Monatsinterview mit Rolf Schweiger

«Für tiefere Wohnungspreise ärmer zu werden, ist nun wirklich das Falscheste»

Keine Altersmilde: Rolf Schweiger, Zuger Alt-Ständerat (FDP), ist auch mit 69 Jahren noch engagierter Verfechter einer liberalen Wirtschaftsordnung. (Bild: Flavia Rivola)

Rolf Schweiger galt lange Jahre als einer der einflussreichsten Schweizer Parlamentarier. Seit seinem Rückzug aus dem Ständerat 2011 zieht der frühere FDP-Präsident seine Fäden im Hintergrund. Wir sprachen mit dem engagierten Vertreter der Zuger Wirtschafts- und Steuerpolitik über seinen langsamen Abschied aus der Politik, den Wandel in Zug, Steuern und das Image des Wirtschaftskantons.

zentral+: Herr Schweiger Sie sind Baarer. Im Kanton Zug gibt es ja das Projekt von 1’000 Chriesibäumen. Haben Sie auch schon einen gepflanzt?

Rolf Schweiger: Selber gepflanzt noch nicht. Ich bin Götti von einigen Chriesibäumen. Aber fragen Sie mich nicht von wie vielen. (lacht)

zentral+: Chriesibäume stehen ja für ein Zug, das es früher gab und wie es sich viele Zuger zurückwünschen. Hat die Beteiligung an diesem Projekt für Sie einen nostalgischen Hintergrund?

Schweiger: Jeder Mensch hat in Bezug auf seine Umgebung nostalgische Züge. Das heisst aber nicht, dass man Nostalgie quasi zum einzigen Beurteilungskriterium des eigenen Kantons machen sollte. Sie sollte immer auch in die neu entstandenen Realitäten eingebettet sein.

zentral+: Um Sie ist es recht ruhig geworden in der Öffentlichkeit. Wirken Sie heute stärker im Hintergrund als das früher der Fall war? Oder haben Sie sich ganz zurückgezogen?

Zur Person

Rolf Schweiger vertrat den Kanton Zug von 1999 bis 2011 im Ständerat. Der umgängliche Baarer ist Verfechter einer liberalen Wirtschaftspolitik und galt lange Zeit als einer der einflussreichsten Schweizer Parlamentarier. Aktuell verfügt Schweiger noch über acht Verwaltungsrats-Manadate, unter anderem bei Roche Diagnostics, Schindler und der Hochdorf Holding. Daneben ist der 69-Jährige in verschiedenen politischen Organisationen tätig, so im Vorstand von economiesuisse, als Präsident der fial (Föderation der Schweizerischen Nahrungsmittelindustrien) sowie als Präsident der AVES (Aktion für eine vernünftige Energiepolitik).

Im April 2004 übernahm Schweiger das Präsidium der FDP Schweiz. Nur ein halbes Jahr darauf musste er dieses wieder abgeben und seine Aktivitäten wegen eines Zustandes des Ausgebranntseins für zwei Monate ruhen lassen. Durch die offene Kommunikation gilt er als erster Burnout-Promi der Schweiz.
Schweigers politische Tätigkeit begann 1970 im Zuger Kantonsrat, dem er mit einem zweijährigen Unterbruch bis 1994 angehörte. Er ist seit 1976 Partner beim Anwaltsbüro Schweiger Advokatur / Notariat, das zwölf Rechtsanwälte umfasst.

Schweiger: Sobald man nicht mehr Mitglied eines Parlaments ist, ist man zwangsläufig nicht mehr gleich in der Öffentlichkeit präsent. Ich nehme auf nationaler Ebene noch Mandate wahr, die im Grenzbereich von Politik und Wirtschaft spielen. So bin ich im Vorstand der economiesuisse und da in mehreren Fachkommissionen. Als Präsident der Schweizerischen Nahrungsmittelindustrie entstehen so vielerlei Kontakte zu Parlamentariern und Verwaltung, wie eben bei der Swissness-Debatte. Für kurze Zeit bin ich zudem noch Präsident der Aktion für eine vernünftige Energiepolitik AVES und vertrete da andere Standpunkte, als diese im medialen Mainstream vorkommen.

zentral+: Damit meinen Sie die Sicht, die Bundesrätin Doris Leuthard mit dem Ausstieg aus der Atomenergie vertritt?

Schweiger: Richtig, ja. 

zentral+: Vollblutpolitikern fällt der Rückzug aus der Politik häufig schwer. Demnach trifft dies derzeit (noch) nicht auf Sie zu?

Schweiger: Wenn meine Aktivitäten auf ein absolutes Null absinken würden, würde mir wahrscheinlich schon etwas fehlen. Ich aber empfinde meinen Positionswechsel vom aktiven Mittendrin zu einem Player, der je nach dem mit oder dann wieder gegen die aktuelle Politik agiert, als einen völlig neuen Lebensaspekt, dem ich viel Positives abgewinnen kann. Positiv ist aber auch, daneben mehr Freiräume und Freizeit zu haben. Die Mischung von beidem macht ein Leben aus, das mir gefällt. Ich war etwa gerade wieder drei Wochen in China, dies nicht primär wirtschaftspolitisch motiviert, sondern vorab um die Dynamik zu sehen, mit welcher China sich in verschiedener Hinsicht verändert hat. Um diese Dynamik zu wissen und sie zu spüren, ist nicht zuletzt für die Ausgestaltung unserer Beziehungen zu dieser neuen wirtschaftlichen Weltmacht geradezu zentral.

zentral+: Sie werden in ein paar Wochen 69 Jahre alt. Beziehen Sie schon AHV? Oder lässt sich das unendlich hinauszögern?

Schweiger: (lacht) Ja, man kann es aufschieben. Aber als die Rente gekommen ist, habe ich sie genommen. Seit vier Jahren bin ich nun also AHV-Rentner.

«Der Zeitpunkt kommt, in welchem ein Rückzug aus meinen verschiedenen Aktivitäten zu passieren hat»

zentral+: Das dürfte eine ungewohnte Kombination sein – Rentner und Rolf Schweiger.

Schweiger: Ja schon. Ich selber stufe mich persönlich noch nicht als Rentner oder als jemand ein, der schon jetzt die Musse des Rentnerdaseins geniessen will. Dabei bin ich mir aber sehr wohl bewusst, dass der Zeitpunkt kommt, in welchem ein Rückzug aus meinen verschiedenen Aktivitäten ‑ salopp gesagt ‑ zu passieren hat, je langsamer, desto besser. Das zu akzeptieren ist eine Notwendigkeit, die ich übrigens in keiner Weise als Schwäche empfinde.

zentral+: Arbeiten Sie noch zu 100 Prozent?

Schweiger: Ja, mein Normal-Pensum liegt nahe bei 100 Prozent. Ich aber habe mir vorgenommen, dass ich zukünftig viermal pro Jahr je drei Wochen ins Ausland verreisen will. Nach China, Indien, Malaysia, Brasilien, den USA interessieren mich Afrika, der Maghreb, der mittlere Osten und immer wieder Asien. Der Drang zum Öffnen meiner Horizonte und die Auseinandersetzung mit immer Neuem und Anderem ist intensiver geworden als dies während meines aktiven Politisierens der Fall war. Zwar bin ich schon damals viel gereist, zumeist aber eingebettet in politische Zwänge. Nun kann ich das machen, was mich persönlich interessiert, und das ist faszinierend.

zentral+: Ein Stück Freiheit.

«Jetzt kann ich mich wieder als Rolf Schweiger mit all seinen Facetten geben»

Schweiger: Ja natürlich. Alles, was man unter dem Begriff Freiheit subsummieren kann, ist bedeutend grösser geworden. Ich bin jetzt weniger in das Korsett meines parlamentarischen Mandates oder meiner Parteizugehörigkeit eingeschnürt. Jetzt kann ich mich wieder als Rolf Schweiger mit all seinen Facetten geben, ohne grössere Rücksichten nehmen zu müssen. Das bedeutet allerdings nicht, dass ich zum Beispiel in den Verwaltungsräten von Schindler, Hochdorf und Roche Diagnostics nun als ein ‑ von der Realität völlig losgelösten ‑ Fantast gesehen werde – im Gegenteil. Doch die breite Palette zwischen dem Agieren in wirtschaftlich und politisch existierenden Realitäten auf der einen Seite und dem Sinnieren für Zukünftiges auf der anderen Seite ist es, was heute den Charme meines Lebens ausmachen.

Es wird schwieriger, sich als Politiker Gehör zu verschaffen

zentral+: Als Sie sich aus der Politik, dem nationalen Parlament, zurückzogen, beklagten Sie eine zunehmend irrationale Grundstimmung in der Politik und dass es immer schwerer falle, sich Gehör zu verschaffen. Sie sind heute immer noch an der Schnittstelle zur Politik tätig. Spüren Sie die heute noch in gleichem Masse, oder sogar verstärkt?

Schweiger: Nach wie vor. Unter irrational verstehe ich einerseits die Überbetonung dessen, was man selbst glaubt zu sein; andererseits das Ausblenden der Tatsache, dass die Welt immer komplexer wird und als Drittes die Tendenz, unsere nationalen Befindlichkeiten zu einem absoluten Ideal emporstilisieren zu wollen. Wir aber sollten auf dem Boden der Realitäten bleiben, denn nur mit einem Einbezug in die Vielfalt der Welt als Ganzes können wir unsere Positionen beibehalten und stärken. Das aber setzt voraus, dass wir auch bereit sind, internationale Massstäbe zu akzeptieren und nicht zu glauben, zum Beispiel in Initiativen internationale Gepflogenheiten ausblenden zu können.

«Man ist in der Schweiz geradezu versessen, die eigenen Ideale zur weltweiten Norm hochzustilisieren»

zentral+: In welchen Bereichen stellen Sie diese Haltung besonders fest?

Schweiger: Beispielsweise, dass man Wertvorstellungen, die man in der Schweiz als richtig ansieht, als weltweites Ideal betrachtet und glaubt, man müsse damit die Welt beglücken. Das ist eine totale Überschätzung dessen, was die Schweiz letztendlich eben doch ist, nämlich klein. Wir machen es zwar sehr clever, aber die Schweiz ist nicht derjenige Motor, welcher der Welt vorzugeben hat, was zu laufen hat. Das wird in Bern zu wenig realisiert. Man ist geradezu versessen, die eigenen Ideale zur weltweiten Norm hochzustilisieren.

zentral+: Meinen Sie damit eher unsere basisdemokratischen Werte oder wirtschaftliche Ideale?

Schweiger: Es spielt auf allen Ebenen eine Rolle. Es fängt an bei unseren Vorstellungen von Umweltpolitik, unseren Vorstellungen von Sozialpolitik, von Moral, Ethik und anderem mehr. Für uns ist es relativ einfach zu sagen, dass unsere Vorstellungen Massstäbe für andere sein sollten. Wir nämlich können es uns leisten, hohe Sozial- und Umweltstandards zu erfüllen. Aber wir dürfen nicht so tun, als ob der Massstab, den wir uns setzen, schon jetzt zwingend gleichsam zum internationalen Standard werden soll. Wir müssen bereit sein zu akzeptieren, dass es für andere nicht oder noch nicht möglich ist. Uns als Krone der Schöpfung emporstilisieren zu wollen, ist eine falsche Optik.

zentral+: Sie haben auch kurzfristiges Denken in der Politik festgestellt. Dieses hat zuletzt ja eher Überhand genommen. Sind Sie froh, dass Sie den Ausstieg aus der Politik noch geschafft haben?

Schweiger: Ich habe dies ja in einem gewissen Umfang antizipiert und ein Missbehagen schon in den letzten vier Jahren meiner Parlamentszeit gespürt. So gesehen war mein Rücktritt auch deswegen ein für mich richtiger Entscheid.

«Zug hat schon immer einen sehr speziellen Weg gesucht und gefunden»

zentral+: Glauben Sie, dass die Medien die Politik mitsteuern oder umgekehrt: Steuert die Politik die Medien?

Schweiger: Medien spielen in der Politik eine zentrale Rolle. Neuer aber ist, dass selbst Tagesaktualitäten vermehrt aufgebauscht und oft vernichtend kommentiert werden. So werden Zerrbilder unseres Staates oder von Teilen davon bewirkt, die so nicht stimmen. Kritik darf und muss sein. Durch übertriebene und unsachliche Kritik erzeugte Zerrbilder und Verabsolutierungen wird vor allem dann, wenn sie unermüdlich wiederholt werden, das Vertrauen in den Staat und dessen Institutionen unterminiert. Eine Folge davon ist beispielsweise, dass Politiker zu sein immer uncharmanter wird und fähige Kräfte von einer Politkarriere abgehalten werden.

«Viele Medien sind fast panisch darauf bedacht, ja keine Positionen zu übernehmen, die von der Allgemeinheit nicht geteilt werden»

zentral+: Sie sprechen damit eine gewisse Verantwortungslosigkeit der Medien an, zugunsten einer einfachen, guten Schlagzeile. Worauf führen Sie dies zurück, auf die zunehmenden Medienmonopole?

Schweiger: Ich stelle einen vermehrten Trend der Gesamtmedien zu Meinungsmonopolisierungen fest. Damit meine ich den Umstand, dass viele Medien fast panisch darauf bedacht sind, ja keine Positionen zu übernehmen, die von der Allgemeinheit –  vermeintlich – nicht geteilt werden. So schaffen und unterhalten Medien Meinungen nur deshalb, um möglichst nicht gegen den allgemeinen Mainstream Position beziehen zu müssen.

Der mediale Mainstream ist nach meiner Beurteilung gewaltig geworden. Zwar gibt es einzelne Medien, die ganz bewusst gegen den Mainstream schreiben. Aber da erschöpft sich die Fantasie dieser Medien vielfach darin, ja möglichst gegen den Mainstream zu sein. Das aber ist wiederum eine Art Mainstream. Was ich vermisse, sind Beiträge, die den Lesern eine profunde und fundierte Meinungsbildung auch jenseits des Mainstreams erlauben.

zentral+: Sie stellen eine Polarisierung der Medien und Politik fest. Ähnliches spielt sich auch in der Zentralschweiz ab. Die Region war ja noch nie der homogene Raum, wie von aussen wahrgenommen. Dennoch erhält man den Eindruck, dass Zug und Luzern immer weiter auseinander driften. Haben Sie dies auch wahrgenommen, als Sie noch in der Politik tätig waren?

Rold Schweiger

«Zug hat schon immer einen sehr speziellen Weg gesucht»

Schweiger: Ich weiss nicht, ob das eine so kurzfristige Entwicklung ist. Aus meiner Sicht – und ich war ja sehr lange auch in der kantonalen Politik tätig – hat Zug schon immer einen sehr speziellen Weg gesucht und gefunden. Die Erklärung hiefür ist eigentlich eine sehr einfache: Luzern hat in seiner Geschichte immer eine recht grosse Bedeutung gehabt, währenddessen Zug historisch schon von der Grösse her eher von marginaler Bedeutung war. Die Zuger haben sich kurz nach dem zweiten Weltkrieg gesagt, wir wollen aus dem heraus, wir müssen etwas Neues machen, das uns sowohl von Zürich als auch von Luzern abhebt.

Das passierte mit einer radikalen Steuerreform und damit sind wir anders geworden. Dies hatte auch Auswirkungen auf unsere Mentalität. Unsere Verwaltung ist relativ kompetent, um sich in einem internationalen Umfeld zu bewegen. Das ganze Dienstleistungsdenken in Zug ist ein anderes. Wir sind nicht der herrschende Staat, sondern primär zum Wohl der Bürger da und damit auch zum Wohl der in der Wirtschaft tätigen Bürger. Seit ein paar Jahren sagt Luzern nun auch, dass die Zuger Strategie gar nicht so dumm gewesen sei und versucht, sich Zug anzunähern.

«Wir finden Luzern sehr schön. Wenn es aber ums Geschäftliche geht, spielen andere Regionen für Zug eine grössere Rolle»

zentral+: Sehen Sie denn überhaupt ein Bedürfnis, dass sich die beiden Regionen wieder finden sollten?

Schweiger: Ich bezweifle, dass das von Zug her gewünscht ist. Die Zürcher Optik und die Art, wie Zürich mit der internationalen Welt umgeht, liegt uns bedeutend näher. Darum sind auch die wirtschaftlichen Beziehungen mit Zürich stärker als mit Luzern. Mit anderen Worten: Ändern würde es sich nur dann, wenn sich Luzern im Denken und Handeln stärker an Zug annähern würde, als umgekehrt. Wir finden Luzern sehr schön und gehen da auch gerne in den Ausgang. Wenn es aber ums Geschäftliche geht, spielen andere Regionen eine grössere Rolle.

zentral+: Gleichzeitig möchte sich Luzern stärker als Zentrum positionieren. Wie will das gelingen, wenn nicht mit einer verstärkten Kooperation mit Zug?

Schweiger: Luzern muss sich entscheiden. Ich bin gar nicht etwa eifersüchtig, wenn Luzern nun Anstrengungen unternimmt, in der Welt wirtschaftlich ebenfalls punkten zu wollen. Logisch entsteht dadurch eine gewisse Konkurrenz. Aber meine Erfahrung lehrt mich, dass ein Land als Ganzes umso erfolgreicher wird, je mehr Regionen erfolgreich in gleichen Bereichen tätig sind.

zentral+: Das heisst, wenn Luzern das Alleinstellungsmerkmal, das sich Zug mit der Steuersenkung geschaffen hat, kopieren will, hilft das auch dem Kanton Zug?

Schweiger: Die Schweiz wird international als Einheit wahrgenommen. Logisch weiss man, dass es Zürich, Zug und Genf und so weiter gibt. Aber letztlich ist es doch das Image des ganzen Landes, das für Standortentscheide international tätiger Unternehmen massgebend ist.

«In der Regel aber ist es nicht so, dass bei einem Erfolg Luzerns Firmen von Zug nach Luzern ziehen würden»

zentral+: Sie glauben also, dass Luzern mit den radikalen Steuersenkungen der letzten Jahre erfolgreich sein kann?

Schweiger: Das ist durchaus möglich. In der Regel aber ist es nicht so, dass bei einem Erfolg Luzerns Firmen von Zug nach Luzern ziehen würden. Ein Zuzug erfolgt vielmehr durch Firmen, die im Ausland auf die Schweiz aufmerksam werden und sich irgendwo bei uns niederlassen wollen. Die permanente Angst, es könnte einem jemand etwas wegnehmen, ist für mich eine grundsätzlich falsche Einstellung. Auch ich persönlich als Anwalt bin nicht verärgert, wenn jemand ein neues Anwaltsbüro aufmacht. Wenn er besser ist, hat er dies auch verdient. Entscheidend aber ist, dass Konkurrenz mich zwingt, selbst besser werden zu müssen.

zentral+: Stichwort Angstmache: Wir haben drei Einwanderungsinitiativen vor uns. Der Kanton Zug ist sehr dicht besiedelt. Man hört auch immer wieder, dass der hohe Ausländeranteil zu Problemen führt. Haben Sie Bedenken, dass einer der Vorstösse angenommen wird? 

Schweiger: Diese Bedenken habe ich schon, ja. Das ist auch so ein Punkt in der Schweiz: Man geht von vorgefassten Meinungen aus, spricht von Überbevölkerung, dass wir keinen Platz mehr hätten etc. Selbstverständlich will ich keine Situation wie in Shanghai, aber wir müssen ganz klar sehen, die Einwanderung, die wir in den letzten Jahren hatten, ist absolut entscheidend für unseren Erfolg. Ausländer kommen ja nicht zu uns, um nichts zu tun. Der überwiegende Teil der Leute engagiert sich sehr produktiv und wird damit Bestandteil der Schweizer Wirtschaft und damit auch der Einnahmen, die wir generieren. Damit helfen sie mit, unsere Probleme zu bewältigen. So würden unsere Sozialwerke mittelfristig kollabieren, wenn nicht permanent eine Vergrösserung der Wirtschaft stattfände.

zentral+: Das heisst, Sie würden es begrüssen, wenn weiterhin eine starke Zuwanderung stattfindet?

Schweiger: Man kann eine ganz einfache Regel aufstellen. Solange wir wirtschaftlich erfolgreich sind, werden auch die Leute kommen, die wir für die erfolgreiche Wirtschaft benötigen. Wenn die Wirtschaft nachlässt, dann wird auch der Einwanderungsdruck ein völlig anderer. Eine absolute Fehlüberlegung aber ist es zu glauben, mit einer weniger grossen Bevölkerungszahl könnte das Erfolgsmodell Schweiz aufrechterhalten werden.

zentral+: Dann ist die Schweiz also zum Wachstum sowohl der Wirtschaft als auch der Bevölkerung verdammt?

Schweiger: Wenn sie in allen Belangen das Niveau – sprich Lebensqualität, Sozialwerke, Umwelt und weiteres – halten will, muss sie permanent eine zumindest leicht wachsende Wirtschaft haben. Wachsen kann man durch die Vergrösserung der Volumina der Wirtschaft, aber auch durch erhöhte Wertschöpfung. Gerade in Bereichen aber, die wertschöpfungsintensiv sind, haben die Ausländer einen überproportional hohen Anteil. In international tätigen Grossunternehmen nimmt der Ausländeranteil in den Geschäftsleitungen und Verwaltungsräten stetig zu.

«Ohne ausländisches Personal könnten wir das Niveau der Schweizer Wirtschaft nicht halten»

zentral+: Worauf führen Sie dies zurück?

Das hat zum Teil mit einer gewissen Mentalität von uns zu tun. Wenn Sie beispielsweise schauen, welche Studiengänge die Schweizer wählen: Wie viele studieren Soziologie, Ethnologie und andere Geisteswissenschaften und wie viele brauchen wir in der Naturwissenschaft, der Volkswirtschaft oder im Finanzbereich. Da müssen wir Leute aus dem Ausland anstellen, weil wir sonst das Niveau der Schweizer Wirtschaft nicht halten können. Aber dies der Allgemeinheit bewusst zu machen, ist fast nicht möglich.

«Zu sagen, wir wollen ärmer werden, um tiefere Wohnungspreise zu haben, ist nun wirklich das Falscheste»

zentral+: Gleichzeitig führt der anhaltende Bevölkerungsdruck dazu, dass der vorhandene Platz knapper und damit zwangsläufig auch teurer wird. Damit ist die Wohnraumproblematik als eine unter vielen angesprochen. Viele Zuger ziehen aus dem Kanton weg, weil sie sich das Leben hier nicht mehr leisten können.

Schweiger: Wenn weniger von einem bestimmten Gut vorhanden ist, wird es teurer. Das ist ganz einfach eine wirtschaftliche Grundwahrheit. Und wenn man die ganze Kostenerhöhung in Relation setzt zu der Einkommensentwicklung, laufen diese Kurven zum Teil sehr parallel. Dass es dabei Verlierer gibt, ist mir durchaus klar. Ich bin auch dafür, dass der Staat gewisse Massnahmen ergreift und Härtefälle abfedert. Aber fundamental gegensteuern, indem man sagt, wir wollen ärmer werden, um tiefere Wohnungspreise zu haben, ist nun wirklich das Falscheste, was gemacht werden könnte.

Wenn die Wirtschaftskraft in Zug sinkt, haben wir zwar tiefere Mieten, aber wir haben auch weniger Einkommen, und damit weniger Steuereinnahmen. Zur Sicherung unseres Wohlstandes braucht es Wachstum, oder man entscheidet sich für eine andere Gangart. Es gibt gewisse Kantone, die sich auf den Standpunkt stellen, nicht mehr gross wachsen zu wollen. Dies aber sind genau diejenigen Kantone, die von uns am meisten kritisiert werden.

«Es ist vom Staat aus eine Utopie zu meinen, er könne Wachstum bremsen»

zentral+: Dann müssten Sie ja auch den Kanton Zug kritisieren, nachdem er in seiner Richtplanung beschlossen hat, nun nicht mehr so stark wachsen zu wollen?

Schweiger: Es ist vom Staat aus eine Utopie zu meinen, er könne Wachstum bremsen. Man kann vielleicht weniger Land einzonen. Aber das heisst nicht, dass Zug nicht trotzdem weiter wächst. Die Leute würden einfach an einem anderen Ort wohnen.

zentral+: Oder die Land- und Wohnungspreise steigen.

Schweiger: Das ist dann wieder das Korrektiv des Marktes.

zentral+: Bei einer hohen Zuwanderung entsteht häufig auch ein Identitätsproblem. Viele Einheimische finden ja, dass Zug nicht mehr der Ort ist, den sie von früher kennen. Ist das falsch?

Schweiger: Es gab wohl in der ganzen Weltgeschichte noch nie eine Situation, da die jeweils ältere Generation nicht gesagt hat, wie schön es doch gewesen sei, als sie noch jung war. Gleichwohl hat sich auch bei ihnen die Gesellschaft dynamisch entwickelt. Es ist quasi im Wesen des Menschen inbegriffen, dass er seine Jugend und seine damaligen Wahrnehmungen als junger Mensch idealisiert. Gleichzeitig aber wäre man schon damals unglücklich gewesen, wenn die eigenen Kinder später nicht die gleiche positive Dynamik erfahren würden, die man selbst erfahren hat. Dies ist unlogisch, menschlich aber verständlich.

«Es ist primär der Entscheid jedes Expats selbst, ob er sich integrieren will oder nicht»

zentral+: Ein anderes Zuger Thema sind die Expats. Sie sagen ja selber von sich, dass sie in Zug nicht integriert sind und das auch nicht wollen. Müsste dort der Staat stärker eingreifen?

Schweiger: Es ist primär der Entscheid jedes Expats selbst, ob er sich integrieren will oder nicht. Karriere kann häufig nur noch jener machen, der auch im Ausland gearbeitet hat. Dies wird von international tätigen Firmen von Anfang an so gesteuert. In Geschäftsleitungen und sonstige höhere Positionen kommen nur noch Leute, welche die Welt kennengelernt haben. Dieses internationale Leben gehört heute zum Lebensverständnis vieler Menschen. Die Idylle, die man früher lebte, ich bin hier geboren und werde hier sterben, die stimmt so nicht mehr. Und der Mensch arrangiert sich in dieser Hinsicht, indem er sich sagt, die Vielfältigkeit meines Daseins ist durchaus etwas Positives.

zentral+: Das hat für Sie dann nichts mit Identität zu tun?

Schweiger: Die Identität, dass man sich im Restaurant zum Jassen traf und so weiter, ist durch andere Entwicklungen sehr viel stärker beeinflusst. Heutzutage spielen die elektronischen Medien und Social Media eine ganz andere Rolle. Man verbringt einen grossen Teil der Freizeit vor dem Fernseher, im Internet, viele Kontakte zu Mitmenschen finden auf elektronischem Wege statt. Offenkundig ist, dass die jungen Leute ihren Plausch daran haben. Warum wollen wir Alten dann sagen, es sei doch so schön gewesen, draussen Seilhüpfen zu können, Fangis zu spielen und vieles andere mehr? Jede ältere Generation hat das Gefühl, es sei viel schöner gewesen, als sie noch jung war. Das war in den letzten zehntausend Generationen schon so und wird auch weiter so bleiben.

«Alles was wir von Zug nach Bern schicken, erhalten wir auf irgendeine Art und Weise wieder zurück»

zentral+: Ein ganz anderes Thema. Mit der Unternehmenssteuerreform III kommt ja ein grösserer Umbau auf die Schweizer Wirtschaft zu, der den Kanton Zug stärker betrifft als andere Kantone. Der Plan sieht bekanntlich vor, die Unternehmenssteuern auf 12 Prozent zu senken, dies aber ohne Kompensation bei den Steuern natürlicher Personen. So zumindest ist der Plan im Kanton Zug. Kann das aufgehen? Oder muss hier jemand anderer zahlen?

Schweiger: Vorausgesetzt, dass die EU ihren Druck aufrechterhalten kann, stehen wir vor folgender Realität: Entweder machen wir mit und schauen, was dann passiert, oder wir machen nicht mit, obwohl wir antizipieren können, was dann geschieht. Eine Nichteinigung mit der EU hätte eine massive Senkung des wirtschaftlichen Geschehens in der Schweiz zur Folge. Alle Firmen, die wegen der niedrigen Steuern in die Schweiz gekommen sind, haben heute unendlich viele Möglichkeiten, sich an andern Orten niederzulassen.

Besser ist also, das Problem mit der EU zu lösen und dabei zu versuchen, dass es trotzdem einigermassen so weiterläuft wie bisher. Als Zuger ist es einfach, so zu argumentieren, denn für uns ist es nicht allzu kompliziert, das Ziel zu erreichen. Grund hiefür ist, dass ein grosser Teil der Unternehmenssteuereinnahmen von den privilegierte besteuerten Gesellschaften herrührt.

Dazu einige Zahlen. Alle Unternehmen zusammen bezahlen Kantonssteuern in der Grössenordnung von 180 Millionen Franken. Die gleichen Unternehmen aber entrichten über eine Milliarde Bundessteuer, also fast zehn Mal mehr. Von der Bundessteuer profitiert Zug massiv. Denn wenn ich 100 Prozent nach Bern schicke, schickt mir Bern 17 Prozent wieder zurück. Bei einer Milliarde sind dies etwa 180 Millionen. Zusammen mit dem Anteil der natürlichen Personen an der Bundessteuer ist dies ungefähr gleich viel, wie wir in den nationalen Finanzausgleich NFA einzahlen. Man kann also sagen: Alles was wir nach Bern schicken, erhalten wir auf irgendeine Art und Weise wieder zurück.

«Beim kantonalen Finanzausgleich blockiert der Regierungsrat eine Einigung, was ich falsch finde.»

zentral+: Das heisst, die «Lizenzbox», die immer wieder diskutiert wird, braucht man gar nicht aus Zuger Sicht?

Schweiger: Es ist sicher richtig, wenn wir sie einführen. Sie genügt aber bei weitem nicht. Zwar können wir zusätzlich die Steuersätze der bisher privilegiert besteuerten Unternehmen moderat erhöhen. Darüber hinaus aber ist Fantasie gefragt. Was wir primär tun müssen, ist, alle Abzugsmöglichkeiten und Sonderregelungen einzuführen, die irgendein EU-Land kennt: Höhere Abzüge für Forschung und Entwicklung, fiktive Zinsen auf dem Eigenkapital, Aufwertungen und nachfolgende Abschreibungen von stillen Reserven und vieles andere mehr.

Doch: Es schleckt keine Geiss weg, dass per saldo zumindest vorübergehend weniger Unternehmenssteuern hereinkommen. Zug könnte das verkraften. Aber es müssen auf nationaler Ebene Mittel und Wege gefunden werden, dass auch andere starke Wirtschaftskantone es verkraften können. Da muss der Bund helfen, andernfalls eine Einigung mit der EU misslingen könnte. Zug kann ja nicht allein mit der EU einen Vertrag abschliessen.

zentral+: Wie lautet Ihre Prognose?

Schweiger: Es bleibt uns gar nichts anderes übrig. Wir haben in der Schweiz enorm hohe Steuereinnahmen durch privilegiert besteuerte Gesellschaften, nicht nur in Zug sondern hauptsächlich auch in Zürich, Genf und Basel. Wenn diese wegbrechen würden, hiesse das für die Schweiz, dass sie eine andere würde. Das es nicht soweit kommt, bedingt ein Engagement des Bundes. Nebst der Bundessteuer ist auch der NFA ein Vehikel hiefür.

«Mit unserem Wohlstand protzend zu jammern macht wenig Sinn und bewirkt nichts»

zentral+: Der NFA steht ja gerade in den Geberkantonen immer wieder unter Beschuss. Sie haben kürzlich auch gesagt, dass es relevant sei, dass Zug aufhöre zu jammern und mehr Solidarität zeigen solle. 

Schweiger: Ja. Erstens mal – und das sage ich wissend, dass mich diese Aussage in gewissen Kreisen als sehr uncharmant erscheinen lässt – ist die Konstruktion des NFA im Grundsatz eine richtige. Und zweitens: Die Geberkantone sind eine Minderheit, die allein nie Korrekturen an der NFA durchsetzen können. Wir müssen mindestens fünf weitere Kantone für unsere Anliegen gewinnen. Mit unserem Wohlstand protzend zu jammern macht wenig Sinn und bewirkt nichts. Politisches Sensorium bedeutet, Verständnis zu erwecken und für alle einfühlbar aufzuzeigen, dass auch NFA-Gelder zur Verfügung stehen müssen, um die Unternehmenssteuerreform zu ermöglichen. Erst dann, wenn sich diese Erkenntnis für die Geberkantone durchsetzt, haben wir es geschafft.

zentral+: Auch im Kanton Zug gibt es einen Finanzausgleich. Auch dieser soll nun justiert werden zugunsten der Stadt Zug. Dort ist es einer Minderheit gelungen, die anderen von der Notwendigkeit einer Senkung zu überzeugen.

Schweiger: Der Unterschied ist der, dass bei uns Geber- und Nehmergemeinden ungefähr je gleich viele Einwohner haben. Das erhärtet die Erkenntnis, sich finden zu müssen. Das ist nun beim kantonalen Finanzausgleich auch gelungen. Blockiert wird die Realisierung dieser Einigung durch den Regierungsrat, dessen Position ich in diesem Falle falsch finde. Der kantonale Finanzausgleich hat gewisse systemische Fehler, die korrigiert werden müssen.

Auslöser der Krise liegt in der Wirtschaft selbst

zentral+: Abgesehen von der Unternehmenssteuerreform III: Gibt es beim NFA noch andere Mechanismen, die nicht so gut spielen?

Schweiger: Der NFA wird ja bestimmt durch den Bundesbeitrag. Der Bund gibt einen Anteil – aktuell sind es 2,5 Milliarden – und den anderen Teil müssen die Kantone liefern. Meines Erachtens wäre es richtig, dass man diesen Anteil, den die Kantone einschiessen, auf zwei Drittel plafoniert und nicht, wie auch schon, auf 80 Prozent ansteigen lässt. Der NFA wurde ja geschaffen, um auch den Bund zu entlasten. Einen faktischen Finanzausgleich gab es nämlich schon früher, nur hiess er nicht so.

Früher hatte der Bund unendliche Geldsummen an die Kantone ausgeschüttet für den Bau von Wald- und Bergstrassen und vieles andere mehr. Jeder Kanton musste sich quasi dauernd überlegen, was er noch bauen könnte, um Bundessubventionen zu erhalten. Ein Teil dieser Subventionsmaschine wurde durch den NFA abgelöst. Ein finanzieller Einbezug der Kantone ist nur darum erfolgt, weil Bundeszahlungen allein für den Subventions-Ersatz nicht gereicht hätten. Somit muss der NFA immer noch primär eine Angelegenheit des Bundes sein, was auch durch ein starkes Bundesengagement zum Ausdruck kommen muss.

Zug wünscht eine Obergrenze. Eine solche kann man aber nie betragsmässig festlegen. Auch meine Besteuerung hört ja leider nicht bei einem vorher feststehenden Maximalbetrag auf (lacht). Eine Obergrenze kann nur gefunden werden, wenn damit schon heute vorhandene systemische Fehler korrigiert werden. Solche gibt es. Wenn beispielswiese bei einem Geberkanton die Steuereinnahmen einbrechen, wie das jetzt in Zürich der Fall ist, müssen die anderen Geberkantone im Extremfall sogar sehr viel mehr zahlen. Das sollte stärker justiert werden.

zentral+: Wir haben viel über Steuern und Wirtschaft gesprochen. Momentan kann man eher einen Graben zwischen der Wirtschaft und Privatpersonen beobachten. Das sieht man an den verschiedenen Initiativen wie die Abzocker- oder 1:12-Initiativen. Sehen Sie dies auch als Gefahr für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft?

Schweiger: Hier sehe ich sogar eine grosse Gefahr, weil die Wahrnehmung der schweizerischen Wirtschaft von weiten Teilen der Bevölkerung nicht richtig ist. Das vermeintliche Ideal vieler ist nach wie vor die gewerbliche Wirtschaft, die KMUs. Diese sind nötig. Genau so nötig aber sind die offenbar so unsympathisch empfundenen international tätigen Grossunternehmen des Handels-, Finanz- und Dienstleistungsbereiches. Diese internationalen Grossunternehmen generieren aber – mit relativ wenigen Mitarbeitern – über einen Drittel des schweizerischen BIP.

Gleichwohl meinen viele, ohne diese Unternehmen hätten wir eine wunderschöne Schweiz. Das kann emotional so gesehen werden – aber es wäre dies eine völlig andere Schweiz, die man vernünftigerweise nicht wollen kann. AHV- und PK-Renten nämlich würden massiv sinken, Schulklassen grösser, Infrastrukturen vernachlässigt, Steuern erhöht, dies alles auf einem Niveau, das an andere, ärmere Länder Europas gemahnen würde. Das zentrale politische Problem der heutigen Wirtschaft ist es, dass sie es nicht schafft, den Leuten aufzuzeigen, wie der Wirtschaftstöff Schweiz eigentlich fährt.

«Die Internationalität hat zu einer emotionalen Abkehr von der Schweiz geführt»

zentral+: Hat man dieses Auseinanderdriften seitens der Wirtschaft unterschätzt? Immerhin hat sich dies in den letzten paar Jahren massiv akzentuiert. Auslöser waren ja die sogenannten Abzocker. Oder gab es aus Ihrer Sicht einen anderen? 

Schweiger: Der Auslöser liegt in der Wirtschaft selbst. Verglichen mit der Wirtschaft von vor 25 Jahren, ist der wertschöpfungsintensivste Teil der Wirtschaft total international geworden. Der Grossteil ihrer Tätigkeiten findet im Ausland statt; die Lenker befinden sich zum grossen Teil ebenfalls im Ausland. Diese Internationalität hat zu einer emotionalen Abkehr von der Schweiz geführt, was vielen nicht bewusst geworden ist. Sie erklärt sich aber mit der völlig veränderten Interessenlage von weiten Teilen der Wirtschaft.

zentral+: Hat den heute in der Wirtschaft tätigen Leuten einfach das Sensorium für die Schweizer Befindlichkeit gefehlt?

Schweiger: Man hat die Belange der Schweiz zwar zur Kenntnis genommen, aber sie standen nicht im Zentrum des täglichen Wirkens, das aus Telefon- und Videokonferenzen, Flugreisen und Auslandaufenthalten besteht. Es ist eine völlig andere Welt entstanden als das klassische Schweizer Ideal. Eine durch Patrons beherrschte und betreute Wirtschaft gibt es in weiten Teilen nicht mehr.

«In der Bundespolitik findet die internationale Wirtschaft schlicht nicht statt»

zentral+: Wie kann man denn diese Kluft in der Wahrnehmung wieder schliessen? Diese scheint ja offenbar durch kulturelle Unterschiede entstanden zu sein. Und diese bestehen ja weiterhin.  

Schweiger: Ideal wäre, wenn eine Annäherung von beiden Seiten passiert und man nicht nur rational, sondern auch emotional realisiert, dass wir Teil einer von uns nur beschränkt beeinflussbaren weltweiten Entwicklung sind. Wir sind kein wirtschaftlicher Sonderfall.

Das andere ist, dass in diesen internationalen Firmen wieder mehr Rücksicht genommen wird auf die Befindlichkeiten, die hier in der Schweiz herrschen. Und das bedeutet auch, dass man etwas mehr Offenheit und mehr Engagement zeigt. In der Bundespolitik findet die internationale Wirtschaft schlicht nicht statt. Es gibt keinen einzigen Parlamentarier mehr, der in dieser Branche tätig ist. Dies obwohl rund ein Drittel der Schweizer Wertschöpfung in dieser anderen Welt generiert wird.

zentral+: Also mangelnde Verantwortung auch auf Seiten der Wirtschaft.

Schweiger: Mangelndes Sensorium würde ich es nennen. Die Wirtschaft ist immer in der Lage zu sagen, wenn sie uns nicht mehr will, ist das für uns keine Katastrophe. Die Schweiz ist für die grosse Wirtschaftswelt kein unentbehrlicher Faktor.

«Wir kriegen von Bern eher wenig und sind deshalb froh, wenn man uns in Ruhe lässt»

zentral+: Der Kanton Luzern hat seit Kurzem in Bern einen eigenen Lobbyisten. Bräuchte Zug dies auch?

Schweiger: Ich meinte nicht. Wir haben ja unzählige Kontaktstellen in Bern. Ausserdem sind wir von den Tätigkeiten der Schweiz weit weniger betroffen als andere Kantone. Die meisten anderen Kantone brauchen Subventionen oder Unterstützung. Wir aber kriegen von Bern eher wenig und sind deshalb froh, wenn man uns in Ruhe lässt.

zentral+: Sind Sie auch Lobbyist in Bern? Man hört ja, dass viele Alt-Parlamentarier in der Wandelhalle sind.

Schweiger: Wenn ich mich für die Belange der Nahrungsmittelindustrie einsetze oder für die Chemie, kann man dies natürlich als Lobbyismus bezeichnen. Aus meiner Sicht ist Lobbyismus eine absolute Notwendigkeit für die Politik. Es ist völlig unmöglich, dass ein Parlamentarier so gescheit ist, alle Details zu allen Geschäften kennen zu können. Deshalb muss er die Optiken und Probleme derjenigen kennen, die von neuen Gesetzen betroffen sind. Das vermitteln ihm Lobbyisten. Ohne diese hätten wir eine absolut weltfremde, primär von der Verwaltung inspirierte Gesetzgebung.

Der Einbezug aller involvierten Kreise durch ihre Lobbyisten hat uns davor bewahrt, dass man so überperfektionistische Gesetze macht, wie beispielsweise die Deutschen, bei denen die Parlamentarier in einem Elfenbeinturm sitzen und etwas zusammenkonstruieren, das theoretisch zwar wunderbar aussieht, praktisch aber hinten und vorne nicht funktioniert.

«Wenn es mir stinkt oder wenn ich nicht mehr kann, dann ist Schluss»

zentral+: Sie beziehen seit über vier Jahren AHV-Rente. Wann ziehen Sie sich denn ganz aus der Arbeit zurück?

Schweiger: Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas geplant, mich noch nie aktiv um einen Job oder um ein politisches Mandat beworben. Ich möchte mir keine eigenen Zwänge auferlegen. Wenn es mir stinkt oder wenn ich nicht mehr kann, dann ist Schluss. Aber es ist nicht so, dass ich sage mit 69,75 Jahren höre ich auf.

Tendenziell ist es sicher so, dass man eigene Anliegen und Bedürfnisse stärker spürt. Dazu zählen auch Verantwortungsgefühle gegenüber meiner Frau. Ihr will ich etwas zurückgeben beispielsweise so, dass wir vermehrt miteinander verreisen. Sie war viel allein, als ich fort war. Ein weiteres Bedürfnis sehe ich darin, mich wieder vermehrt in Vereine einzubeziehen sowie alte Freundschaften und Kollegialitäten neu zu beleben. Als Politiker war ich für Jahrzehnte ein Einzelkämpfer.

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