wenn auch nicht frei von Paradoxien. So setzt er sich als Metzgerssohn für die Rechte von Tieren ein. Unter anderem konnte er im Kanton Aargau durchsetzen, dass die «Würde der Kreatur» in die Verfassung festgeschrieben wurde (zentralplus berichtete). Und dies, nachdem sich, wie er zu Beginn ausführt, sein Gross- und Urgrossvater 1894 bei der Abstimmung als einzige in der Gemeinde Würenlingen gegen das Schächtverbot ausgesprochen hatten und fortan ihrer Profession schwarz nachgingen.

Protestant bremst den katholischen Eifer

Gemeinsamkeiten und Differenzen ziehen sich nicht nur durch die Biographie der beiden Autoren, sondern auch durch ihre Essays sowie die Diskussion. Beide verorten den Kulturkampf in der Zeitspanne 1830–1880 und nicht, wie oft der Fall, ausschliesslich in den 1870er Jahren. Entscheidend ist zudem der Fokus auf innerkatholische Konflikte. Die wichtigste Lektion aus der Diskussion und eine Korrektur der in der Schule gerne gepredigten Darstellung ist die Erkenntnis, dass die Gründung des Bundesstaates nicht eine Folge von Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken, sondern zwischen Liberalen und Konservativen gewesen sei. Insbesondere Lang vertritt die These, dass die katholischen Freisinnigen eine zentrale Rolle bei der Gründung des liberalen, überkonfessionellen Bundesstaates gespielt hätten.

Josef Lang vertritt die These, dass die katholischen Freisinnigen eine zentrale Rolle bei der Gründung des liberalen, überkonfessionellen Bundesstaates gespielt hätten.

Schliesslich glänzen beide durch die zahlreichen Anekdoten und die Kontextualisierung sowie Verknüpfung einzelner Ereignisse und Biographien von Schlüsselfiguren. Meier und Lang wissen dermassen viel zu erzählen, dass Protestant Zaugg immer wieder dazwischenfunken muss, damit er mit seinen Fragen durchkommt. Während Lang einzelne Ereignisse als Beispiele für das grössere Ganze zu analysieren versucht und seine Darstellung nüchtern-analytisch erklärt, berichtet Meier mit einem derartigen Enthusiasmus über einzelne Ereignisse und Schlüsselfiguren, wie Ignaz Paul Vital Troxler, Alfred Escher oder die Menzinger Schwestern, dass man sich an einen Kommentator einer unglaublich intensiven und dramatischen Zielfahrt eines Skirennens erinnert fühlt. Die unterschiedlichen Stile entsprechen dem Aufbau der Essays, wobei es sich, wie auch Daniel Brunner einleitend rät, lohnt, die analytisch-narrative Darstellung Langs vor Meiers narrativen Biographien zu lesen.

Das Podium in der Stadtbibliothek war gut besucht.

Das Podium in der Stadtbibliothek war gut besucht.

(Bild: Sara Marty, doku-zug)

Freisinniger Wortführer geht eine Weile nur bewaffnet auf die Strasse

Besonders interessant wird die Diskussion, wenn Anekdoten erzählt werden, um Kulturkämpfe zwischen katholischen Protagonisten in Zug zu beleuchten. Nach einer gemässigten Zeit in den 1850er und 1860er Jahren kam es gemäss Lang in den 1870er Jahren in Zug zu einer «Radikalisierung, wobei Baar das Epizentrum darstellte». Dabei kreuzten der Konservative Dossenbach und der freisinnig-katholische Schiffmann in drei entscheidenden Angelegenheiten die Klingen. Unter anderem endete eine Gemeindeversammlung in einer regelrechten Wirtshausschlägerei, bevor sie unter Vermittlung des Regierungsrates wiederholt und einigermassen gesittet abgehalten werden konnte.

Schiffmann setzte den Bau eines Schulhauses durch, worauf er diesen, aus Furcht vor konservativen Racheakten, mit einer Pistole bewaffnet überwachte.

In einer anderen Episode setzte Schiffmann, obwohl sich die Gemeindeversammlung nicht auf die Finanzierung einigen konnte, nach einem knappen Beschluss der Gemeindeversammlung gegen den Willen der Bürgergemeinde den Bau eines Schulhauses durch. Aus Furcht vor konservativen Racheakten soll er in der Öffentlichkeit in der Folge immer einen geladenen Revolver auf sich getragen haben.

Nach über 90 Minuten Diskussionen und einigen Fragen aus dem Publikum endet der intensive, höchst angeregte und lehrreiche Streifzug durch die für die heutige Zeit so wichtigen Auseinandersetzungen im 19. Jahrhundert. Verarbeiten und durchatmen können die Anwesenden anschliessend beim Apero im Dokumentationszentrum «Doku Zug», wo der Anlass ausklingt.

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