Fünfzig Fragen an Erwin Koch

«Ich bin eher bäuerisch veranlagt»

Er landete wieder da, wo er aufgewachsen ist: der Schriftsteller und Journalist Erwin Koch in Hitzkirch. (Bild: aka)

Die Texte berühren – in seinen Reportagen hat es der Luzerner Erwin Koch auf die Tragik abgesehen. In unseren fünfzig Fragen verrät der 59-Jährige, warum aus ihm kein Tierarzt wurde und was ihm Angst macht.

Als promovierter Jurist hat er einen Hang zum Akribischen: Erwin Koch hat einen unverkennbaren, protokollartigen Erzählstil. Als Journalist schrieb er unter anderem für «Das Magazin», «Die Zeit» und den «Spiegel». Seine Reportagen veröffentlichte er auch in Buchform: 2011 unter «Was das Leben mit der Liebe macht» und 2013 unter «Von dieser Liebe darf niemand wissen».

1. Wieso braucht die Welt Geschichtenerzähler?

Erwin Koch: Vor dem Zeitalter des Fernsehers haben sich die Leute mit Geschichten unterhalten. Eigentlich ist das ja eine urmenschliche Kommunikationsform, von der ich glaube, dass sie nie aussterben wird.

2. Ihre Geschichten zeugen von viel Feingefühl. Ein Journalist muss aber auch hartnäckig und fordernd sein – wie finden Sie das richtige Mass?

Ich habe dafür kein Patentrezept. Wie Sie habe ich einen Fragenkatalog. Ich stelle jeweils die harmlosen Fragen zuerst; und dann, wenn ich es schaffe, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, kommen die heikleren Fragen.

3. Ihre Texte lesen sich wie Protokolle. Wie haben Sie diesen Schreibstil entwickelt?

Aus dem Wunsch, nicht immer in der gleichen Art zu schreiben, hat sich das in 35 Jahren so ergeben, quasi aus dem Bauch heraus. Es kam immer mehr zu einer Verknappung, einem selbstauferlegten Gebot, mit wenigen Wörtern viel auszusagen.

4. Von Ihren Notizen schaffen es nur zehn bis zwanzig Prozent in die Reportage. Wie viel Zeit investieren Sie in einen durchschnittlich langen Text?

Mit Vorbereitung, Sammeln, Gesprächen, Abtippen, dem Erstellen eines Stichwortverzeichnisses – etwa vier Wochen.

5. Wie strikte halten Sie sich dabei an wahre Begebenheiten?

Sehr strikte. Ich kratze so lange so viele Details zusammen, bis ich genug davon besitze. Da brauche ich dann nichts zu erfinden. Im Gegenteil, ich muss weglassen, reduzieren.

6. Aber um die Protagonisten zu schützen, ändern Sie schon manchmal die eine oder andere Begebenheit ab?

Ja, meistens schlage ich ihnen sogar selbst vor, Name und Wohnort zu anonymisieren.

«Am Mittwoch, 19. Dezember 2007, sitzen Vater und Mutter in einem engen, düsteren Raum des Kinderspitals Luzern, Abt. 1 West 117; zwei Tische darin, zwei Bildschirme, Ordner, Neon leuchtet, zwei Ärzte sind da, eine Pflegerin, und einer beginnt zu reden, er sagt: ‹Im Knochenmark Ihrer Tochter sind Zellen, die dort nicht hineingehören.›»

Auszug aus «Sarah»

7. Wie kamen Sie nach Ihrem Jus-Studium in den Journalismus?

Das war Zufall. Als angehender Jurist schrieb ich eine Arbeit über die eidgenössische Filmförderung und lernte so den damaligen Filmkritiker des Tagesanzeigers kennen. Der schrieb ausserdem für das «Tagesanzeiger-Magazin» (heute: «Das Magazin», Anm. der Redaktion). Die kamen dann auf mich zu, als es darum ging, einen Artikel über die Kulturförderung im Kanton Jura zu schreiben. So habe ich dann gemerkt, dass mir das Schreiben gefällt.

8. Würden Sie heute wieder diesen Beruf wählen?

Nein! (vehement) In der heutigen Medienwelt muss ja immer alles schneller und kürzer werden. Da wäre ich mit meinem Hang zu langen Texten auf verlorenem Posten. Ich sehe mich da als Exot.

9. Welche Geschichten möchten Sie noch erzählen?

Ich schreibe ja mit Vorliebe wahre Geschichten. Dafür ist mein Radar natürlich immer angestellt.

10. Passiert es oft, dass Sie eine Reportage nicht umsetzen können, weil die Betroffenen das nicht wollen?

Von zehn Versuchen, die ich starte, gelingen etwa fünf.

11. Erzählen Sie eines Tages mal Ihre eigene Geschichte?

Nein.

12. Wieso nicht?

Ich habe grosse Hemmungen, von mir selbst zu erzählen. Und es wäre langweilig (lacht).

13. Sind Sie ein Perfektionist?

Ja. Leider und zum Glück.

«‹Zellen, die dort nicht hineingehören.

Leukämie, ein lymphoblastisches Lymphom vom Precursor-B-Typ, Stadium drei, noch sehr jung, gottlob.›

‹Was genau ist Leukämie?›, fragt der Vater.

Und die Mutter, sie weiss nicht weshalb, ahnt, Sarah wird sterben. Sie dreht sich zu ihrem Mann und sieht ihn weinen, sie legt ihre Hand auf seine, er zieht sie weg.»

Auszug aus «Sarah»

14. Was beschäftigt Sie ausser der Schreiberei?

Mein Privatleben. Und das ist eben privat.

15. Sie stammen ja aus Hitzkirch …

Ja, ich bin die ersten zwölf Jahre hier aufgewachsen. Dann ging ich auf ein katholisches Internat.

16. Und später hat es Sie wieder in das Heimatdorf verschlagen?

Nach der Matura und dem Militärdienst wollte ich eigentlich Tiermedizin studieren. Dafür musste ich nach Fribourg. Schon am ersten Tag war’s mir aber so zuwider (lacht), dass ich mich umgehend umschreiben liess – und dann das Jura-Studium absolvierte. Eine Kurzschlusshandlung, die ich aber nicht bereue. Nach Fribourg verbrachte ich drei Jahre in Zürich und wollte dann wieder aufs Land, zusammen mit meiner Frau. Meine Mutter hat das dann schlau eingefädelt und in Hitzkirch ein altes Holzhaus entdeckt, das wir günstig mieten konnten. So sind wir dann hier hängengeblieben.

17. Wie stehen Sie zur aktuellen politischen Lage in der Schweiz?

Sie bekümmert mich. Gerade die SVP bedient sich fleissig einer Art Kunstempörung: Sie schreien, um Aufmerksamkeit zu bekommen, sind aber nicht an Lösungen interessiert. Gamblertypen, die am Ende doch keine Verantwortung übernehmen.

18. Sie schreiben nicht nur Tragisches. Vor einem knappen Jahr erschien «Franz», ein Kinderbuch. Wie kam es dazu?

Das war ein Auftragswerk. Die IRKA, also die Internationale Regierungskommission Alpenrhein, hat sich die Renaturierung des zu Tode sanierten Rheinkanals zur Aufgabe gemacht. Dafür sollen bereits Kinder sensibilisiert werden, darum das Buch.

19. Und wie kam das Buch an?

Gut. Vor allem bei Erwachsenen (lacht).

20. «Franz» behandelt den Umweltschutz. Nehmen Sie nur Auftragsarbeiten an, die Ihrer Gesinnung entsprechen?

Ja.

21. Glauben Sie an Gott?

Nein. Punkt.

22. Interessieren Sie sich für Kunst?

Ich bin nicht der Museumsgänger – und auch nicht der Opernbesucher. Ich bin eher bäuerisch veranlagt.

23. Was heisst das?

Ich freue mich zum Beispiel jedes Jahr aufs Holzfräsen. Etwas mit den Händen zu machen ist für mich sehr bereichernd.

24. Verreisen Sie auch gerne privat, oder nur, um Geschichten zu schreiben?

Lange Zeit dachte ich, ich würde mich ohne Auftrag im Ausland langweilen. Aber zum Glück stimmt das gar nicht.  

25. Wie sieht Ihr Weltbild aus?

Ich bin jetzt sechzig Jahre alt und bin vielleicht fünfzig Jahre lang relativ naiv durch die Welt gegangen. Ich dachte, gewisse Zustände, die man aus der Geschichte kennt, könnten sich nicht wiederholen. Seit einigen Jahren passiert aber genau das. Ich würde also sagen, ich habe ein realistisches Weltbild. Man könnte aber auch sagen ein pessimistisches.

26. Welche Zustände meinen Sie?

Der wieder in Mode gekommene Nationalismus, das politische Niedermachen, das Abschlachten … Man könnte sagen, ich sei von der Welt enttäuscht.

27. Wer waren Ihre Vorbilder in Ihrer Jugend?

Ich habe und hatte nie irgendwelche Vorbilder. Auch nicht als Journalist. Ich habe einfach immer selber etwas gewurstelt.

28. Was mögen Sie lieber: Bier oder Wein?

Schwierig. Sagen wir: Alkohol.

29. Stones oder Beatles?

Beatles.

30. Filme oder Serien?

Filme.

31. Haben Sie einen Lieblingsfilm?

Nein. Gut gefallen hat mir aber «Padre padrone», die Geschichte eines sardischen Bauernjungen, verfilmt in den siebziger Jahren. Oder auch lustige Werke wie «Tanz der Vampire».

32. Kaffee oder Tee?

Eindeutig Kaffee. Ich trinke keinen Tee.

33. Hund oder Katze?

Eigentlich Katze, obwohl wir zwei Hunde haben. Katzen sind selbstständiger.

34. Theater oder Kino?

Kino.

35. Um doch nochmal auf das Thema Kunst zurückzukommen: Ab wann ist denn eine Reportage Kunst?

Keine Ahnung. Ich weiss nicht, ob eine Reportage überhaupt Kunst sein kann. Bei meinen Geschichten jedenfalls bediene ich mich gerne literarischer Mittel – ich nehme mir die Freiheit, gewisse Aspekte zu unterschlagen, damit der Leser selbst die Zusammenhänge herstellen muss.

36. Wie wichtig ist Objektivität für Ihre Arbeit?

Ich verlasse mich da ganz auf mein Gespür. Wie gesagt, lasse ich ja die Protagonisten die Texte immer gegenlesen, damit es für sie stimmt.

37. Und was tun Sie, damit es für die Leserschaft stimmt?

Ich versuche, niemanden zu dämonisieren oder zu heroisieren.

38. Was ist das Mühsamste an Ihrem Beruf?

Das Abtippen vom Tonband! Und wenn ich auf Anfragen keine Antworten bekomme.

39. Und das Beste?

Die Vielfalt des Lebens. Der Job ist ein grosses Privileg. Er gibt mir die Möglichkeit, unheimlich viele verschiedene Lebensentwürfe zu beobachten und zu beschreiben.

40. Was ärgert Sie?

Lärm.

41. Was ist das Wichtigste, das Sie in ihrem Leben gelernt haben?

Dass man nachsichtig sein muss. Und gelassen. Aber das mit der Gelassenheit klappt bei mir noch nicht so gut.

42. Die Leser sind immer weniger bereit, für Journalismus zu bezahlen. Was glauben Sie, wie sich die Branche noch entwickelt?

Das weiss ich nicht. Ich blende das eher aus.

43. Sie haben ja Ihre Nische gefunden.

Vielleicht deswegen, ja.

«Donnerstag, Sarah liegt im Operationssaal, zwei Ärzte beugen sich über sie, setzen unterhalb des rechten Schlüsselbeins einen Portacath, einen Langzeitkatheter, der in Sarahs Vene führt.

2 West 224, das Eckzimmer.

‹Mami, ich will nicht, dass die Leute an meinem Bett heulen.›

Und die Mutter weiss, Sarah wird sterben, erzählt es keinem.»

Auszug aus «Sarah»

44. Welche Träume haben Sie?

Irgendwann Gelassenheit zu erlangen.

45. Welches sind Ihre Lieblingsschriftsteller?

Habe ich keine.

46. Was macht Ihnen Angst?

Das Zerfallen der Welt in politische Lager; Nationalismus und religiöser Fanatismus.

47. Was ist für Sie Luxus?

Auf dem Sofa zu liegen und dabei meine Hündin Lupa zu streicheln.

48. Was ist das Gefährlichste, das Sie je getan haben?

In der vierten Klasse bin ich in Abwesenheit des Turnlehrers das Tau hochgeklettert, runtergefallen und habe mir den Arm gebrochen.

49. Gab’s auch beruflich riskante Aktionen?

Für eine Geschichte über die Transamazônica in Brasilien wollte ich mit illegalen Holzfällern reden. Da gab’s dann Ärger, weil die dachten, ich schriebe für eine brasilianische Zeitung. Aber bewusst habe ich nie etwas Gefährliches gewagt.

50. Sie wären also kein Kriegsreporter?

Nein, ich hätte zu viel Angst davor, in Krisengebiete zu gehen.  

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