Doppelte Integration in Emmen

Von der Mentorin zur Ersatzgrossmutter

Elisabeth Käser zwischen ihren Schützlingen Meron (links) und Yonathan. Die Seniorin ist ein gern gesehener Gast der Familie Techlom in Emmen.

(Bild: pbu)

Wie lassen sich Kinder mit Migrationshintergrund besser in die hiesige Gesellschaft integrieren? Der Verein Munterwegs scheint dafür ein Erfolgsrezept gefunden zu haben, das schweizweit Schule macht. Ein «Culture Clash» mit Happy End – wovon vielfach nicht nur die Kinder profitieren.

Eine Wohnblocksiedlung in Emmen. Sechster Stock. Kaum geht die Lifttür auf, steht auch schon Betiel Techlom an der Wohnungstür bereit, um ihren Gast freudig in Empfang zu nehmen. «Du bist pünktlich», sagt die 14-jährige Betiel mit strahlendem Gesicht zu Elisabeth Käser, während diese von Betiels Mutter zur Begrüssung umarmt wird. «Wobei, eigentlich bist du eine halbe Sekunde zu spät», foppt sie die Besucherin und verschwindet in der Küche.

Auf zur nächsten Runde

In Emmen und im Rontal starten Anfang November zwei neue Runden mit jeweils zehn bis zwölf Kindern im Alter von fünf bis elf Jahren, vorwiegend mit Migrationshintergrund. In Emmen wird das Mentoringprogramm bereits zum siebten Mal seit der Gründung des Vereins im Jahr 2009 durchgeführt.

Ein Durchgang dauert acht Monate, in dem sich eine Mentorin oder ein Mentor rund zweimal pro Monat für einen Nachmittag mit ihren Schützlingen trifft – inklusive einem einmaligen Unkostenbeitrag von 400 Franken.

Munterwegs gibt es – neben Emmen und im Rontal – auch an drei Standorten im Kanton Zug (Baar, Cham, Risch/Rotkreuz), in Basel Stadt sowie in Bern. Weitere Standorte sollen folgen. Nähere Informationen finden sich auf der Projektwebseite (siehe Linkbox).

Die Szene hat etwas von der Vertrautheit eines Familientreffens. Auf der einen Seite Elisabeth Käser, Jahrgang 1948, ausgebildete Sozialpädagogin und Rhythmiklehrerin aus Luzern, auf der anderen Seite die siebenköpfige Familie Techlom, Flüchtlinge aus Eritrea, die seit 2008 in Emmen leben. Zusammengeführt hat sie der Verein Munterwegs (siehe Box). 2013 hat Elisabeth Käser die beiden Söhne Yonathan (12) und Meron (10) im Zuge des Mentoringprogramms während acht Monaten betreut. «Ich wollte nicht, dass danach Schluss ist», sagt die Rentnerin rückblickend. «Es war mir wichtig, dass diese Beziehung nicht reisst.»

Eine Brücke zur neuen Welt

Ihr Wunsch sei es gewesen, mit den Kindern möglichst viel zu erkunden. «Wir haben zusammen musiziert, gebacken, fotografiert, waren viel in der Natur unterwegs, haben Hütten und Labyrinthe im Wald gebaut und über dem Feuer Würste gebraten», erzählt Käser. Obwohl es manchmal mitunter streng und schwierig war, weil zwei völlig unterschiedliche Kulturen aufeinanderprallten, habe es in der Regel gut funktioniert.

Mentorin Käser hat früh verstanden, dass sie nach eigenem Gutdünken handeln musste. «Schnell merkte ich, dass ich nicht so arbeiten kann, wie ich mein ganzes Leben gearbeitet habe», erklärt die Pädagogin. Will heissen: Sie konnte nicht auf die Kinder zugehen und fragen, was diese unternehmen wollten. «Das haben sie schlicht nicht gewusst. Sie kannten hier ja nichts. Deshalb habe ich einfach das getan, was ich gerne mache.» Das kommt bei den Kindern an: «Elisabeth macht es gut», sagt Meron und nimmt Platz auf dem Sofa.

Das Trio in der Bahn auf den Pilatus.

Das Trio in der Bahn auf den Pilatus.

(Bild: zvg)

Von der Aussicht schwärmen die Kinder heute noch.

Von der Aussicht schwärmen die Kinder heute noch.

(Bild: zvg)

Unbekannte Bekanntschaften

Mittlerweile hat sich die ganze Familie im Wohnzimmer versammelt und reicht Fotos umher, die von den gemeinsam erlebten Abenteuern zeugen. «Das ist ein schönes Foto», sagt Mutter Mihret zu einem Bild, das ihre beiden Söhne auf dem Pilatus zeigt. «Das Wandern auf dem Pilatus hat mir sehr gut gefallen», sagt Meron dazu. «Das Beste war die Aussicht.»

Sein Bruder Yonathan präsentiert eine ganze Palette an Highlights: «Das Brotbacken war super, der Besuch im Gletschergarten, das Musikmachen bei Elisabeth, das Fondue-Essen, das Schifffahren, das Wandern auf Rigi und Pilatus», schwärmt er in perfektem Schweizerdeutsch.

Wandern auf dem Pilatus.

Wandern auf dem Pilatus.

(Bild: zvg)

Und dann ist da auch noch die Anekdote vom Besuch auf dem Bauernhof. Während Tochter Betiel frisch gebackenes Brot serviert, erzählt Käser die Geschichte: «Das erste Mal, als wir bei einem Bauernhof vorbeikamen, waren die Jungs fasziniert von den Kühen. Meron sah erstmals eine lebendige Kuh. Später erblickte Yonathan einen Bauern, der Traktor fuhr, und wollte das unbedingt auch machen.»

Mutig sei er auf den Bauern zugegangen und habe ihn angesprochen. Dieser sei von den beiden sofort angetan gewesen. «Wir durften in den Stall gehen und beim Melken zuschauen und mithelfen», erinnert sich Meron. Sogar mit dem Traktor seien sie gefahren, ergänzt Yonathan, der danach seinen Klassenkameraden stolz von seinen Erlebnissen erzählte.

Yonathan und Meron packen mit an ...

Yonathan und Meron packen mit an …

(Bild: zvg)

... und haben Spass beim Traktorfahren.

… und haben Spass beim Traktorfahren.

(Bild: zvg)

Von der Mentorin zum Familienmitglied

«Jedes neue Erfolgserlebnis stärkt die Kinder, ermutigt sie zu neuen Taten und dazu, in Beziehung zu anderen Menschen zu treten», sagt Käser. Integration geschehe Schritt für Schritt. Auch sie als Mentorin sei integriert in diese Familie und erlebe grosse Dankbarkeit.

Dieses Vertrauensverhältnis sollte nach dem achtmonatigen Mentoringprogramm nicht zu Ende gehen. Es sei eine Freundschaft zur ganzen Familie entstanden, führt Käser aus. «In mehr oder weniger regelmässigen Abständen treffen wir uns weiterhin, nicht nur mit Meron und Yonathan, auch mit der ganzen Familie, oder mit der Schwester Betiel, die zu mir in die Klavierstunde kommt.»

«Rund 80 Prozent der Mentoren halten den Kontakt zu ihren Mentees über das Projektende hinaus aufrecht.»

Miriam Hess, Präsidentin Munterwegs

So wie Elisabeth Käser und den Techloms geht es vielen, die beim Projekt Munterwegs mitmachen. «Rund 80 Prozent der Mentoren halten den Kontakt zu ihren Mentees über das Projektende hinaus aufrecht», erklärt Vereinspräsidentin Miriam Hess, die gerade im Rontal eine neue Gruppe aufbaut. «Und viele starten nach den acht Monaten mit einer neuen Patenschaft.» 360 Paare habe der gemeinnützige Verein bis heute zusammengebracht und betreut.

Ab nach Graubünden

Die Beweggründe der Eltern, ihre Schützlinge in die Obhut einer fremden Person zu geben, decken sich mehrheitlich. Es geht darum, dass die Kinder Erfahrungen sammeln, die ihre Eltern ihnen nicht bieten können. «Wir haben hier keine Verwandten, Grosseltern oder so, welche diese Aufgabe übernehmen könnten», erklärt Mutter Mihret. Elisabeth Käser wurde also kurzerhand zur Ersatzgrossmutter erklärt.

Inzwischen wissen die Kinder auch ganz genau, was sie noch erleben möchten. «Ich möchte nach Graubünden», sagt Yonathan. «In den Nationalpark», konkretisiert er seinen Wunsch und blickt mit erwartungsvollen Augen ins Gesicht seiner Mentorin. «Alles zu seiner Zeit», erwidert diese und lächelt. Meron lehnt sich zurück und isst genüsslich ein Stück warmes Brot. Für ihn ist klar: Seine Ersatzgrossmutter hat angebissen.

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