Luzern: Geschichte der Touristenmeile mal anders

Alle wollen den Löwen sehen – egal, wofür er steht

Die touristische Zukunft Luzerns? Postkarte aus dem Kunstverlag A. W. Rosenzweig, Zürich II, ohne Jahresangabe. (Alle Bilder aus: Andreas Bürgi, Eine touristische Bilderfabrik, Chronos Verlag, Zürich 2016)

Der Löwenplatz in Luzern ist heute einer der Hotspots für Touristen. Der Literaturhistoriker Andreas Bürgi hat sich auf die Spuren dieser Industrie begeben. Entstanden ist ein Buch über die Faszination für spektakuläre Berge und ausgestopfte Tiere – und über die Logik des Kommerzes.

Luzern und Tourismus, das ist eine alte Geschichte. Bereits im 19. Jahrhundert pilgerten Reisende in die Leuchtenstadt und vor allem: ins Wey-Quartier. Die «Tourismusmeile» war schon damals Anziehungspunkt für Abenteurer, Neugierige und Weltenbummler.

Doch was zog sie nach Luzern? Wie kam es, dass diese Gegend – die ja nicht vor architektonischen Sehenswürdigkeiten strotzt – zu einem touristischen Vergnügnungsviertel wurde? Dieser Frage geht der Literaturhistoriker Andreas Bürgi in seinem neuesten Buch nach, das diesen Donnerstag im Gletschergarten Vernissage feiert.

Vernissage und historische Rundgänge

Das Buch von Andreas Bürgi feiert am Donnerstag um 18.15 Uhr Vernissage im Luzerner Gletschergarten. Autor Andreas Bürgi sowie Jon Mathieu, Historiker der Universität Luzern, referieren über das Buch. Anschliessend erzählt Marc Germann, Präsident des Quartiervereins Hochwacht, wie die heutigen Bewohner das Quartier sehen. Andreas Bürgi ist Literaturhistoriker und hat das Buch im Rahmen eines mehrjährigen Forschungsprojektes an der Universität Luzern geschrieben.

Wer die Vernissage verpasst oder lieber selber einen Blick auf das Quartier werfen möchte: Andreas Bürgi nimmt Interessierte am Wochenende mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Die historischen Quartierrundgänge finden am Samstag, 3. September, von 16 bis 17 Uhr und am Sonntag, 4. September, von 12 bis 13 und von 14 bis 15 Uhr statt. Sie starten und enden im Bourbaki-Panorama an der Réception des Museums. Eine Reservation oder Anmeldung ist nicht nötig.

Hinweis: Andreas Bürgi, «Eine touristische Bilderfabrik. Kommerz, Vergnügen und Belehrung am Luzerner Löwenplatz, 1850–1914», Chronos Verlag Zürich, 2016, 212 Seiten, 48 Franken.

Die Anziehungskraft des Löwen

Angefangen, schreibt Bürgi, habe alles mit dem sterbenden Löwen. 1821 enthüllt, galt das Löwendenkmal als grosse Attraktion, lange bevor es die Touristen scharenweise nach Luzern zog. Denn das Wey-Quartier war damals sumpfig und abgeschnitten von der Stadt, dem See und den Hotels am Schwanenplatz. Abgesehen davon gab es in Luzern wenig zu sehen, schreibt Bürgi.

Doch die Anziehungskraft des Löwen wirkte: Es besuchten so viele Touristen das Denkmal, dass sich der Stadtrat 1865 beklagte, dass an diversen Orten unbewilligte Souvenirbuden aufgestellt wurden.

Der Löwe steht laut Bürgi für den Anfang der Entwicklung Luzerns. Rund um das Löwendenkmal entstanden der Gletschergarten, das Bourbaki-Panorama und manche Attraktionen, die teilweise auch wieder von der Bildfläche verschwanden.

Interessant dabei: Heute zwar auf so mancher Kamera gespeichert, wissen viele nicht, wofür das Löwendenkmal steht. Und zwar nicht erst, seit man alles googeln kann. Die Bedeutung des Denkmals kannte schon in der ersten touristischen Blütezeit – zwischen 1850 und 1914 – kaum jemand, schreibt Bürgi. «Der Luzerner Löwe ist ein Denkmal, von dem man nicht so genau wissen will, woran es gemahnt.» Das erklärt für Bürgi übrigens auch, wieso das Löwendenkmal-Museum (das heutige Alpineum) floppte. Was heute oft über ignorante Pauschaltouristen geklagt wird, konnte man offenbar bereits im 19. Jahrhundert sagen: Die Touristen scherten sich nicht besonders um die Fakten. (Wer sich jetzt ertappt fühlt und nicht weiss, wofür das Löwendenkmal steht: Auflösung am Ende des Textes.)

Das filigrane Stahlgerüst des Bourbaki-Panoramas, 1889. Der Fachwerkbau im Hintergrund links ist Samuel Stauffers Museum.

Das filigrane Stahlgerüst des Bourbaki-Panoramas, 1889. Der Fachwerkbau im Hintergrund links ist Samuel Stauffers Museum.

(Bild: zvg)

Der Löwe stand aber nicht nur am Anfang der Attraktionen, sondern auch der Tourismusindustrie. Wie die Souvenirbuden zeigen, sind gewiefte Geschäftsleute keine neue Erfindung. Den Löwen gab es laut Bürgi bereits damals in Form von Schokolade, Salonschmuck oder als Briefbeschwerer.

Das zerfallene Panorama

Im Vorwort zu seinem Buch erzählt Andreas Bürgi, wie er selber das erste Mal den Löwenplatz besuchte. Und diese Erinnerung ist nicht geprägt von einer amüsierten Touristenschar und herausgeputzten Attraktionen, sondern vom Zerfall.

Als er in den 70er-Jahren erstmals das Bourbaki-Panorama besuchte, musste er zuerst durch einen dunklen Gang einer Autogarage (dort, wo die heutige Bourbaki-Bar ist). Und das Panorama vertröstete nicht dafür – im Gegenteil: Die Leinwand zeigte Risse, Verfärbungen und wirkte, als würde sie demnächst zusammenbrechen.

So deprimierend der Anblick: Es war die Initialzündung für Bürgis Interesse am Thema.

Lieber spektakulär als wahr

Bei seiner Erforschung stiess der Ostschweizer auf ein touristisches Potpourri, das einiges aussagt über den damaligen Zeitgeist in der Tourismusbranche. Da ist zum Beispiel das «Stauffersche Museum der Thiergruppen», das im heutigen Old Swiss House untergebracht war. Der Berner Samuel Stauffer, angeblich Zucker- und Pastetenbäcker, stopfte reihenweise Alpentiere aus. Und die Touristen kamen genauso scharenweise, um die Gämsen, Schneehühner oder Alpenschwalben zu sehen.

Plakat des Gletschergartens, oben das Panorama von Rigi bis Pilatus, wie man es vom Aussichtsturm aus geniessen konnte, vermutlich um 1906.

Plakat des Gletschergartens, oben das Panorama von Rigi bis Pilatus, wie man es vom Aussichtsturm aus geniessen konnte, vermutlich um 1906.

(Bild: zvg)

 

Wie Bürgi schreibt, waren die Tiere vielmals in Szenen arrangiert, die in der Natur kaum je zu sehen sind – oder gar nicht erst vorkommen. Spektakulär musste es sein, mit der Wahrheitstreue nahm man es weniger genau. Für Andreas Bürgi eine typische Eigenschaft der damaligen Luzerner Tourismusmeile. Man richtete die Attraktionen nach dem Gusto der Besucher. Das Belehrende wurde in das Kostüm des Vergnügens gesteckt und entsprechend vermarktet.

Ab auf die Berge – ist doch nicht nötig!

Dazu passt ein weiteres Highlight der damaligen Reisedestination Luzern: das Diorama. Auf einer zirka 6 auf 5 Meter grossen Leinwand konnten die Besucher in die Bergwelt eintauchen. Die Technik erlaubte es, mit variierender Beleuchtung eine Bewegung im Bild zu simulieren. Zum Beispiel einen Sonnenaufgang auf der Rigi.

Das hatte folgenden Vorteil: Jene berühmten Berge, von denen die meisten Touristen schon so viel gehört hatten, mussten nicht mehr bestiegen werden. Bequem und ohne Mühe genossen Touristen den Ausblick von den Gipfeln in Meyers Diorama, später im Alpineum, wo weitere Bergwelten dazustiessen.

Führer für die Besucher von Ernst Hodels Alpineum, in dem die gezeigten Dioramen erklärt werden, vermutlich um 1910.

Führer für die Besucher von Ernst Hodels Alpineum, in dem die gezeigten Dioramen erklärt werden, vermutlich um 1910.

(Bild: zvg)

Ebenfalls um diese Zeit herum liess Josef Wilhelm Amrein für seinen geplanten Weinkeller in einem alten Steinbruch ein Loch sprengen. Was sie dabei fanden – Gletschertöpfe als Zeugen der Eiszeit –, führte zur Gründung des Gletschergartens – ab den 1870er-Jahren ein weiteres Reiseziel.

Andreas Bürgi zeigt in seinem Buch auf, woher die Anziehungskraft der Luzerner Tourismusmeile herrührte: Sie bot den Fremden ein Stück Schweiz, das zugleich Amüsement und Belehrung bot. Und wie die asiatischen Touristen heute von Stadt zu Stadt hoppen, um kurz vor dem Pilatus, dem Eiffelturm und dem Big Ben ein Selfie zu schiessen, ging es bereits damals darum, innert Kürze möglichst viel zu sehen. «Schliesslich sollten die Besucher den Eindruck gewinnen, am Löwenplatz könnten sie in konzentrierter Form sehen, was es in der Schweiz an Sehenswertem gab, was man aber leider während eines kurzen Aufenthalts nicht alles in natura besuchen und anschauen konnte», schreibt Bürgi.

Der Gletschergarten um 1875.

Der Gletschergarten um 1875.

(Bild: zvg)

Das Bild, das von der Schweiz verkauft wurde, konzentrierte sich vorwiegend auf die Alpen – und blieb meist eine Kulisse. Die Landwirtschaft als Wirtschaftsfaktor wurde laut Andreas Bürgi genauso ausgeklammert wie Konflikte oder politische Themen. «Die Touristen reisten durch ein menschenleeres Land, und folgerichtig war die Tourismusmeile ebenso menschenleer», schreibt Bürgi.

Immer mehr, immer spektakulärer

Bürgis Erkentnnisse gehen aber weiter. Er zeigt auf, wie die Ware des Luzerner Tourismus einem immer schnelleren Zerfall unterlag. Indem sie den Regeln des Konsums und den «Rhythmen von Interessantheit und Langeweile» folgte, musste immer wieder etwas Neues geboten werden.

Luzern stand bereits damals und zunehmend in Konkurrenz mit anderen europäischen Vergnügungszielen. Das führte zur rasanten Expansion in der Tourismusmeile (mit teilweise unschönen Folgen wie zum Beispiel den rassistischen Völkerschauen, die auch in Luzern gezeigt wurden). Es führte aber auch dazu, dass einige Angebote mit dem hohen Veränderungstakt nicht mithalten konnten und eingingen. Das abrupte Ende folgte mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der die Blütezeit des Luzerner Tourismus stoppte – zumindest vorübergehend.

Das Löwendenkmal, übrigens, erinnert an die Schweizer Gardisten, die am 10. August 1792 beim Sturm auf die Tuilerien in Paris fielen.

Bourbaki-Panorama mit Ladengalerie, links davon ist Samuel Stauffers Haus erkennbar, nach 1906.

Bourbaki-Panorama mit Ladengalerie, links davon ist Samuel Stauffers Haus erkennbar, nach 1906.

(Bild: zvg)

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