Wenn Demenzkranke das Museum besuchen

Moderne Kunst gegen das Vergessen

Eine Frau mit Demenz betrachtet im Kunstmuseum das Bild von Franz Fedier. (Alle Bilder: jav)

Ein Besuch in einem Museum moderner Kunst kann schon an sich ziemlich verwirren. Was geschieht, wenn Demenzkranke dazu ihre Assoziationen einbringen? zentralplus hat bei diesem neuen Projekt im Kunstmuseum Luzern reingeschaut und definitiv etwas gelernt.

Die Veranstaltung liest sich auf den ersten Blick etwas seltsam: «Menschen mit Demenz lassen sich von einem Kunstwerk inspirieren und erzählen, was ihnen dazu in den Sinn kommt.» Was soll man sich darunter vorstellen und wie spannend kann das werden? Wir wollten es wissen und haben die erste dieser Veranstaltungen besucht.

Anwesend sind an diesem Dienstagnachmittag zehn Personen mit Demenz, dazu Begleitpersonen und Freiwillige der Generation 60plus. Dazu kommt die Kunstvermittlerin Brigit Meier und eine Protokoll-Schreiberin. Denn die Aussagen werden aufgeschrieben und zu einer Geschichte verwoben. Diese Geschichte wird beim nächsten Treffen vorgelesen, um vielleicht von Neuem zu inspirieren oder an den vergangenen Besuch zu erinnern.

In Luzern wurde für die erste Veranstaltung das Bild von Franz Fedier ausgewählt. Moderne Kunst zwar, aber trotzdem ist das Bild bereits über 50-jährig.

Farben, Bilder, Sprüche

Der Beginn ist relativ verhalten. Die Teilnehmenden sollen beschreiben, was sie sehen. Das Gespräch wird von Brigit Meier moderiert und in Gang gebracht. Durch offene, impulsgebende Fragen beginnen sie erstmal, die Farbkombinationen zu beschreiben. Dann kommen erste Assoziationen wie der Himmel, Fenster oder eine Mondnacht auf.

Termine

Das Projekt findet dieses Jahr an folgenden Tagen im Luzerner Kunstmuseum statt:

Dienstag, 21.06., 15–16 Uhr
Dienstag, 27.09., 15–16 Uhr
Dienstag, 25.10., 15–16 Uhr
Dienstag, 29.11., 15–16 Uhr

Auf Anmeldung.

Eine resolute Dame in der Runde stellt auf Nachfrage ganz viele, sehr klare Bilder in den Raum. Sie sehe Bahnhofsbögen, einen Blick aus dem Hochhaus, zwischen den Vorhängen durch. Und hinter den Bögen sehe sie farbige Reklametafeln.

Eine andere Dame sieht sich an eine Stoffhandlung mit vielen farbigen Stoffen erinnert. Als sie 20 war, sei sie oft dagewesen, und dann sei sie hart auf den Boden gefallen, erzählt sie energisch.

Plötzlich passiert ganz viel

Die Stichworte Blut, Biskuit, Kerzen im Bahnhof, See im Glas, Wellen im Wasser, Eiszapfen, Feuer und Kreuz fallen. Ein Kreuz, nach dem man sich richten müsse. Man sehe Sonnenstrahlen, wenn man genau hinschaue. Menschen auch – «Punkt, Punkt, Komma Strich, fertig ist das Angesicht.»

Eine Dame hat sich bisher zurückgehalten. Auf Nachfrage gibt sie zu, dass ihr das Bild halt wirklich überhaupt nicht gefällt. Mir geht es ähnlich. Und doch ist es erstaunlich, wie viel plötzlich beim Betrachten des Bildes passiert, wenn man all die Assoziationen der älteren Menschen im Raum erfahren hat. Vorher hätte ich vor diesem Bild keine zehn Sekunden verbracht – nun sehe ich zahlreiche Geschichten darin. Auch eigene.

Ein erprobtes Projekt

Das Projekt heisst «Trotzdem» und findet seit Juni diesen Jahres in regelmässigen Abständen im Kunstmuseum Luzern statt. In Deutschland, Österreich und auch in Zürich hat die Idee schon länger Fuss gefasst.

Die Stadt Luzern hat schliesslich gemeinsam mit dem Kunstmuseum und der Alzheimervereinigung entschieden, den Versuch auch hier zu wagen. Brigit Meier vom Kunstmuseum, Sandra Baumeler von der Alzheimervereinigung, Bettina Hübscher von der Stadt und der Gerontologe Tomas Kobi bilden das Team.

Die Methode erklärt sich eigentlich ganz simpel: Das Projekt animiert Menschen mit Demenz anhand mehrdeutiger Bilder zum kreativen Geschichtenerfinden.

Ressourcen und Potential wahrnehmen

Das Projekt vereine alles, was man sich von einer sozialen Intervention im Bereich der Demenz wünsche, erklären die Organisatoren. «Wir wollen zeigen, dass Menschen mit Demenz nicht ab von der Welt sind. Sie haben noch genauso ihre Ressourcen, ihr Potential, ihre Kreativiät», betont Brigit Meier.

Es gehe aber auch darum, einen Beitrag zur Lebensqualität der Erkrankten zu leisten. Es gehe um ein Teilnehmen am Leben und an der Kunst, eine Integration ins tägliche Leben. Oft würden Demenzkranken in unserer Gesellschaft sämtliche Fähigkeiten abgesprochen. «Menschen mit Demenz wird zu wenig die Möglichkeit gegeben, eigene Entscheidungen zu treffen, einmal selbst im Mittelpunkt zu stehen und Wertschätzung zu erfahren», so Sandra Baumeler.

Bei diesem Projekt sei das Gegenteil der Fall. Die Menschen mit Demenz werden integriert, man hört ihnen zu, zeigt Interesse an ihren Assoziationen und Interpretationen der modernen Malereien. Man will sie auf der Ebene der Kunst ansprechen. Aber nicht nur als Konsumenten, sondern auch als aktive Teilnehmer. «Ziel ist es, diese Menschen in unsere Mitte zu nehmen, sie wahrzunehmen und sich von ihnen und ihren Geschichten berühren zu lassen.»

Freudige Erinnerungen

Nach der gemeinsamen Besprechung des Bildes von Fedier gehen die Teilnehmerinnen gemeinsam mit den Begleitpersonen noch durch die Ausstellung.

Vor einer Installation, einem Vorhang, bleibt eine der Damen stehen. Was wohl dahinter sein könnte, fragt ihre Begleiterin. Sofort fällt ein Name. Die Dame wackelt mit den Hüften und lacht. Es scheint eine gute Erinnerung zu sein. An den Mann mit diesem Namen.

Erinnerungen, Kreativität – diese Vorgänge lassen sich offensichtlich weder durch zunehmende Gedächtniseinbussen noch durch Schwierigkeiten bei der Wortfindung aufhalten.

Und: Abstrakte Kunst ist für alle abstrakt.

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