Selbstversuch: Ein Tag mit Kopftuch

Alles nur Kopfsache

Im bosnischen Zentrum in Emmenbrücke beginnt und endet das Experiment.

Wie lebt es sich mit einem Kopftuch in Luzern, wird man angestarrt, gar angefeindet? zentral+ startet den Selbstversuch: Einen Tag lang mit Kopftuch in der Stadt unterwegs. Ein Tag, an welchem nicht nur die Kopftuch tragenden Frauen überraschten.

17 Frauen trafen sich zu einem Experiment im Rahmen der Ausstellung «Schleier & Entschleierung». Darunter befanden sich acht Muslimas, die im Alltag ein Kopftuch tragen, sowie neun Frauen, die für diesen Tag ihre Kopftuch-Premiere erlebten. Jede der Frauen begann den Tag mit anderen Erwartungen und Vorstellungen, manche auch mit Unsicherheiten oder Ängsten. Ich war eine von ihnen.

Doch an diesem Tag haben uns die Leute in Luzern überrascht: Wie freundlich und tolerant sie auf uns zugingen, das hätten wir so nicht erwartet.

Es geht los

Was zieht die Frau von Welt zu einem Kopftuch an? Die enge Hose bleibt sicher im Schrank, die kurze Jeansjacke auch, auf keinen Fall zu auffällig. Selten habe ich mir so viele Gedanken darüber gemacht, was ich anziehen soll. Nach einer halben Stunde entscheide ich mich für die graue Stoffhose und den beigen Mantel.

Zum Glück nicht alleine

Treffpunkt für das Kopftuch-Experiment ist das bosnisch-muslimische Zentrum in Emmenbrücke. Im ersten Stock des Zentrums haben die Frauen ihre Räume. Über zehn Muslima mit Kopftüchern empfangen mich fast überschwänglich. Ich bin die Erste. Es gibt bosnischen Kaffee und selbstgebackene Gipfeli. Als alle Teilnehmerinnen eingetroffen sind, bilden wir Zweier- und Dreiergruppen. Eine Muslima, die im Alltag ein Kopftuch trägt, und eine Frau ohne Erfahrung mit Kopftüchern werden zusammen in die Stadt geschickt. Meine Partnerin ist Ezra, wir verstehen uns vom ersten Moment an blendend.

Ich bin froh darüber, das Experiment in diesem Rahmen machen zu können. Alleine wäre die Überwindung grösser gewesen. Auch dass sie uns das Kopftuch binden, hilft sehr, soll es doch den ganzen Tag halten.

Ziemlich authentisch

Gemeinsam nehmen wir den 2er Bus von Emmenbrücke in Richtung Luzerner Innenstadt. Ich bin erstaunt. Unwohl fühle ich mich kaum. Was auch daran liegen kann, dass die Frauen mir ständig sagen, dass das Kopftuch mir ausserordentlich gut steht und ich sehr authentisch als Muslima wirke. Ich beglückwünsche mich selbst für meine Kleiderwahl.

Mir fällt schnell auf, dass ich aufrechter gehe, viel lächle und versuche den Leuten gegenüber zuvorkommend zu sein. Es ist nur ein Gefühl, dass ein Fehlverhalten meinerseits auf alle Frauen mit Kopftuch zurückfallen würde, das Gefühl, Frauen mit Kopftuch zu repräsentieren. Es soll später nicht heissen, eine Frau mit Kopftuch habe sich daneben benommen.

Irritiert aber freundlich

Vor dem Luzerner Theater steht ein Stand der Befürworter der Gütschbahn, sie sprechen Passanten an und werben für die Abstimmung. Wir bleiben stehen und wollen uns ansprechen lassen, es dauert einiges länger als gewöhnlich. Anfangs ist der ältere Mann zögerlich, er scheint sich unsicher zu sein, ob wir uns überhaupt für die politischen Anliegen der Stadt interessieren, oder ob wir die Sprache beherrschen. Nach ein paar Sätzen wird er jedoch richtig redselig und fragt uns am Schluss des Gesprächs gar, ob wir denn nicht dem Komitee beitreten möchten.

Oft sind die Leute zuerst irritiert, wenn ich sie anspreche, aber freundlich sind sie immer. Eine leichte Unsicherheit ist zu spüren. Die Leute wissen nicht genau, wie sie mit uns sprechen sollen. Beherrschen wir die Sprache, darf man uns in die Augen schauen, gibt es Benimmregeln? Doch sobald sie bemerken, dass man ganz normal mit uns sprechen kann, entspannt sich die Situation sofort.

Auf der Strasse ernten wir öfters kurze Blicke. Weder ich noch Ezra nehmen aber negative Reaktionen war. Die Blicke scheinen wertungsfrei zu sein, oder interessiert. In der Gruppe jedoch erregen wir Aufmerksamkeit. Zwanzig Frauen mit Kopftüchern auf einem Haufen, das scheint ungewöhnlich zu sein. Es wird getuschelt, es wird kritisch geschaut, aber auch gelächelt.

Ziehen und Zupfen

Mit der Zeit beginnt das Kopftuch zu stören. Ständig muss ich daran ziehen und zupfen, um es an der richtigen Stelle zu halten. Immer wieder rutscht es und ein paar Häärchen sind zu sehen. Ausserdem habe ich das Gefühl, meinen Kopf nicht so schnell drehen zu dürfen, da ich Angst habe, es würde verrutschen.

Im Globus wird es warm unter dem Kopftuch. Auch, weil die Verkäuferin derart unfreundlich ist. Nach meiner Frage, ob sie mich mit Kopftuch einstellen würde, macht sie mir von oben herab klar, dass ich mit Kopftuch im Bereich Mode wohl kaum viel Ahnung habe. Ich glaube jedoch, dass sich diese Frau, auch wenn ich ohne Kopftuch dagestanden hätte, nicht besser benommen hätte. 

Der Glaube

Später entsteht zwischen mir und meiner Experiment-Partnerin eine grundsätzliche Diskussion über das Kopftuch. Wir geraten in ein hitziges Gespräch über Glauben, Religion und die Triebhaftigkeit der Männer. Sie als gläubige Muslima, ich als christlich geprägte Atheistin. Wir werden uns nicht einig. Nur in einem Punkt haben wir die selbe Meinung: Wir müssen nicht derselben Meinung sein, solange wir uns gegenseitig so akzeptieren.

Ausstellung

Die Ausstellung «Schleier und Entschleierung» will verschiedene Aspekte der Verschleierung, sowie der Entschleierung aufzeigen.

Die Ausstellung findet im Zentrum «Der MaiHof» an der Weggismattstrasse 9 in Luzern
 statt. Vom 28. Oktober bis 16. November 2014 ist die Ausstellung täglich von 14 – 18 Uhr geöffnet (ausser 14. Nov.). Der Eintritt ist frei.

Das Experiment fand im Rahmen dieser Ausstellung statt und wurde vom SAH Zentralschweiz, Fabia Luzern und der bosnisch-muslimischen Frauengruppe Merdzan organisiert.

Jetzt kommt die Unsicherheit

Im Bus zurück ins bosnische Zentrum starren mich zwei Männer an, sie tuscheln, der eine zwinkert mir zu. Ich fühle mich unsicher. Normalerweise würde ich meine offenen Haare nach hinten werfen und die beiden ignorieren, oder ich würde sie gleich fragen, was ihr Problem ist. Doch ich traue mich nicht, fühle mich verletzlich und angreifbar. Ohne meine Haare fühle ich mich nackt, trotz Kopftuch. Ich hätte nicht gedacht, dass mich das Kopftuch doch noch verunsichern kann.

Zurück im Zentrum werden wir von den Frauen mit bosnischen Spezialitäten verpflegt. Diskussionen entstehen. Ich höre viele positive Stimmen. Die Teilnehmerinnen des Experiments sind alle gleichermassen überrascht: Wir haben mehr Reaktionen erwartet. Solange man offen und freundlich auf die Leute zugehe, komme dasselbe zurück, sagt Ezra. Das sei mit Kopftuch nicht anders als ohne.

Die Bosnierin Nihada, die ebenfalls am Experiment teilnimmt, trägt das Kopftuch bereits seit über zwanzig Jahren. Auch bei ihrer Arbeit als Unternehmensberaterin. Vielleicht einmal pro Jahr erlebe sie eine unangenehme Situation. Meist seien es aber nur überraschte Blicke, wenn Kunden sie das erste Mal sehen.

Abschied

Als ich das Kopftuch ausziehe, fühle ich mich doch erlöst. Es ist ein gutes Gefühl, mein Kopf fühlt sich freier an.

Der Abschied im Zentrum ist herzlich. Wir sind uns einig: Das Experiment hat uns nicht nur eine gewisse Scheu voreinander genommen, sondern vor allem ein positives Bild unserer Stadt vermittelt. Ich habe Luzern viel toleranter und freundlicher wahrgenommen, als ich dies nach den vergangenen Abstimmungen erwartet hatte.

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