Luzernerin kämpft gegen Multiple Sklerose

«Ich will nicht von Medikamenten abhängig sein»

Graziella Anouchka Bättig bekämpft ihre Multiple Sklerose mit einer radikalen Ernährungsumstellung. (Bild: Marco Sieber)

Sie sei kein Mensch der oberflächlichen Kosmetik, sagt Graziella Anouchka Bättig über sich selbst – und lehnt deshalb eine medizinische Behandlung ihrer Multiplen Sklerose ab. Stattdessen hat die stadtbekannte Luzernerin einen anderen Weg für den Umgang mit ihrer Krankheit gefunden.

Es war im Dezember 2011, als Graziella Anouchka Bättig mit einer Diagnose konfrontiert wurde, die ihr Leben für immer verändern sollte. Angefangen hatte es mit einer Entzündung des Sehnervs. «Mir war rasch klar, dass dies nichts Gutes zu bedeuten hat», erzählt sie. Und sie sollte recht behalten. Nach einer Odyssee an schulmedizinischen Untersuchungen war klar: Sie leidet an Multipler Sklerose (MS), auch wenn man das der selbstbewussten jungen Frau rein äusserlich nicht ansehen würde.

Die entzündliche Erkrankung des Nervensystems kann je nach Krankheitsverlauf schwere Beeinträchtigungen hervorrufen. Das Immunsystem der Betroffenen greift irrtümlicherweise die Nervenisolierschicht an und zerstört diese. Gemäss der Schweizerischen Multiple-Sklerose-Gesellschaft sind in der Schweiz rund 10’000 Menschen von dieser chronischen und unheilbaren Krankheit betroffen – und jeden Tag kommt eine weitere Person hinzu. An jenem Dezembertag hatte die Diagnose die heute 35-jährige Luzernerin getroffen. «Die Diagnose MS hat mir nicht den Boden unter den Füssen weggerissen», so Bättig. «Ich hatte Zeit, mich innerlich darauf vorzubereiten.»

«Die Krankheit hat mir mehr gegeben, als sie mir nehmen könnte.»
Graziella Anouchka Bättig, MS-Patientin 

Gefragt, warum es ausgerechnet sie getroffen hat, das habe sie sich nie. «Ich habe diese Diagnose gebraucht, um mich meiner Lebensaufgaben anzunehmen», erklärt sie. Insofern habe ihr die Krankheit mehr gegeben, als sie ihr nehmen könne. Graziella Anouchka Bättig hat die Krankheit als ihren persönlichen Weg angenommen – und sich gegen eine schulmedizinische Behandlung entschieden. Stattdessen hat sie begonnen, bewusster zu leben und ihre somatische Intelligenz, also die Fähigkeit, zu spüren, was der Körper gerade braucht, geschult und ihre Ernährung radikal auf die Vollwerternährung umgestellt (siehe Box).

Druck zur Medikation

«Dem Körper alles zur Verfügung zu stellen, was er braucht, um gesund zu sein, ist essenziell», erklärt sie. «Für unseren Körper sind nebst Kohlenhydraten, Fetten und Eiweissen auch Mineralien, sekundäre Pflanzenstoffe, Hormone und Spurenelemente überlebenswichtig. Sie halten den Körperkreislauf am Laufen, produzieren neue Zellen und reparieren sogar Schäden.» Die Sehnerventzündung habe sich ohne bleibende Schäden regeneriert und ihr Körper habe inzwischen auch einige alte Läsionen geheilt.

Seit über drei Jahren hatte sie keinen Krankheitsschub mehr. «Der Neurologe meinte, es sei schon erstaunlich, dass sich eine ‹unbehandelte› MS so lange ruhig verhält», so Bättig. Dabei habe sie schmunzeln müssen.

«Ich investiere vermutlich sogar mehr in die Behandlung meiner Krankheit als Menschen, die voll auf den schulmedizinischen Apparat setzen.»

«Nur weil ich keine Medikamente nehme, heisst das nicht, dass ich meine Krankheit nicht behandle.» Im Gegenteil, sie investiere vermutlich sogar mehr in die Behandlung ihrer Krankheit als Menschen, die voll auf den schulmedizinischen Apparat setzen.

Was ist Vollwerternährung?

Vollwerternährung – auch bekannt als «naturgemässe Ernährung» oder «Clean Eating» – wurde von W. Kollath und M. Bircher-Benner (Schweizer Arzt und Erfinder des Birchermüeslis) basierend auf dem Ernährungskonzept der Vollwertkost aufgebaut. Eine Ernährung gilt dann als vollwertig, wenn die Lebensmittel naturbelassen, saisonal und unbehandelt sind. «Naturbelassen bedeutet keine hochverarbeiteten Lebensmittel wie etwa raffiniertes Salz und Zucker, Transfettsäuren oder Weissmehl», erklärt Bättig. Was bleibt? Obst, Gemüse, fettarmes Fleisch, Fisch, unbehandelte Milchprodukte, Vollkorn oder Nüsse. «Das, was für unsere Grosseltern noch selbstverständlich war», so Bättig.

«Warum sollte ich eine Krankheit, deren genaue Ursachen bis heute unbekannt geblieben sind, mit Medikamenten behandeln und mich von ihnen abhängig machen?», habe sie sich immer wieder gefragt, während sie sich mit ihrer Diagnose auseinandersetzte. Sich einer Medikation zu widersetzen sei nicht einfach gewesen. Gerade da von den Ärzten und teilweise auch aus ihrem Umfeld ein gewisser Druck ausgeübt wurde.

Nichts bereuen

«Ich schiebe dich dann nicht im Rollstuhl rum», habe es geheissen. Und so entschied sie sich, für einen Monat in ein Yoga Retreat nach Istanbul zu gehen, um sich über ihre Zukunft Gedanken zu machen. «Das war mir wichtig», betont sie. «Denn falls ich wirklich einmal eingeschränkt werden sollte, will ich mich immer noch im Spiegel ansehen können und meine Entscheidung nicht bereuen müssen.» Und bereuen werde sie nichts, da sei sie sich sicher.

Die selbstbewusste junge Frau hat ihren hektischen Job in der Telekommunikationsbranche gekündigt, sich zur ganzheitlichen Ernährungsberaterin ausbilden lassen und sich mit «Speiseplan» teilselbstständig gemacht. Ausserdem ist sie auf der Suche nach einer Teilzeitstelle. Wie sehr ihr ihre Diagnose bei der Stellensuche im Weg stehen wird, darauf sei sie gespannt. 

Graziella Anouchka Bättig hat ihr Leben nach der Diagnose umgekrempelt. (Bild: Marco Sieber)

Graziella Anouchka Bättig hat ihr Leben nach der Diagnose umgekrempelt. (Bild: Marco Sieber)

Doch MS ist unberechenbar; kein Krankheitsverlauf gleicht dem anderen. Hat sie nicht manchmal Angst vor den Ungewissheiten der Zukunft? «Es ist ein sehr schmaler Grat zwischen dem Bewusstsein, dass diese Krankheit da ist und mir vieles nehmen könnte, und dem Glauben daran, dass mein Weg funktioniert», meint sie. Einmal im Rollstuhl zu landen, das sei nicht ihre grösste Angst. «Das Schlimmste wäre, die Sinneswahrnehmung zu verlieren.»

«Etwas vom Schönsten, was mir diese Krankheit gegeben hat, ist die Fähigkeit, bewusster zu leben.»

Erstmals im Gespräch zeigt sich, dass sie hin und wieder mal unsicher ist. «Wenn jemand diese Krankheit bewältigen kann, dann du», das höre sie aus ihrem Umfeld immer wieder. «Doch ob ich letztlich tatsächlich die Stärke dazu habe, das wird sich zeigen», lächelt sie. 

Bewusster leben

Doch allzu viel Energie verschwendet sie nicht an diese Zweifel. Was für sie zählt, ist das Hier und Jetzt. «Etwas vom Schönsten, was mir diese Krankheit gegeben hat, ist die Fähigkeit, bewusster zu leben.» So sei sie jeden Tag dankbar für Dinge, die für andere mehr oder weniger selbstverständlich seien. «Ich bin glücklich und dankbar, weil ich mir bewusst mache, was mir alles geblieben ist und welche Möglichkeiten mir offenstehen», sagt sie. 

Heute sei es ihr Körper, der ihr das Tempo vorgibt. «Das musste ich zuerst lernen», erzählt sie und betont, dass es nicht immer einfach sei, die körperlichen Grenzen zu akzeptieren. Gerade als sie vor ein paar Monaten einen Hilfseinsatz bei einem Kinderhilfswerk in Afrika früher als gedacht beenden musste, habe ihr dies etwas zugesetzt. In Afrika sei es schwierig gewesen, sich gemäss ihren Bedürfnissen zu ernähren – und das habe sich bemerkbar gemacht. «Ich habe auf mein Körpergefühl vertraut und musste meine Balance wiederfinden, deshalb bin ich zurückgekommen.»

«Ich bin kein Mensch der schnellen Lösungen und oberflächlichen Kosmetik.»

Aber auch hier in der Schweiz sei es nicht immer einfach, sich an ihren Ernährungsplan zu halten. «Restaurantbesuche und Essenseinladungen sind schon sehr schwierig», lacht sie. Aussenstehenden mögen ihre Ernährungsgewohnheiten radikal erscheinen, und genau das sei es auch, was sie als Person ausmache. «Ich bin schon etwas radikal», sagt sie, «ich bin kein Mensch der schnellen Lösungen und oberflächlichen Kosmetik – ich will Probleme an ihren Wurzeln anpacken.»

Gesundes Körpergefühl als Schlüssel

Nachdem sie diesen Weg für sich entdeckt hatte, sei ihr klar geworden, dass ein gesundes Körpergefühl der Schlüssel zu allem sei. An dieser Erkenntnis wollte sie auch ihr Umfeld teilhaben lassen: «Eine Zeit lang war ich schon extrem missionarisch unterwegs», lacht sie. «Das hat viele genervt.» Heute habe sie das weitgehend ablegen können. «Es braucht diesen Augenblick, in dem man erkennt, dass jeder selbst für sein Leben verantwortlich ist und es selbst in die Hand nehmen muss.»

Und genau jene Eigenverantwortung ist ihr besonders wichtig – auch im Umgang mit ihren Klienten. «Es gibt keine Pauschallösungen. Nur weil etwas für mich funktioniert, heisst das nicht, dass das auch für andere der Fall sein muss.» Als ganzheitliche Ernährungsberaterin unterstützt sie ihre Klienten dabei, ihre somatische Intelligenz zu stärken, sodass sie für sich selbst erkennen können, was ihr Körper braucht. «Das ist eine Fähigkeit, die viele Menschen verlernt haben», erklärt Bättig.

Auch sie habe zuerst neu erlernen müssen, auf sich selbst zu hören und sich von Dingen abzugrenzen, die ihr nicht guttun. «Ich lasse nicht mehr alles an mich heran», erklärt sie, «mittlerweile habe ich einen guten Filter dafür entwickelt.» Für sich selbst einstehen zu können, die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen und seinen eigenen Weg zu gehen, das hat für Bättig viel mit Selbstliebe zu tun. «Und die kann mir niemand nehmen – auch die MS nicht.»

Entscheidung immer wieder hinterfragen 

«Entscheidungen für oder gegen eine Medikation sollten gut informiert und am besten gemeinsam mit einem Neurologen gefällt werden», meint Susanne Kägi von der Schweizerischen Multiple-Sklerose-Gesellschaft. Man sollte sich zudem überlegen, wie gut man mit den möglichen Konsequenzen umgehen könne, und die Entscheidung immer wieder hinterfragen und gegebenenfalls anpassen. 

«Es gibt MS-Betroffene, welche die alternative Medizin befürworten und auf diese Weise einige Jahre lang gut mit der Krankheit leben können», erklärt Kägi weiter. Doch wenn sie dann einen schweren Schub erfahren oder sich die Lebensumstände verändern – sie beispielsweise Vater oder Mutter werden –, gäbe es Betroffene, die ihre Entscheidung überdenken und auf eine schulmedizinische Behandlung wechseln würden.

«Studien konnten beweisen, dass behandelte MS einen besseren Verlauf zeigen als unbehandelte», so Kägi. «Auch keine Diät konnte bis anhin einen durchschlagenden Erfolg im MS-Verlauf aufzeigen.» Trotzdem gäbe es immer wieder MS-Betroffene, die sich gegen eine Therapie entscheiden. Die Gründe dafür sind laut Kägi vielfältig: «Das kann zu Beginn der Erkrankung sein, wenn man in einem fortgeschrittenen Stadium den Nutzen der Therapie nicht mehr sieht oder den Glauben daran verliert.» Auch die befürchteten oder erlebten Nebenwirkungen können die Entscheidung beeinflussen.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von djdevil
    djdevil, 07.03.2016, 11:13 Uhr

    Bei MS gibt es inzwischen sehr wirkungsvolle Cannabis-Therapien. Ich rate jedem sich nicht voll auf die Schulmedizin zu verlassen. Denn für die seit ihr alle keine Patienten sondern Kunden. Der Körper ist in der Lage die meisten Krankheiten selbst zu besiegen. Wenn er denn dazu unterstützt wird. Informiert euch. Nur Krebs alleine ist eine 700 Milliarden Dollar Industrie. Denkt darüber nach.

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