Luzernerin im Einsatz an der Ungarischen Grenze

Ohnmacht und Verzweiflung

Die Lage an der Grenze ist unübersichtlich und überfordernd für alle Beteiligten. (Bild: Sarah Spiller - zvg)

Im beschaulichen Luzern spürt man nichts von der humanitären Krise, die sich an der EU-Grenze abspielt. Nato-Draht und erschöpfte Flüchtlinge, Tränengas und Wasserwerfer sind weit weg. Doch eine Luzernerin ist als freiwillige Helferin vor Ort und erlebt das Elend hautnah.

Die Luzernerin Eliane Amstad sitzt im Auto auf dem Weg nach Kroatien, als wir sie erreichen. Sie und eine handvoll Helfer aus der Schweiz wollen an die Grenze, um den Flüchtlingen zu helfen. Nur fünf Tage war sie zuhause, nach ihrem ersten Einsatz an der Ungarischen Grenze. Die Rückkehr nach der kurzen Zeit in Ungarn sei eigentlich nicht geplant gewesen, aber gut für die Helferin war es allemal. Um sich zu erholen.

Die Helfer sind Studenten, Selbstständige oder Erwerbslose. «Alles Leute, die es sich einrichten können, auf unbestimmte Zeit weg zu sein», erklärt Amstad, die bis vor kurzem bei der Caritas angestellt war und sich in Luzern für Asylsuchende und Menschen in der Nothilfe engagiert. Doch ihr Einsatz für Flüchtlinge geht nun über die Landesgrenzen hinaus.

Einsatz auf unbestimmte Zeit

Über den Aufruf einer NGO kam Amstad zu der Gruppe von Helfern, mit welchen sie nun unterwegs ist. «Ich hatte sowieso den Plan, an die Grenze zu gehen, aber es wäre extrem schwierig gewesen, sich alleine zu organisieren und zurechtzufinden», sagt sie.

Doch wohin es jetzt genau geht, ist unklar. Ebenso, wie lange sie bleiben werden. «Die Situation ändert sich fast stündlich. Wir haben keine Ahnung, wie es ablaufen wird. Vielleicht werden wir uns auch dem Roten Kreuz anschliessen, da in dem einen Camp alle anderen NGO’s weggeschickt wurden», so Amstad. Und auch die Anzahl der Helfer vor Ort ist unklar, erklärt sie: «Wir sind sechs Leute aus der Schweiz, vor Ort aber ungefähr 25 Personen.» In Ungarn waren acht Schweizer mit dabei.

Wichtig ist die Präsenz

Am 11. September hatten sich diese in Richtung Röszke, Ungarn, aufgemacht. Dort befand sich bis zur Grenzschliessung am 14. September ein riesiges, von NGO’s und Freiwilligen errichtetes Zeltdorf. Im Zeltdorf wurde den ankommenden Menschen Kleidung, Essen, Hygienartikel, medizinische Versorung, Gratis WIFI, Handyladestationen und warmer Tee angeboten. «Es gibt einen riesigen Bedarf an Helfern», sagt die 28-jährige Luzernerin. Auch die Entsorgung von Abfall ist Thema. «Ich war vor allem beim Zelt mit Tee, Kaffe und der Wifi- und Ladestation mit Solarpanels eingeteilt», so Amstad.

«Was ist wohl mit dem Jungen passiert, dessen schmutziges Gesicht ich mit einem Feuchttuch abgewischt habe?»

Wichtig sei aber vor allem die Präsenz vor Ort. «Wir zeigen den Leuten, dass es uns interessiert. Wir bringen ihnen ein Stück Menschlichkeit entgegen», sagt Amstad und ergänzt: «Die rechte Ungarische Regierung lässt die Situation kalt. Sie bot vor Ort keinerlei Unterstützung, versorgte nicht einmal die eigenen Polizeieinheiten mit Dolmetschern, geschweige denn mit Essen.»

Erholung wider Willen

Der Einsatz geht Nahe. «Man muss das Erlebte verarbeiten können», betont Amstad. Auch deshalb schlafen die freiwilligen Helfer immer einige Kilometer von den Camps entfernt. «Wir arbeiten im Schichtbetrieb, neun Stunden. Aber es gibt immer noch so viel zu tun.» Man könne und wolle kaum aufhören. «Aber es ist wichtig, ab und zu wegzugehen, sich zu erholen und zu reflektieren, sonst macht man das nicht lange mit.»

Die Situation in Luzern

Im Kanton Luzern waren Ende August 2015 insgesamt 1082 Asylbewerber registriert.

Juni: 867
Juli: 958

In einem sehr persönlichen Text verarbeitet sie ihren ersten Hilfseinsatz an der Grenze und beschäftigt sich mit der Diskrepanz des Einsatzes und des Alltags zuhause.

«Ich liege unter einer warmen Decke in meinem Bett. […] Meine Mitbewohnerin kommt zu mir ins Zimmer. Gehts dir gut? – Ja, alles gut, alles gut. Sie umarmt mich. Alles gut. Du schaust nicht die ganze Zeit Nachrichten, oder? – Nein nein, ich schaue jetzt nur noch ein letztes Mal, was in Ungarn läuft, dann schalte ich meinen Laptop aus. Meine Mitbewohnerin verlässt das Zimmer.

Ich stehe auf, mir ist schwindlig, schliesse das Fenster und lege mich wieder ins Bett. Was wohl mit dem kleinen syrischen Mädchen passiert ist, dem ich einen improvisierten aufgeblasenen Plastikhandschuh-Ballon in die Hände gedrückt habe? Ob es die Familie an die Österreichische Grenze geschafft hat? Ob sich der starre, teilnahmslose Blick des Mädchens in den vergangenen Tagen je einmal in ein Lächeln aufgelöst hat? Der letzte offene Grenzübergang zwischen Ungarn und Serbien wurde vor wenigen Tagen geschlossen. Wir haben uns entschieden, Röszke zu verlassen und zurück in die Schweiz zu fahren.»

«Was ist wohl mit den beiden Mädchen passiert, welche in Röszke so sehr über meine Seifenblasen gelacht haben? Und mit dem Jungen, dessen schmutziges Gesicht ich mit einem Feuchttuch abgewischt habe?»

«Zwei Flüchtlinge wurden nach Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas durch die ungarische Polizei schwer verletzt. Die neuen Fluchtrouten führen über Kroatien, über Minenfelder aus dem letzten Krieg. Ungarn möchte nun auch Teile der kroatischen Grenze mit messerscharfem Nato-Stacheldraht absichern. […] Die Ungarischen Behörden sprechen nie von Flüchtlingen, sondern immer von Migranten, zunehmend von Terroristen.»

Flüchtlinge und Helfer werden krank

Nicht nur psychisch, auch körperlich ist der Einsatz für die Helfer belastend. «Viele der Helfer, die in Ungarn dabei waren, sind krank geworden. Die hygienischen Zustände im Camp waren extrem schlimm. Viele der Flüchtlinge und auch der Helfer hatten Fieber oder Durchfall.»

«Tränen kullern meine Wangen runter. Ich möchte mich bei den Menschen auf der anderen Seite entschuldigen.»

«Ich erinnere mich an den 15. September, den Tag nach der Grenzschliessung. Mit einer Gruppe von Freiwilligen begebe ich mich an diesem heissen, schwülen Spätsommertag an den inzwischen verschlossenen Grenzübergang. Zwei Polizisten stehen vor der Stacheldraht-Mauer, ein Journalist mit Kameramann und Mikrofon gewappnet, möchte sich einen letzten Eindruck vor Ort verschaffen. Die letzten offenen Meter Grenze wurden mit einem mit Stacheldraht übersäten Zugwagon verschlossen. […] Wir bleiben einige Minuten stehen, schauen uns um. Nichts. Einzig weggeworfene Kinderschuhe, Wasserflaschen und Tshirts zeugen von den Menschenmassen, welche die Grenze hier in den letzten Wochen überquert haben müssen. Plötzlich sehen wir aus weiter Ferne zuerst ein, dann zwei, dann immer mehr Menschen der Zugschiene entlang auf uns zukommen. Und plötzlich stehen sie da. Vor verschlossenen Türen. Fünfzig erschöpfte Menschen, welche Wochen und Monate der Flucht aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern hinter sich haben. Mehrere Familien mit Kleinkindern. Ein alter Mann, der barfuss unterwegs ist, setzt sich erschöpft auf die Schiene. Die Verzweiflung ist den Menschen anzusehen. Die Grenze geschlossen? Please, can you open the border, wendet sich ein junger Mann in meinem Alter verzweifelt an den Polizisten auf der anderen Seite.

Obwohl uns nur wenige Meter trennen, sind die Menschen auf der anderen Seite des Stacheldrahtes doch unglaublich weit entfernt. Die gesamte Ungerechtigkeit der Welt scheint mir auf diesen Punkt reduziert. Tränen kullern meine Wangen runter. Ich möchte mich bei den Menschen auf der anderen Seite entschuldigen, ich möchte sie in die Arme schliessen und sie sicher über die Grenze begleiten. Ich bin unsäglich traurig, ein Gefühl der Verzweiflung, ein Gefühl der Ohnmacht übermannt mich. Ich giesse mir noch einmal eine Tasse Tee ein. Ich schaue aus dem Dachfenster, der Himmel ist immer noch grau. Europe your humanity is lost!»

Ein paar Eindrücke aus dem Einsatz an der Ungarischen Grenze finden Sie in der Slideshow:

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