Luzerner Beraterin Marlies Michel im Interview

Warum Paare Treue in Beziehungen neu definieren müssen

War 20 Jahre lang Geschäftsstellenleiterin der Fachstelle S&X – Sexuelle Gesundheit Zentralschweiz: Marlies Michel. (Bild: ida)

Wo man sich in Luzern auf Geschlechtskrankheiten testet, spricht man schnell auch über andere intime Dinge. Wie Liebe, Sex – und Affären. Nach 20 Jahren geht Geschäftsleiterin Marlies Michel bei der Fachstelle S&X – Sexuelle Gesundheit Zentralschweiz in Pension. Wir haben sie gefragt, was in den letzten Jahren die Luzerner umtrieb.

Der Klassiker ist vielleicht die Kondompanne. Und Grund dazu, sich mal wieder auf Geschlechtskrankheiten wie Tripper, Chlamydien und Co. testen zu lassen. Aber auch Prostitutionsbesuche und Affären bergen für einige Menschen Risiken. Und damit die Angst, wegen einer allfälligen Geschlechtskrankheit beim Partner aufzufliegen.

In Luzern kann man sich bei der Fachstelle S&X Sexuelle Gesundheit Zentralschweiz auf sexuell übertragbare Infektionen wie HIV, Tripper und Chlamydien testen lassen (zentralplus berichtete). In den Beratungen geht es aber um viel mehr als «nur» um die sexuelle Gesundheit. Denn innert kürzester Zeit wird über ganz andere intime Themen gesprochen – wie Beziehungen, Sex und Bedürfnisse.

Das sagt Marlies Michel. Die 65-Jährige geht nach 20 Jahren als Geschäftsleiterin bei S&X in Pension. Wir haben mit ihr gesprochen, wie sich die Beratungen in den letzten Jahren verändert haben.

zentralplus: Marlies Michel, in der Fachstelle S&X sprechen sie mit ihren Klienten immer wieder über Sex ausserhalb von Beziehungen und Affären sowie über alternative Beziehungsformen wie offene Beziehungen oder Polyamorie. Hat die Monogamie ausgedient?

Marlies Michel: Wir können heute viel schneller Sexualpartner kennenlernen. Sei das über Online-Dating-Plattformen wie Tinder, Grindr und Parship. Ich würde aber nicht sagen, dass heute alle ein extrem freizügiges Sexualleben haben. Viele sind da sehr moderat und zurückhaltend unterwegs. Die allermeisten Menschen – jeglichen Alters – wünschen sich vermutlich nach wie vor eine ausschliesslich sexuelle Beziehung. Das haben wir in den Beratungen sehr oft gespürt. Die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit ist nach wie vor gross. Bei der Polyamorie geht es zudem nicht ausschliesslich um die Sexualität.

In den Beratungen kam es oft zur Sprache, dass die Sexualität in einer Partnerschaft eingeschlafen sei.

zentralplus: Es werden sich aber nicht alle bei S&X auf Geschlechtskrankheiten testen lassen, nur weil sie gerade eine neue Beziehung eingehen.

Michel: Nicht alle, aber inzwischen sehr viele Paare und wir empfehlen das auch. Andere testen sich, weil sie einen sexuellen Aussenkontakt eingingen und sie den Partner, die Partnerin, nicht mit einer sexuell übertragbaren Infektion gefährden wollen. Oder verhindern möchten, dass die Affäre oder der One-Night-Stand wegen einer Geschlechtskrankheit auffliegt. In den Beratungen kam es oft zur Sprache, dass die Sexualität in einer Partnerschaft eingeschlafen sei. Etwa dann, wenn ein Paar Kinder kriegte oder die Partnerin sich mehr Sex wünschte, ihr Partner jedoch kein Verlangen danach hatte oder umgekehrt. Viele Paare suchen deswegen nach Lösungen. In den letzten zwei, drei Jahren haben bei uns Themen wie Polyamorie und offene Beziehung zugenommen. Das war vor 20 Jahren noch kaum der Fall. Paare, die das rein Monogame nicht mehr als Ideal empfinden, erlebe ich aber eher als Ausnahmen. Leider wird zu selten gemeinsam nach Lösungen gesucht, wenn die sexuellen Bedürfnisse in einer Partnerschaft unterschiedlich sind oder geworden sind.

zentralplus: Und dann krallt man sich, was man nicht kriegt, anderswo?

Michel: Ich denke, dass das Konsumverhalten in unserer Gesellschaft dazu beigetragen hat. Durch die Individualisierung nehmen sich mehr Menschen dasjenige anderswo, was sie in einer Partnerschaft nicht bekommen. Damit meine ich nicht, dass dies nicht zu Problemen in diesen Beziehungen führt oder Betroffene nicht von einem schlechten Gewissen geplagt wären. Affären sind nach wie vor verpönt, aber vielleicht häufiger und mehr über alle Gesellschaftsschichten verteilt als früher. Ich bin aber davon überzeugt, dass sich unsere Beziehungen ändern werden.

zentralplus: Inwiefern denn?

Michel: Wie wir unsere Liebesbeziehungen gestalten. Der Begriff Treue wird möglicherweise neu verhandelt. Viele Rahmenbedingungen haben sich geändert. Sei das die finanzielle Unabhängigkeit der Frau sowie die Bildung. In den letzten 50 Jahren hat sich unsere Gesellschaft stark gewandelt und damit auch die Art und Weise, wie wir Beziehungen gestalten und leben möchten.

Ein Paar sollte gemeinsam darüber diskutieren, was sie unter Treue überhaupt verstehen.

zentralplus: Wie könnte denn eine neue Definition von Treue in Zukunft aussehen?

Michel: Ein Paar sollte gemeinsam darüber diskutieren, ob sie sich treu sind und in welchen Bereichen. Und was sie unter Treue überhaupt verstehen. Wir haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Paare implizit davon ausgehen, dass man sich gegenseitig treu ist. Trotzdem gibt es sexuelle Aussenkontakte, welche nach Möglichkeit verheimlicht werden. Das begleitete uns immer wieder in unseren Beratungen.

zentralplus: Was treibt die Menschen um, die sich bei S&X beraten lassen?

Michel: Es sind viele Themen. In erster Linie sind es Fragen rund um das Testangebot, dann aber auch zahlreiche andere im Zusammenhang mit der Sexualität. Also beispielsweise keinen oder zu wenig Sex, zu viel Sex. Oder übermässiger Pornografiekonsum, der womöglich dazu führt, dass ein Mann weniger Lust hat, mit seiner realen Partnerin Sex zu haben oder an Erektionsstörungen leidet. Oder das Gefühl, nicht zu genügen oder das Gefühl der Überforderung. Das führt zu Stress. Sex als Ventil, Alltagszwängen zu entfliehen. Die Menschen sprechen aber auch oft über gesundheitliche Probleme, über ihre Arbeit oder grundsätzliche Beziehungsschwierigkeiten.

Ich fände es problematisch, wenn man sich – aus Angst vor einer Infektion – sexuell massiv einschränken würde.

zentralplus: Kommen wir noch auf sexuell übertragbare Infektionen zu sprechen. Immer weniger Menschen werden in der Schweiz positiv auf HIV getestet. Seit bald 20 Jahren sind die Diagnosen rückläufig. Stattdessen sind andere sexuell übertragbare Infektionen auf dem Vormarsch wie Tripper und Chlamydien. Aus meinem Umfeld kenne ich unzählige Beispiele und Risikosituationen, auf die man sich eingelassen hat. Beim One-Night-Stand mit einer fremden Person das Kondom vergessen oder sich überreden lassen, Sex ohne Gummi zu haben. Warum wurden wir so fahrlässig?

Michel: So positive Aspekte es auch hat, sexuell freizügig und aktiv zu sein, so gibt’s leider auch mögliche Nebenwirkungen. Ich glaube aber, es ist wichtig, zwischen HIV und bakteriellen Infekten zu unterscheiden. HIV ist nach wie vor nicht heilbar, auch wenn Medikamente die Infektion eindämmen. Eine HIV-Infektion bedeutet in unseren Breitengraden eine chronische Krankheit. Im Gegensatz dazu sind Gonorrhoe, Syphilis und Chlamydien mit Antibiotika behandelbar. Als ich vor 20 Jahren bei der damaligen Aids Hilfe Luzern meine Arbeit aufgenommen habe, war HIV noch mehr ein Thema und ein Schreckgespenst. Die 80er-Jahre waren einfach noch viel näher, in denen Aids einem Todesurteil gleichkam.

zentralplus: Sind wir denn zu wenig gut aufgeklärt?

Michel: Viele Menschen wissen sehr wenig über Geschlechtskrankheiten und sind in der Tat ungenügend darüber aufgeklärt. Oder sie glauben irrtümlicherweise, dass nur bestimmte Zielgruppen anfällig dafür sind, wie etwa Sexarbeitende. Das ist natürlich falsch. Jeder sexuelle Kontakt birgt im Grunde die Gefahr einer sexuell übertragbaren Infektion. Auch das Kondom schützt nicht vollumfänglich davor, vor HIV jedoch schon. Jede Person, die sexuell aktiv ist, muss latent damit rechnen, dass sie früher oder später etwas aufliest. Nur ist das behandelbar. Ich fände es problematisch, wenn man sich – aus Angst vor einer Infektion – sexuell massiv einschränken würde.

zentralplus: Nach 20 Jahren bei S&X gehen Sie nun in Pension. Wurden Sie durch diese Tätigkeit offener?

Michel: Ja, auf jeden Fall. Ich habe neben dem medizinischen Wissen enorm viel gelernt über Sexualität und Beziehungen. Im Nachgang zu den Beratungen habe ich meine eigenen Werthaltungen reflektiert und hinterfragt, wie ich gewisse Themen sehe, zu Affären und polyamore Beziehungen stehe. Ich sehe heute mehr Möglichkeiten von Beziehungsgestaltungen. Und ich bin davon überzeugt, dass man als Paar gemeinsam darüber reden und die Rahmenbedingungen in Beziehungen verhandeln muss. Das ist in einer monogamen Beziehung nicht einfach so per se gegeben.

zentralplus: Was wird Ihnen am meisten fehlen?

Michel: Ich habe es enorm geschätzt, dass im Rahmen der Beratungen bei S&X sehr schnell über sehr persönliche und intime Themen gesprochen wurde – damit meine ich nun nicht nur die rein sexuellen Aspekte, sondern vielfältige Gedanken und Emotionen, die nicht selten die eigentliche Intimität der Gespräche ausmachten. Und dies mit Menschen, die mir eigentlich völlig fremd waren. Das war sehr berührend.

zentralplus: Das Beraten lässt sie ja nicht ganz los. Sie bieten Beratungen und Coachings an in Ihren Praxen in Luzern und Zug.

Michel: Das ist richtig. Einen Tag pro Woche werde ich zusätzlich hier in der Praxis von Dr. Ines Schweizer Beratungen und Coachings anbieten. Sei das zu Liebe, Sexualität, Arbeit, Krisen und Veränderungen im Leben. Oder Sex im Alter – das sich zu einem meiner Spezialthemen entwickelte. Im Kontakt zu sein mit anderen Menschen, die mich an ihren Sorgen und Freuden teilhaben lassen, bedeutet mir viel.

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