Betroffene aus Luzern erzählen

So erleben dunkelhäutige Menschen bei uns Rassismus. Jeden Tag.

«Racism ist the real pandemic» – zu Deutsch: «Rassismus ist die eigentliche Pandemie.» (Symbolbild: James Eades/unsplash)

Weltweit ziehen Menschen auf die Strassen, um gegen Rassismus zu demonstrieren. Die Protestwelle hat auch Luzern erreicht. Wir haben mit drei dunkelhäutigen Luzernerinnen und Luzernern gesprochen, wie sie Rassismus im Alltag erleben.

«Please, I can't breathe.» Fast neun Minuten drückt ein weisser Polizist sein Knie auf den Nacken eines dunkelhäutigen Mannes. Mehrmals sagt dieser, dass er keine Luft mehr bekomme. Sechzehn Mal. In fünf Minuten. Er ruft nach seiner Mutter. Wird ohnmächtig. Erstickt.

Das Video, das den brutalen Tod George Floyds zeigt, geht um die Welt. Es rüttelt auf, führt uns allen vor Augen: Rassismus kann töten.

Weltweit gehen Tausende von Menschen auf die Strassen, um zu demonstrieren. Die «Black Lives Matter»-Proteste haben auch Luzern erreicht (zentralplus berichtete).

Rassismus verletzt. Manchmal passiert es unbewusst, oft nicht, manchmal beginnt er im Kleinen, manchmal zeigt er sich in brutaler Heftigkeit.

Dennoch behaupten viele: Rassismus gibt es bei uns nicht. Das zeigt sich bei einem Blick in die Kommentarspalte von zahlreichen Medienberichten. Doch: Weisse können so etwas einfach nicht behaupten. Weil sie es nicht wissen.

Und weil Weisse schon gar nicht wissen, wie es sich anfühlt, rassistisch angegriffen zu werden. Wie heftig das verletzt. Das zeigen die Gespräche mit zwei 26-jährigen Luzernerinnen und einem 24-jährigen Luzerner.

Sonia, 26-jährig

«Mit der Welt ist gerade nichts, wie es sein sollte. Auch ich habe das Video vom Tod George Floyds gesehen. Es tat weh. Auch wenn ich zurückdenke. Es tut verdammt weh. Und dennoch habe ich es mir angetan. Weil ich nicht wegschauen wollte. Weil es passiert. Es betrifft mich nicht direkt. Und doch tut es das. Weil es meine Hautfarbe ist.

Dennoch bringt das Ganze etwas Schönes mit sich. Dass viele auf der ganzen Welt aufstehen. Ein Zeichen gegen Rassismus setzen. So hätte es schon längst, schon immer sein müssen!

Viele ignorieren bei uns die Tatsache, dass Rassismus hier bei uns in der Schweiz und in Luzern existiert.

Ich war vier Jahre alt, als ich das erste Mal aufgrund meiner Hautfarbe eine rassistische Erfahrung habe machen müssen. Es geschah im Bus mit meiner Familie. Ich sass alleine in einem Viererabteil, als zwei ältere Damen in den Bus stiegen.

Sie packten mich. Schmissen mich auf einen anderen Sitz. Als ob ich ein Sack wäre. Und setzten sich dann selbst in das von ihnen freigemachte Viererabteil. Der Bus war praktisch leer.

Dennoch wusste ich: Ihr passte nicht, dass ich da als Dunkelhäutige stehe.

Das tat weh. Zu spüren, dass andere denken, dass man ihnen ihren Platz wegnehme. Ich diesen nicht verdient habe.

Im Erwachsenenalter hat mir eine Frau im Bus ihren Ellbogen in meinen Bauch gerammt. Aus dem Nichts. Sie hat nicht viel dazu gesagt. Dennoch wusste ich: Ihr passte nicht, dass ich da als Dunkelhäutige stehe.

Oft wurde ich als Neger beschimpft. Wie viele Male, weiss ich nicht. Ich habe aufgehört zu zählen. Das finde ich etwas vom Respektlosesten. Gegenüber allen Schwarzen, gegenüber den Sklaven, die ausgenutzt wurden, gelitten haben, auf brutale Weise ihr Leben verloren.

Oft habe ich das Gefühl, nirgends zu Hause zu sein.

Ich bin ein Kind aus verschiedenen Ländern. In der Schweiz geboren, Wurzeln in Afrika. Oft habe ich das Gefühl, nirgends zu Hause zu sein. Überall als Ausländerin wahrgenommen zu werden. Als Aussenseiterin. Das tut weh.

Dieses Gefühl ist so tief verankert, dass ich nicht gelassen durch die Welt laufen kann. In meinem Hinterkopf habe ich permanent die Angst, von jemandem abgelehnt zu werden.

Es gibt keinen Tag in meinem Leben, an dem ich nicht Angst habe, dass irgendjemand einen dummen Spruch aufgrund meiner Hautfarbe reisst. Keinen Tag.

Oft sind es Kleinigkeiten. Unangenehme Blicke, die auf einen gerichtet sind. Wenn sich im Bus niemand neben dich setzen will. Wenn man als Dunkelhäutige mit einem schweizerisch klingenden Nachnamen erklären muss, wie das denn überhaupt geht. Wenn man gleich zu Beginn gefragt wird, woher man denn komme. Wenn man sagt, dass man Schweizerin sei, wird man belächelt. «Ach komm. Woher kommst du denn wirklich?»

Wenn man immer wieder auf Hochdeutsch und Englisch angesprochen wird. Dass Gegenüber irritiert fragt, weshalb man denn perfekt Schweizerdeutsch sprechen könne.

Die weltweiten Demos sind wichtig. Doch es nützt nichts, ein Plakat mit den Worten «Black Lives Matter» zu bemalen, so gut es auch gemeint ist. Man muss es leben. Die Augen nicht verschlossen halten. Dass man für andere, die gerade vor den eigenen Augen rassistisch diskriminiert, beleidigt und erniedrigt werden, das Wort ergreift.

Wenn man zu erkennen gibt, dass das nicht okay ist. Dass Rassismus nicht okay ist. Wenn man sich nicht getraut, in eine Situation einzugreifen, kann man auch zur Person gehen, die gerade beleidigt wurde. Und ihr klar machen, dass man nichts Falsches getan hat, nur weil man schwarz und hier ist. Dass man das Gefühl bekommt, dass man doch nicht so am falschen Ort ist.

Kinder müssen es wie das Schuhbinden lernen: dass jeder Mensch ein Mensch ist.

Ich will einmal Kinder. Und ich käme nicht damit klar, wenn sie aufgrund ihrer Hautfarbe beleidigt werden würden. Ich kam einmal an einen Punkt, an dem ich all die unangenehmen Blicke, all die rassistischen Beleidigungen auf mir habe ruhen lassen können. Umso mehr trifft es mich aber, wenn mein Kind eines Tages dieselben Erfahrungen machen muss.

Es beginnt im Kindesalter. Kinder müssen es wie das Schuhbinden lernen: dass jeder Mensch ein Mensch ist. Unabhängig von seiner Herkunft, Religion, sexuellen Orientierung oder seiner Hautfarbe.»

«Nah»: Die US-amerikanische Bürgerrechtlerin Rosa Parks wurde 1955 festgenommen, nachdem sie sich weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen weissen Fahrgast zu räumen. (Bild: uus)

Annabelle*, 26-jährig

«Rassismus gibt’s nicht? Ich finde es beschämend, wenn das weisse Menschen sagen. Es nervt mich. Man kann sich nicht hineinversetzen, wenn man nicht selbst schwarz ist.

Auch die Debatte um den Schokokuss: Die Bezeichnung Mohr ist rassistisch. Sie reduziert Menschen auf ihre Hautfarbe und Rassezuschreibungen.

Es ist leicht zu sagen, dass Schokoküsse ja schon immer Mohrenköpfe genannt wurden. Aber wo liegt das Problem, sie einfach anders umzubenennen, wenn sich Menschen durch die Bezeichnung verletzt fühlen?

Ich habe neben meinem Studium in Luzern in einem Restaurant gearbeitet. Viele Male bestellten ältere Menschen bei mir mit übertriebenem, deutlich ausgesprochenem Hochdeutsch. Wenn ich dann auf Schweizerdeutsch antwortete, wurde es dem Gegenüber oft unangenehm. Viele liefen rot an.

Einmal arbeitete ich an einem Weihnachtsmarkt in Zürich. Zwei, drei Mal sprachen Menschen mit meiner Arbeitskollegin Schweizerdeutsch. Kaum drehten sie den Kopf zu mir, switchten sie auf Englisch.

Hier bin ich nicht eine von hier – in Südasien bin ich nicht eine von da.

Auch wenn ich und meine Familie in der Schweiz noch nie schlimme Erfahrungen mit Rassismus gemacht haben – all die genannten Erlebnisse sind Rassismus. Nur, dass er oftmals bei uns subtiler stattfindet. Nicht so offensichtlich wie in den USA.

Manchmal habe ich das Gefühl, ich gehöre nirgends dazu. Ich sehe nicht aus wie eine Schweizerin. In all den genannten Situationen wird mir das klarer. Hier bin ich nicht eine von hier – in Südasien bin ich nicht eine von da. In der Schweiz bin ich die Ausländerin, in Südasien bin ich die Ausländerin.

Oder im Ausgang jeweils. Garantiert lautet die zweite, dritte Frage, woher man denn komme.

Wenn ich mit einem Drink in einem Club an der Zürcher Langstrasse stehe und auf meine Herkunft angesprochen werde, habe ich keine Lust, ein Fass aufzumachen.

Oft habe ich dann einfach gesagt, ich sei eine Latina. Das denken auch viele. Latinas werden mit etwas Positivem assoziiert. Latina zu sein, ist cool. Wenn man dann sagt, nein, man sei etwas Indisches, lautet die Reaktion gleich: «Oh, okay.» Als ob es etwas weniger Cooles wäre. Auch das ist Rassismus.

Was ist mit dem Fremdenhass gegenüber Chinesen?

Jetzt sprechen wir über Rassismus und wir meinen damit den Rassismus gegenüber Schwarzen. Doch was ist mit dem Fremdenhass gegenüber Chinesen? Darüber spricht niemand. Bei der jetzigen Debatte werden sie völlig ausser Acht gelassen und das finde ich schade. Nicht korrekt. Gerade zu Coronazeiten hat sich der Rassismus gegenüber Asiaten zugespitzt, die Übergriffe nahmen zu.

Man sollte nicht schnelle Rückschlüsse ziehen aufgrund des Aussehen eines Menschen. Weg von dieser Oberflächlichkeit kommen. Sich erst Gedanken machen, was die Frage nach der Herkunft im Gegenüber auslösen kann.

Aber es ist immer etwas Gegenseitiges. Umgekehrt könnten Schwarze anderen offen sagen, was sie stört.»

Laut der Luzerner Polizei zog es am letzten Samstag rund 1’200 Menschen auf die Strassen in Luzern. (Bild: uus) (Bild: uus)

Lukas*, 24-jährig

«Einmal hat mich ein Senior von meinem Velo gestossen. Auf dem Reussuferweg hat er mich bespuckt und mir gesagt, ich soll zurück nach Senegal.

Das war das Schlimmste, was ich bis jetzt an Fremdenfeindlichkeit erlebt habe. Was ich tat? Ich korrigierte ihn, woher ich wirklich komme.

Das Übliche sind die Black-Jokes auf der Arbeit. Ob man zu lange im Solarium war. Ob die Eltern vergessen haben, einem die Handinnenflächen anzumalen.

Es gibt zwei Arten, wie man reagieren kann. Variante 1: Man lässt sich darauf ein. Variante 2 (und so handhabe ich es): Man sagt sich selbst immer wieder, dass es keine Rasse gibt. Dass es ein erfundenes Konstrukt eines Menschen ist. Und jeder Mensch ein Mensch ist. Ich bin genauso viel Mensch, wie der Senior, der mich rassistisch beleidigt. Bin genauso aus Fleisch und Blut wie er.

Den weltweiten Protesten stehe ich kritisch gegenüber. Rassismus ist leider für viele Menschen Alltag. Ich denke nicht, dass ein kurzlebiger Hype dies zu ändern vermag. Auch wenn die Debatte längst überfällig war.»

*Lukas und Annabelle heissen eigentlich nicht Lukas und Annabelle. Beide wollten auf eigenen Wunsch hin anonym bleiben.

Hier die Fakten zum Nachlesen:

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1 Kommentar
  • Profilfoto von ludin
    ludin, 22.06.2020, 09:25 Uhr

    Es gibt einen uralten Witz. In der Münchner U-Bahn wird ein Farbiger von einem Norddeutschen beleidigt. Ein Bayer steht auf: «Bei uns gibts keinen Rassismus net. Du Saupreiss!»

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