Luzernerin Judith Stamm glaubt nicht an grüne Bundesrätin

«Der weibliche Erfolg bei den Wahlen ist auf den Frauenstreik zurückzuführen»

Judith Stamm trat 1986 als wilde Kandidatin zur Bundesratswahl an. (Bild: Joseph Schmidiger)

Vor 20 Jahren trat Judith Stamm als Nationalrätin zurück. In der grossen Kammer setzte sich die progressive CVP-Politikerin unter anderem für die Gleichstellung von Mann und Frau ein. Im Interview mit zentralplus äussert sich die heute 85-Jährige über ihr damaliges Amt, neue Herausforderungen sowie über die grüne Bundesratskandidatur.

zentralplus: Judith Stamm, am 29. November 1999 nahmen Sie als Nationalrätin an Ihrer letzten Kommissionssitzung teil und zogen sich schliesslich nach 16-jähriger Tätigkeit aus Bundesbern zurück. Wie betrachten Sie Ihr Amt nachträglich?

Judith Stamm: Es war ein Glücksfall, dass diese politische Aufgabe von 1983 bis 1999 auf die Endphase meines Lebens fiel. Ich habe meine berufliche Tätigkeit allmählich reduziert und musste hinterher nicht nochmals aufbauen. Mein Nationalratspräsidium 1997 gehörte zu den besonderen Herausforderungen, da in diesem Jahr hitzige Diskussionen rund um das Raubgold geführt und vor allem aus den USA schwere Anschuldigungen gegen unsere Banken erhoben wurden.

zentralplus: Was passierte dann?

Stamm: Das Parlament veranlasste schliesslich den Einsatz einer Historikerkommission benannt nach ihrem Präsidenten Jean-François Bergier. Diese erhielt den Auftrag, die Zeit des Zweiten Weltkrieges, den Umgang der Schweiz mit Flüchtlingen, aufzuarbeiten. Die Ergebnisse wurden schliesslich in Form des Bergier-Berichts veröffentlicht.

Judith Stamm (l.) folgte Alfons Müller-Marzohl (M.) im Nationalrat nach, rechts ihre politische Weggefährtin Josi J. Meier, 1983.

zentralplus: Was kann man als Nationalrätin langfristig bewirken?

Stamm: Allein lässt sich kaum etwas erreichen. Man benötigt immer Verbündete. Eine Idee kann noch so gut sein, doch wenn sich niemand dafür erwärmt, kommt sie nicht zum Tragen. Ich habe dies am eigenen Leib erfahren, als ich 1987 eine Anfrage an den Bundesrat mit dem Titel «Umweltgefährdung im Weltraum» richtete. Meine Befürchtung bestand darin, dass auch der Weltraum verschmutzt werden könnte wie die Meere, die Luft und der Boden, und die Schweiz ist ja Mitglied der European Space Agency (ESA). Es ging mir darum, vorbeugend Einfluss auszuüben.

zentralplus: Und wie ging die Sache aus?

Stamm: Der Bundesrat beruhigte, niemand zeigte Interesse, und ich verfolgte das Thema daraufhin auch nicht weiter. Heute haben wir die Bescherung, was sich nicht anders ausdrücken lässt. An einem diesjährigen veranstalteten Podium anlässlich der Mondlandung von 1969 hörte ich einen Ingenieur für Weltraummüll über besagte Probleme sprechen. Lieber hinterher klagen als im Vorfeld geeignete Massnahmen zu treffen, scheint immer wieder die Devise zu sein.

zentralplus: Parlamentarierinnen und Parlamentarier stossen demnach immer mal wieder mit dem Kopf gegen die Wand. Welche Eigenschaften sind Ihrer Meinung nach notwendig, wenn man in die Politik einsteigen will?

Stamm: Hartnäckigkeit, Konstanz und wohl auch eine Prise Humor. Vor meinem Nationalratsmandat war ich bereits als Grossrätin im Kanton Luzern tätig und stellte mir vor, die grosse Kammer sei einfach als eine Art Fortsetzung anzusehen, doch die Realität holte mich rasch ein.

zentralplus: Was änderte sich konkret?

Stamm: Als nationale Politikerin musste ich mich in viele neue Themengebiete einarbeiten, und auf der Ebene Bund immer wieder den Medien Rede und Antwort stehen. Meine Haltung zu einem Geschäft, die ich im Parlament vertrat, musste klar begründet werden. Zu Beginn wurde mir einmal vorwurfsvoll vorgehalten: «Von Ihnen liest man nie etwas in der Zeitung. Wozu haben wir Sie eigentlich nach Bern geschickt?»

zentralplus: Das Blatt hat sich bald gewendet und Sie galten zunehmend als medienpräsente, aber auch unbequeme Politikerin. Mit Ihrem Engagement für die Fristenregelung beispielsweise haben Sie sich seinerzeit nicht nur Freunde geschaffen. Wie stark muss man sich mit dem jeweiligen Parteiprogramm identifizieren?

«Ursprünglich stand ich dem Frauenstreik skeptisch gegenüber, mischte mich aber dann doch unter die Leute.»

Stamm: In erster Linie sollte eine Partei ausgesucht werden, in deren Rahmen man sich bewegen kann. Im Verlaufe der Jahre wird es immer wieder politische Anliegen geben, bei denen ein Parlamentsmitglied vor- oder nachgeben kann. Und schliesslich bleiben auch Themen übrig, die nicht verhandelbar sind. Bei mir standen diesbezüglich die strafrechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs, die Fristenregelung, im Zentrum.

zentralplus: Was trieb Sie an?

Stamm: Mir lag viel daran, den betroffenen Frauen ein entsprechendes Zeitfenster zu ermöglichen, in welchem sie im Falle einer Abtreibung nicht mit einer strafrechtlichen Untersuchung rechnen mussten. Damit konnten wir den unwürdigen und gesundheitsschädigenden Zuständen der «Hinterhofabtreiber», mit denen ich es auch in meinem Beruf zu tun bekam, ein Ende setzen. Meine Absichten wichen in diesem Punkt vom Mainstream der CVP ab. Trotzdem wurde ich nach meiner Wahl durch die Bevölkerung – das Thema hatte den Wahlkampf beherrscht – auch von meiner Partei akzeptiert.

zentralplus: Inzwischen preschen immer mehr weibliche Mitglieder ins Bundeshaus vor. Wie erleben Sie die jungen Frauen?

Stamm: Sie bringen Schwung und frische Ideen in die Politik, was sich bereits im Rahmen des Frauenstreiks abgezeichnet hat. Ursprünglich stand ich diesem skeptisch gegenüber, mischte mich aber dann doch unter die Leute in Luzern und erlebte eine fröhliche Aufbruchsstimmung. Immer wieder kamen junge Frauen auf mich zu, um sich bei mir und meinen Altersgenossinnen zu bedanken für alles, was wir für sie erkämpft hatten. Es war in diesem Sinne ein Erntedankfest. Der weibliche Erfolg bei den diesjährigen Wahlen ist für mich auch unmittelbar auf diesen Streik zurückzuführen.

«Totgesagte leben länger.»

zentralplus: Die Lohndiskrepanz zwischen den Geschlechtern ist aber nach wie vor weitgehend ungelöst.

Stamm: Dieses Thema ist immer noch belastet durch den Umstand, dass im alten Eherecht der Ehemann verpflichtet war, das Einkommen zu gewährleisten. Ich glaube, die Idee des «Ernährerlohns» ist noch nicht vollständig aus allen Köpfen verschwunden, obwohl die entsprechende Revision des Eherechts jetzt schon dreissig Jahre alt ist. Das neue Eherecht trat am 1. Januar 1988 in Kraft.

zentralplus: Warum nicht?

Stamm: Man muss sich vorstellen, dass Heerscharen von jungen Männern in unserem Lande heranwuchsen mit dem Gedanken, dass sie genügend verdienen mussten, um eine Familie zu erhalten. Und Heerscharen von Arbeitgebern wussten, dass die Männer als «Ernährer der Familie» ein gutes Gehalt bekommen mussten. Das Frauen- und Familienbild mit seiner Rollenteilung wurde lange Zeit traditionell betrachtet. Ein Umdenken in der Gesellschaft lässt sich nicht so schnell vorantreiben. Allerdings ist Zurücklehnen für niemanden angesagt.

zentralplus: Themenwechsel: Die CVP hat sich bei den Parlamentswahlen halten können und sich in der Wählerstärke stabilisiert. Was sagen Sie dazu?

Stamm: Totgesagte leben länger. Uns wurde von allen Seiten der Untergang vorhergesagt. Das hat sicher eine Gegenreaktion ausgelöst. Zudem hat Parteipräsident Gerhard Pfister mit ruhiger Beharrlichkeit auf ein gutes Wahlresultat hingearbeitet, was er jetzt auch erreicht hat, und dazu kann man ihm nur gratulieren. Das sogenannte «Zünglein an der Waage» zu spielen, bedeutet Fluch und Segen zugleich. Wem diese Rolle zufällt, der trägt auch grosse Verantwortung.

zentralplus: Wie wirkt sich das im politischen Alltag aus?

Stamm: Bei jeder neuen Frage, die auf Messers Schneide zielt, muss die CVP die Situation besonders genau analysieren und überlegen, welche Schritte die Schweiz in eine gute Zukunft führen. Das gilt zum Beispiel auch für das CO2-Gesetz, das in der Wintersession im Nationalrat auf der Traktandenliste steht und verschiedene Restriktionen zugunsten des Klimas vorsieht. Betroffen ist aber auch das Thema «Ehe für alle».

zentralplus: Stichwort Abstimmungen und Wahlen: Die Grünen sind vorgerückt und gelten nun als viertstärkste Kraft im Parlament. Besteht Ihrer Meinung nach bereits jetzt Anspruch auf einen grünen Bundesratssitz?

Stamm: Im Augenblick existiert in der Landesregierung keine Vakanz. Ein wieder kandidierendes Bundesratsmitglied nicht zu wählen, um einen Sitz freizubekommen, steht für mich ausser Diskussion, grün und weiblich hin oder her. Ich habe 1986 aus einer anderen Motivation heraus für den Bundesrat kandidiert, aus Wut darüber, dass die CVP-Fraktion bei zwei freien Sitzen keine Frau als Nachfolgerin der scheidenden Magistraten Kurt Furgler und Alfons Egli in Betracht zog. Heute stehen die Wähleranteile im Fokus, die sich ja alle vier Jahre wieder verschieben können.

«Meine Zeit als aktive Politikerin ist vorbei.»

zentralplus: Im Jahr 2021 ist es 50 Jahre her seit der Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz. Was bleibt Ihnen besonders in Erinnerung?

Stamm: Eine grosse Enttäuschung bereitete uns der negative Ausgang in Bezug auf das Frauenstimmrecht 1959. Ein Jahr später zog ich nach Beendigung meines Jurastudiums in Zürich nach Luzern und baute eine neu geschaffene Stelle als weibliche Kriminalbeamtin auf, eine Aufgabe, die mich sehr in Anspruch nahm. Deshalb gehörte ich nicht zu jenen, die sich vor der Abstimmung 1971 auf Podien für das Frauenstimmrecht einsetzten. Sehr bald aber unterrichtete ich Polizeianwärter in Rechtsfragen, was mir die Möglichkeit bot, das fehlende Frauenstimmrecht zur Diskussion zu bringen. Im Kanton Luzern wurde es übrigens auf kantonaler Ebene bereits im Herbst 1970 eingeführt. Vor kurzem traf ich einen ehemaligen Polizeischüler, der mir mit einem Augenzwinkern gestand, dass er und seine Kollegen sich damals extra als Gegner profiliert hätten, weil sie wussten, dass ich darauf «allergisch» reagieren würde.

Eine Frau mit kurzen Haaren und einem Blazer an einem Schreibtisch 1971. Es ist ein leicht vergilbtes Schwarz-Seiss-Foto.
Die Eisbrecherin: 1971 findet Judith Stamm in der damaligen Männerdomäne Polizei Luzern ihren Platz.

zentralplus: Wie sieht Ihr heutiges Leben aus?

Stamm: Mein Interesse an den Parlamentsgeschäften hat nicht nachgelassen, aber meine Zeit als aktive Politikerin ist vorbei. Und die Bundesratswahl vom 11. Dezember sorgt wohl im Vorfeld für mehr Spekulationen, als sie dann in der Realität Überraschungen bringen wird, nehme ich an. Die zwanzig Jahre seit meiner letzten Kommissionssitzung im November 1999 sind im Eiltempo vorübergezogen. Das Präsidium der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft und das damit verbundene Präsidium der Rütlikommission haben mich mehrere Jahre auf Trab gehalten und schliesslich war ich an der Erarbeitung eines Buches über mich beteiligt.

zentralplus: Wo sind Sie heute noch aktiv?

Stamm: Aktuell arbeite ich in der Redaktion von Seniorweb, eine Internetplattform für Menschen ab 50, mit. Für den Blick zurück bleibt mir fast keine Zeit. Klimawandel, Digitalisierung, Migration: Die gesellschaftlichen Umwälzungen in unserer Gesellschaft beschäftigen mich wie andere Bürgerinnen und Bürger auch.

zentralplus: Stellt die Digitalisierung in Ihrem Leben eine grosse Hürde dar?

Stamm: Einerseits fasziniert sie mich, weil sie unser Leben in mancherlei Bereichen erleichtert und uns ungeahnte Einsichten verschafft. Gleichzeitig erlebe ich diese wie einen Tsunami. Sie bricht über uns herein und erobert immer neue Gebiete. Als älterer Mensch läuft man zudem leicht Gefahr, nicht mehr mithalten zu können. Ich besitze kein Smartphone, nur ein altmodisches Nokia, welches meine Bedürfnisse völlig befriedigt. Das wird so lange funktionieren, bis mein Leben nur noch mit den verschiedenartigen Apps zu bewältigen ist.

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