Michelle Ettlin staunt über Zuger Quartiere

Künstlerin über Zug: «Was ist hier bloss passiert?»

Sie traut der Sache nicht ganz: Michelle Ettlin fotografiert Zuger Gebäude und findet ein Wort für ihre Beziehung zur Stadt: Ambivalent.

(Bild: Michelle Ettlin)

Die Foto- und Videokünstlerin Michelle Ettlin hat sich für einen Tag zurück nach Zug getraut. Und dabei einen Blick auf die Stadt geworfen, die «per Zufall» der Ort ist, an dem sie aufgewachsen ist. Ihr Fazit: «Heftig».

Michelle Ettlin wohnt nicht mehr in Zug. Schon eine Weile nicht. So lange, dass sie sich entschlossen hatte, für einen Tag zurückzukommen. Und dieses Zug zu fotografieren, dass für sie vor allem eines ist: «Ein zufälliger Ort, an dem ich aufgewachsen bin», sagt die Künstlerin. Umso spannender ist ihr Blick zurück auf die Stadt.

Einen ganzen Tag lang hat sie die Stadt beobachtet, vom ersten bis zum letzten Zug. Von morgens um sechs Uhr in der Früh bis um Mitternacht. Für ihre Gasteinträge auf dem Blog auf «Forum Junge Kunst» ist sie durch Zuger Quartiere gewandert und hat ständig gedacht: «Was ist hier bloss passiert?» Und so sehen die Fotos auch aus, die dabei entstanden sind.

Was ist bloss passiert im Quartier an der Feldstrasse, zum Beispiel. «Diese Überbauungen haben eine Heftigkeit, sind fast schon aggressiv, abweisend», sagt Ettlin. Oder mit dem alten Indukta-Gebäude: «Der Denkmalschutz beschäftigt sich nur mit der Fassade», schreibt Ettlin in ihrem Blog, «nicht mit dem Inhalt.» Die ehemaligen Künstlerateliers sind verschwunden, stattdessen gibt’s darin jetzt Loftwohnungen.

Die Künstlerin ist ein Stück eingefrorenes Stadtgefühl – hat Zug 1998 nach der Matura verlassen, als es hier noch ganz anders aussah: «Es gab mehr alternative Orte, die Galvanik bot kreativen Freiraum, das Podium war ein Schuppen, in dem sich allerhand verschiedene Leute trafen.» Heute ist alles etwas geregelter, findet die 37-Jährige. «Es kommt viel mehr von der Stadt aus, ist offizieller, das Chaotikum heisst heute Podium 41 und ist ganz anders aufgestellt. Ich frage mich, wo gehen denn die Leute hin, die früher da waren? Gibt’s eine andere unprätentiöse Beiz?»

Apokalyptischer Science-Fiction-Film

Wir treffen die Künstlerin mit Baarer Wurzeln in einem Café an der Zürcher Langstrasse, keine drei Blocks von ihrem Atelier entfernt, und trinken Eistee in der Sommerhitze. «Hier bin ich zuhause», sagt Ettlin, «ich wollte eigentlich immer weg von Zug.» Die Rückkehr für einen Tag, die hat sie zwar erschreckt, «aber es gab auch sehr schöne Begegnungen. Das hat mir Zug auch wieder ein bisschen näher gebracht.»

«Heftig», was da gebaut wurde: Architektur an der Feldstrasse in Zug.

«Heftig», was da gebaut wurde: Architektur an der Feldstrasse in Zug.

(Bild: Michelle Ettlin)

Wenn Ettlin über Zug spricht, klingen die Klischees glaubhafter als sonst, immerhin war sie eine ganze Weile hier. «Es ist eine so homogene Gesellschaft. Die hohen Mieten und die tiefen Steuern ziehen eine ganze bestimmte Schicht von Leuten an.» Die Zuger Fotoreihe hat sie im März geschossen, damals wars noch kalt. Das Licht bläulich, die Bilder misstrauisch.

«Am Morgen früh wars recht kühl, als ich um halb sechs Uhr durch die Stadt gelaufen bin, eine sehr friedliche Stimmung: Ich habe jemanden fotografiert, der im See geschwommen ist, und eine alte Dame, die vor sich hingeschaut hat.» Und ganz am Schluss, spätabends, ist sie durchs Landis&Gyr-Quartier gewandert, zwischen verlassenen Bürotürmen und leeren Strassenecken, eine Szene wie aus einem apokalyptischen Science Fiction-Film: «Völlig verlassen, das ist schon sehr speziell.»

Gefahr, sich im Job zu verlieren?

Ettlin ist Video- und Fotokünstlerin. Sie hat sich mit Fotoprojekten einen Namen gemacht, aber auch mit Dokumentarfilmen, ihr Film «Liquid Land» wurde an verschiedenen internationalen Filmfestivals gezeigt. Schon ihr Diplomfilm an der HSLU schaffte es weltweit an die Festivals: Im Animationsfilm «In

Michelle Ettlin

Michelle Ettlin

Limbo» rast ein gezeichneter Zug durch die flatterhafte Landschaft, skizziert erwachsene Projektionen auf Kinder und ihre Hoffnungen, und nimmt ein wohltuendes Ende.

Neben den Filmen schiesst Ettlin Fotos für Auftraggeber – aber immer solche mit künstlerischem Anspruch. «Ich arbeite viel», sagt sie, «aber immer gerne. Auch oft am Wochenende.» Gefahr, sich im Job zu verlieren? Fehlanzeige: «Ich empfinde das nicht als Gefahr, sondern als Ziel», sagt sie.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich Ettlin mit Zug beschäftigt – sie hat den Stummfilm «HÖRBAaR» über Baar gedreht, der im Baarer Kino Lux als Performance von Simon Berz und Roland Dahinden live vertont wurde. Musikvideos hat Ettlin ebenfalls im Repertoire, wie etwa das für die Zuger Band Troimer: Eine Stop-Motion-Animation mit einer Brio-Bahn, eine Holzeisenbahn für Kinder, die zum Ornament und Gesicht für den Song wird.

«Etienne Bühler von Troimer ist ein uralter Freund von mir», sagt Ettlin – es gibt also doch noch Verbindungen. Sonst sind die Fäden in die Stadt Zug fast ganz gekappt, bis auf ein Datum jedes Jahr: An Weihnachten ist Ettlin auf dem Landsgemeindeplatz, an der «Wunderbar», feiert mit allen, die da sind, und sammelt damit Geld für Medecins sans Frontiers. Da hat sie auch Adam kennengelernt, einen Asylsuchenden, den sie an ihrem Zuger Reportage-Tag für ein Interview getroffen hat. «Ich wollte wissen, wie das so ist, als Asylsuchender nach Zug zu kommen.» Wie es ist, als staunende Künstlerin zurückzukommen, sieht man ihren Bildern an.

Wie Raumschiffe aus Star Wars: Bedrohliche Kulisse vom roten Postgebäude am Bahnhof bis zum Park Tower in Zug.

Wie Raumschiffe aus Star Wars: Bedrohliche Kulisse vom roten Postgebäude am Bahnhof bis zum Park Tower in Zug.

(Bild: Michelle Ettlin)

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