Luzerner packen in Serbien an

«Es ist schwierig, Elend gegen Elend aufzuwiegen»

Die JUSO Stadt Luzern sammelt. Von links: Nik Rigert, Lorena Stocker, Leon Schulthess, Gina Dellagiacoma. (Bild: zvg)

Mit dem Bedürfnis, «etwas Direktes und Konkretes zu tun», machten sich drei Luzerner Jungsozialisten auf nach Serbien. Schon die Hinreise entpuppte sich als Abenteuer, und der Einsatz hielt für die drei allerlei Turbulenzen bereit. Ein Gastbeitrag von unserem Blogger Nik Rigert.

Der Flüchtlingsstrom über die Balkanroute hält weiterhin an und beschäftigt die Menschen in Westeuropa momentan mehr als alles andere.

Obwohl nur ein Bruchteil der Flüchtlinge aus den Krisenherden in Syrien und Afghanistan überhaupt in Richtung Europa zieht, ist die europäische Politik überfordert mit der Situation. An unzähligen Orten kommt es zu humanitären Katastrophen. Viele NGOs und private Initianten können hier mit Mühe und Not Schlimmeres abwenden.

Kleider sammeln und transportieren

Im Dezember entschlossen wir in der JUSO Luzern, vor Ort selbst zu helfen. Als JUSO-Politiker beschäftigen wir uns viel mit der Thematik, doch meist auf theoretischer Ebene. Wir hatten das Bedürfnis, etwas Direktes und Konkretes vor Ort zu tun. Viele JUSO-Mitglieder haben fleissig bei der Organisation der Kleidersammlung mitgeholfen und auch selbst gespendet. Schlussendlich waren wir drei JUSOs, welche eine Woche Zeit für den Transport und die Hilfe vor Ort hatten. Alexander Imhof und Jonas Baum, beide 21, und ich, 24.

Die winterlichen Temperaturen machen die Flucht über die Balkanroute wesentlich härter und schwieriger, als sie ohnehin schon ist. Daher veranstalteten wir eine Sammelaktion für Winterkleidung und eröffneten ein Spendenkonto für die Transportkosten und die Lebensmittelbeschaffung vor Ort. Die Hilfsbereitschaft der Menschen war gross und wir konnten mehr Kleidung entgegennehmen, als wir zu transportieren in der Lage waren. Den Rest geben wir direkt den regionalen Asylzentren, da auch hier ein Bedarf an Winterkleidung vorhanden ist.

«Wir fuhren in einem klapprigen VW-Transporter los in Richtung serbisch-mazedonische Grenze.»

Am 10. Dezember ging’s los: Wir fuhren in einem klapprigen VW-Transporter los in Richtung serbisch-mazedonische Grenze. Im Vorfeld hatten wir mit einer privaten Hilfsinitiative, welche in Kooperation mit der deutschen Ärzteorganisation «Humedica» die Flüchtlinge auf ihrem Weg betreut, Kontakt aufgenommen und unsere Hilfe angekündigt.

Nachtschicht. Von links: Syrischer Flüchtling, Jonas Baum, Alexander Imhof, Syrischer Flüchtling, Nik Rigert.

Nachtschicht. Von links: Syrischer Flüchtling, Jonas Baum, Alexander Imhof, Syrischer Flüchtling, Nik Rigert.

(Bild: zvg)

Nächtlicher Überfall im Bus

Viele Zwischenfälle und Turbulenzen begleiteten uns auf der Reise. Eines Nachts wurden wir gar ausgeraubt: Wir schliefen im Transporter und am nächsten Morgen stellten wir fest, dass diverse Gegenstände währenddessen aus dem Fahrzeug gestohlen wurden. Wahrscheinlich wurde eine Art K.o.-Gas eingesetzt, wie wir später erfuhren. Ein mulmiges Gefühl. Ein Handy, eine Kamera, etwas Bargeld und unsere privaten Reisetaschen waren fort.

Besonders mühsam: Auch ein Portemonnaie mit ID war verschwunden, was uns auf dem Nachhauseweg einen Umweg über Belgrad bescherte. Aber glücklicherweise vergriffen sich die Diebe nicht an den Hilfsgütern. Der Zwischenfall war zwar nervenaufreibend, brachte uns aber nicht von unserem Vorhaben ab.

«Wahrscheinlich wurde eine Art K.o.-Gas eingesetzt, wie wir später erfuhren.»

Am Zielort – dem kleinen Dorf Miratovac in Südserbien – wurden die gesammelten Kleider und unsere Hilfe mit grosser Dankbarkeit angenommen. Die Situation in Miratovac sieht wie folgt aus: Die Flüchtlinge kommen mit dem Zug aus Mazedonien an der Grenze an, wo sie aussteigen müssen und kontrolliert werden. Anschliessend werden sie im Flüchtlingslager an der Grenze notdürftig versorgt. Wenn sie weiterziehen dürfen, müssen sie circa sechs Kilometer zu Fuss mit Gepäck nach Miratovac gehen, von wo aus Busse der UNO sie ins nächste Flüchtlingslager in Preševo bringen. Von Preševo aus geht die Reise weiter nordwärts an die kroatische Grenze.

Flüchtlinge bei der Ankunft von UN-Bussen in Miratovac.

Flüchtlinge bei der Ankunft von UN-Bussen in Miratovac.

(Bild: zvg)

Hilfe vor Ort

«Wo fahren die Busse?», war immer die erste Frage, wenn wieder eine neue Gruppe von Flüchtlingen bei unserem Posten ankam. Verständlicherweise waren sie immer sehr besorgt, sie könnten den Bus verpassen. Es war dann an uns, ihnen auf Englisch oder mit wenigen Brocken Arabisch zu erklären, dass die Busse am anderen Ende der Strasse rund um die Uhr und gratis verkehrten. Somit hatten die Flüchtlinge etwas Zeit, um sich mit Tee, Bananen, Multivitaminsaft, harten Eiern und weiteren Lebensmitteln zu verpflegen und sich etwas aufzuwärmen.

Zeitweise herrschen im serbischen Winter 15 Grad unter Null. Jeweils fünf Stunden bevor die ersten Menschen an unserem Standpunkt vorbeikommen würden, bekamen wir via SMS Bescheid, dass ein Zug an der griechisch-mazedonischen Grenze losgefahren war und wie viele Flüchtlinge sich darin befanden. Täglich passierten rund 2000 Personen Miratovac, welche von den fünf Freiwilligen – vier Deutschen und einem Israeli – und uns dreien versorgt wurden.

«Vieles geht einem durch den Kopf, wenn man den mit Peitschenhieb-Narben übersäten Rücken eines jungen Syrers sieht, der sich gerade im Kleiderlager umzieht.»

Wenn viele Leute auf einmal eintrafen, brach eine grosse Hektik aus. Wenn zehn Leute auf einmal neue Schuhe und Kleider brauchen, alle essen und trinken müssen und gleichzeitig die Ärzte alle Hände voll damit zu tun haben, die Kranken und Erschöpften zu versorgen, dann bleibt kaum noch Zeit zum Atmen.

Unter den Flüchtlingen waren hauptsächlich Afghanen und Syrer. Viele Alte und Erschöpfte, Familien mit kleinen Kindern, aber auch viele Junge, welche ihren Humor trotz all der Strapazen noch nicht verloren hatten. Viele hatten keine oder kaputte Schuhe an den Füssen und waren unglaublich dankbar, wenn wir sie mit neuen warmen Stiefeln ausstatteten.

Vieles geht einem durch den Kopf, wenn man den mit Peitschenhieb-Narben übersäten Rücken eines jungen Syrers sieht, der sich gerade im Kleiderlager umzieht. Was ist ihm wohl widerfahren? Was geschieht mit den Menschen, die noch in seiner Heimat leben? Was erwartet die Flüchtlinge in Europa?

Einheimische Taxifahrer wollen Profit schlagen

Zusätzlich zu der Arbeit mit den Flüchtlingen mussten wir vorsichtig sein, damit wir keine Probleme mit den regionalen Taxibanden kriegten. In Preševo und der Region herrscht extrem hohe Arbeitslosigkeit und teilweise grosse Armut. Sehr viele Arbeitslose, welche irgendwie Zugang zu einem Auto haben, fahren daher Taxi. Mit oder ohne Lizenz.

Für diese Taxifahrer können die Flüchtlinge zu einem lukrativen Geschäft werden. Bis zu 20 Euro bezahlen sie für die Fahrt von Miratovac nach Preševo, wenn die Taxifahrer den in der Kälte Wartenden glaubhaft machen konnten, dass kein Bus mehr kommen würde. Eine Einkommensquelle, die bei einem durchschnittlichen Monatslohn von 200 Euro unglaublich attraktiv ist.

«Für uns ist klar, dass es auf jeden Fall ein nächstes Mal geben muss. Dann wird es allerdings ein längerer Aufenthalt sein.»

Wir Freiwilligen hingegen, die wir den Flüchtlingen sagten, dass rund um die Uhr Busse gratis verkehrten, waren den lokalen Taxifahrern natürlich ein Dorn im Auge und mussten aufpassen, wo wir uns mit den Warnwesten aufhielten. Es ist eine sehr schwierige Aufgabe, Elend gegen Elend aufzuwiegen, doch uns lagen in diesem Moment die Bedürfnisse der Flüchtlinge mehr am Herzen, da sie sich im Gegensatz zur Lokalbevölkerung in einer akuten Notlage befanden.

Nik Rigert stattet ein syrisches Kind mit neuen Schuhen aus.

Nik Rigert stattet ein syrisches Kind mit neuen Schuhen aus.

(Bild: zvg)

«Nur ein winziges Puzzlestück»

Die anderen Freiwilligen waren vor unserer Ankunft extrem erschöpft und litten unter Schlafmangel. Mit unserer zusätzlichen Hilfe konnten wir eine Art Schichtbetrieb einführen, sodass alle mehr oder weniger ausreichend schlafen konnten. Es war schön zu sehen, dass unsere Aktion direkt etwas bewirkt hat, wenn auch nur im kleinen Rahmen. Denn nach drei Tagen mussten wir bereits wieder abreisen – zu Hause wartete die Arbeit.

Unser Einsatz war nur ein winziges Puzzlestück im ganzen System der Helfenden, ein Tropfen auf den heissen Stein, dessen sind wir uns bewusst. Trotzdem sind wir froh, dass wir helfen konnten. Für uns ist klar, dass es auf jeden Fall ein nächstes Mal geben muss. Dann wird es allerdings ein längerer Aufenthalt sein.

Auch auf der Heimreise wurden wir von Strapazen nicht verschont: Auf der Autobahn kam es zu einem Unfall; der VW-Transporter geriet ausser Kontrolle und schlitterte aus der Fahrbahn auf den Pannenstreifen, wo er die Leitplanke touchierte. Zum Glück wurde niemand verletzt und es blieb bei einem Blechschaden.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Pirelli
    Pirelli, 26.01.2016, 16:07 Uhr

    Danke für den Einsatz und den Bericht!

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