Mit Down-Syndrom auf Welttournee

«Wenn ich Lampenfieber habe, trinke ich ganz viel Kaffee»

Einer machts vor, der andere spiegelt die Bewegung. (Bild: wia)

Fabienne Villiger ist Schauspielerin. Sie probt täglich, jettet regelmässig um die Welt, steht überall auf der Bühne, mal in London, mal in Hamburg, gerade erst in Singapur. Klingt nach Weltstar. Ist sie auch, irgendwie. Einfach ohne Starallüren.

Fabienne ist die Tochter des Zuger Regierungsrates Beat Villiger. Sie hat zwar ein Down-Syndrom, ihre Karriere steht der ihres Vaters jedoch kaum nach. Sie spielt im Theater Hora mit – einem Theater, in dem ausschliesslich Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen dabei sind. Und eines, das besonders in den letzten Jahren weltweit für Schlagzeilen gesorgt hat.

Kaffee, Musik, Mittagsschlaf

Wir treffen Fabienne an ihrem Arbeitsplatz, im Backstein der Roten Fabrik in Wollishofen, wo sie täglich mit einem Dutzend anderer Schauspieler probt. Gerade ist Mittagspause, die Gruppe sitzt im Pausenraum, einer Galerie, von der man hinunter in den Proberaum sieht. Es ist still. Still genug, dass eine der Schauspielerinnen auf einer Matratze eingeschlafen ist.

Die anderen trinken Kaffee, schreiben Wörter auf, hören Musik ab IPod. «Am Mittag müssen wir hier oben ruhig sein», erklärt Fabienne. Sie ist, wie sie selber erklärt, ganz nervös, weil wir ein Interview mit ihr führen wollen. Es ist viertel vor zwei. Die Proben gehen weiter. Die Schauspieler machen sich auf den Weg zum Proberaum. Fabienne darf noch ein wenig oben bleiben und erzählen.

«Bevor ich angefangen habe, Theater zu spielen, war ich manchmal traurig, weil ich das Down-Syndrom habe.»

Fabienne Villiger, Schauspielerin beim Theater Hora

Die Baarerin ist 1992 geboren und seit 2012 beim Theater Hora dabei – zuerst als Praktikantin, mittlerweile als ausgebildete Schauspielerin. Und es gefällt ihr. Und wie! Fabienne erzählt: «Bevor ich angefangen habe, Theater zu spielen, war ich manchmal traurig, weil ich das Down-Syndrom habe. Doch dann habe ich in Baar eine Aufführung des Theater Hora gesehen und gleich gewusst: Das möchte ich auch machen.»

Mit DJ Ötzi gegen das Heimweh kämpfen

Und Theater, das ist genau ihr Ding, wie sich zeigt. Das Proben, die Leute, die Aufführungen und das Reisen liegen ihr. Auch, wenn man dafür manchmal lange von zuhause weg muss. «In Singapur hatte ich schon etwas Heimweh. Dort waren wir drei Wochen», erklärt Fabienne. Doch sie kennt ein Rezept dagegen. 

«Ich höre dann Schlagermusik. Am allerliebsten DJ Ötzi, Leonard, Beatrice Egli und Helene Fischer.» Ein unkonventionelles Rezept gegen Lampenfieber hat Fabienne auch gefunden. «Ich esse Früchte und trinke ganz viel Kaffee.»

Jeden Morgen macht sie sich zuhause bereit, nimmt selbstständig den Zug von Baar nach Wollishofen, fährt von dort mit dem Bus zur Roten Fabrik zum Proberaum des Theater Hora. Etwa sechs Stunden lang probt die Theatergruppe täglich unter der Leitung einer Regisseurin oder eines Regisseurs.

Bitte einmal spektakulär sterben

An diesem Tag hat Nele Jahnke das Kommando. Fabienne hat sich mittlerweile dazugesellt. Gerade stirbt jemand auf der Bühne, und das höchst spektakulär – schreiend, röchelnd, zuckend. Zwei Schauspieler sind die Mörder, sie töten mit ihren Blicken, wer ihnen gerade so in die Quere kommt. Die Überlebenden müssen derweil rausfinden, wer die verkappten Mörder sind. Wer falsch tippt, gibt den Löffel ebenfalls ab.

Julia ist gestorben, macht aber Anstalten, bereits wieder aufzustehen. «Die Toten stehen nicht auf», befiehlt Nele. «Ich sitze ja nur», kontert Julia. Auch Fabienne stirbt, theatralisch, mit integriertem Kniefall.

Das Ganze wird untermalt von Nohas bizarren Cello-Klängen. Zwei Instrumente stehen zur Verfügung. Jeder, der will, darf mal sägen, schrummen, zupfen und klopfen. Erstaunlich, wie die musikalischen Einlagen bestens zu den gespielten Szenen passen.

«Ich habe nicht das Gefühl, dass wir die Behinderten permanent schützen müssen.»

Nele Jahnke, Regisseurin beim Theater Hora

Das Töten und Sterben ist nicht umsonst. Momentan befasst sich das Theater Hora nämlich mit Hitchcock-Filmen.

Und da werden auch mal grausige Filmausschnitte gezeigt. Ist das nicht etwas heftig? «Ich habe nicht das Gefühl, dass wir die Behinderten permanent schützen müssen», sagt Nele. «Einige der Schauspieler gucken in ihrer Freizeit viel brutalere Filme, andere schauen bei den Szenen halt weg.»

 «Hä-Hä-Hä-Heinz!»

Etwas später wird improvisiert, Bewegungslawine heisst die Übung. Ein erster Schauspieler setzt sich auf die Bühne. «Eins!», sagt er, und macht eine Geste dazu. Mehr und mehr Leute gesellen sich zu ihm und führen das Angefangene weiter. Aus «Eins!» wird «Heiss!», dann «Heinz», «Hä-hä-hä-Heinz», «De Heinz isch Drüü», «Drüü», und als wäre das Ende bereits beschlossen, rufen alle auf einmal im Chor: «Drüü.» Es wird ruhig. «Vier!». «Null». Fertig.

«Da merkt man schon, dass Profis auf der Bühne sind.»

Nele Jahnke, Regisseurin beim Theater Hora

Irgendwie wartet man stets darauf, dass die Schauspieler sich verzetteln, kein Ende finden und ewig weiter machen müssen. Doch nichts dergleichen. Immer finden sie einen Schluss, und immer ist dieser überraschend. «Da merkt man schon, dass Profis auf der Bühne sind», erklärt Nele lakonisch.

Wie kommt man denn eigentlich dazu, mit Behinderten Theater zu machen? «Ich habe in Zürich Regie studiert und dann ein Theaterstück gesehen von Christoph Schlingensief, das von Behinderten umgesetzt wurde. Da gingen für mich Welten auf», sagt Nele.

Mit Kettenrauchern wird es schwierig

Denn bei solcher Art Theater gehe es nicht etwa darum, möglichst ordentlich zu reden, «denn sie reden halt wie sie reden.» Vielmehr gehe es um die Eigenheiten jedes einzelnen. Mitmachen dürfen eigentlich alle. «Probleme gibt es dann, wenn Schauspieler autoaggressiv sind oder sich schlecht in die Gruppe integrieren können.

Oder wenn jemand beispielsweise Kettenraucher ist. Dann wird es schwierig, wenn wir auf der Tournee lange fliegen müssen.» Auch sei es unmöglich, eine Eins-zu-Eins-Betreuung zu leisten. «Jeder ist selber dafür verantwortlich, dass er beispielsweise seinen Koffer mitnimmt. Man merkt während solcher Reisen, wie die Schauspieler immer autonomer werden, da sie viel Verantwortung haben.»

«Das ist mein Freund Gianni.»

Fabienne Villiger, Schauspielerin beim Theater Hora

Warum sind wir fasziniert ab dieser Art Theater? Warum zahlen Menschen, um es zu sehen?

«Ich nehme an, es ist diese Selbstvergessenheit, welche der Zuschauer so schätzt. Weil sie berührende, erschreckende, sonderbare Dinge auf den Bühnen erfinden. Und weil sie unmittelbar sind.» Während der Nachmittagspause kommt Fabienne vorbei, einen Schauspieler im Schlepptau: «Das ist mein Freund Gianni», sagt Fabienne stolz und besiegelt die Aussage mit einem Kuss.

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