Luzerner Polizist über verdeckte Prostitution

Bordelle verschwinden – Sexarbeit in Airbnbs boomt

Seit 25 Jahren bei der Polizei: Simon Steger. (Bild: zvg)

Der Menschenhandel floriert mitten in Luzern – versteckt in Wohnungen und getarnt durch Liebesbeziehungen. Ermittler Simon Steger schildert eine brutale Realität, die oft unsichtbar bleibt – sogar für die Luzerner Polizei.

Menschenhandel ist kein fernes Phänomen – er findet auch mitten im Kanton Luzern statt. Simon Steger, Chef des Fachdienstes Milieu- und Sexualdelikte bei der Luzerner Polizei, kennt das Milieu wie kaum ein anderer. Er spricht über Verlagerungen in der Sexarbeit, Täterstrukturen und warum es so schwierig ist, Opfer zu schützen.

Wie viele Fälle es in Luzern gibt, lässt sich schwer beziffern. Die Kriminalstatistik schwankt – von null (2024) bis elf Fälle (2023) pro Jahr. Ermittlungen sind aufwendig, dauern oft Monate bis sogar Jahre und sind abhängig von den vorhandenen Ressourcen. Und: Viele Opfer melden sich nie bei der Polizei, wie Simon Steger sagt.

zentralplus: Simon Steger, Sexarbeit verlagert sich zunehmend in private Wohnungen. Prostitution wird somit noch «unsichtbarer». Wie ist die Situation in Luzern?

Simon Steger: Wir beobachten die Situation laufend. Die Verlagerung findet definitiv statt. Kleine und mittlere Sex-Etablissements verschwinden immer mehr. Gleichzeitig bleibt die Zahl von Sexarbeiterinnen laut Inseraten auf einschlägigen Plattformen stabil. Eher neu ist, dass Frauen nicht mehr unter dem Namen eines Studios inserieren, sondern private Handynummern angeben. Erst nach Kontaktaufnahme erfährt man den genauen Ort – meist Kurzzeitvermiet-Wohnungen wie beispielsweise Airbnb, vor allem in der Stadt und Agglomeration.

«Das Geschäft läuft unkontrolliert und damit verdeckter ab.»

zentralplus: Inwiefern bereitet Ihnen diese Entwicklung Sorgen?

Steger: Sie hat je nach Sichtweise Vor- und Nachteile. Sexarbeitende können selbständiger arbeiten, ihre Zeiten und Preise selbst bestimmen. Die Kehrseite: Es gibt kaum eine soziale Kontrolle, besonders wenn Frauen allein anschaffen. Passiert ein Übergriff, sind sie auf sich gestellt. Zuhälter können sie so noch leichter isolieren und kontrollieren. Sexarbeiterinnen können von einem Tag auf den anderen die Örtlichkeit wechseln. Das Geschäft läuft unkontrolliert und damit verdeckter ab. Für uns als Polizei bedeutet diese Entwicklung: Sexarbeitende sind nicht mehr so schnell auffindbar. Es braucht deutlich mehr Zeit und Personal, um überhaupt festzustellen, wo eine Sexarbeiterin arbeitet und ob sie dies freiwillig oder unter Zwang macht.

zentralplus: Eine Sexarbeiterin meinte gegenüber SRF, dass die Situation für die Polizei völlig ausser Kontrolle geraten sei.

Steger: Nein, das sehen wir nicht so. Fakt ist: Die Verlagerung erschwert unsere Arbeit. Aber wir passen uns laufend an und beobachten die Veränderungen sehr genau. Es ist eine Herausforderung im Kampf gegen Menschenhandel, aber keine ausweglose Situation.

zentralplus: Wer steckt eigentlich hinter dem Menschenhandel zwecks der sexuellen Ausbeutung – und wie hat sich das Täterbild im Laufe der Zeit gewandelt?

Steger: Der typische Täter ist immer noch männlich. Es gibt aber auch Frauen, die diverse Rollen in dem ganzen Komplex einnehmen und sich so zu Mittäterinnen machen. Meist stammen Täter und Opfer aus dem gleichen Land. Die Drahtzieher sitzen allerdings meist im Ausland und kontrollieren die Frauen beispielsweise über andere Sexarbeiterinnen – sogenannte Capo-Frauen – oder immer häufiger digital – per Handy, Ortung oder Kamera.

Kennt das Milieu wie kaum ein anderer in Luzern: Simon Steger. (Archivbild: ida) (Bild: ida)

zentralplus: Wie gelangen die Opfer überhaupt in die Schweiz? Gibt es da ein klares Muster?

Steger: Der Menschenhandel umfasst drei Phasen: die Anwerbung/Rekrutierung, der Transport und die Ausbeutung. Manche Frauen wissen sogar, dass es um Sexarbeit geht, ihnen wird aber ein besseres Leben, gute Arbeitsbedingungen und viel Geld versprochen. Andere denken, sie arbeiten in Restaurants oder in der Landwirtschaft – landen allerdings in der Prostitution. Ob mit oder ohne Einwilligung: Sind die Bedingungen hier ausbeuterisch, ist der Tatbestand von Menschenhandel erfüllt.

zentralplus: Und wie genau funktioniert der Transport?

Steger: Das hängt stark vom Herkunftsland ab. Frauen aus Osteuropa reisen oft per Zug auf Anweisung an. Daneben gibt es regelmässige Sammeltransporte mit Kleinbussen, die fast täglich in die Schweiz gelangen. Aus Drittstaaten wie Thailand läuft es noch organisierter: Dort werden bereits im Heimatland Pässe und Visa gefälscht, die Frauen reisen über Schengenländer ein, um nicht aufzufallen, und werden dann hier in der ganzen Schweiz verteilt. Das ist hochgradig durchorganisiert.

«Die Täter drücken alles aus ihnen raus und beuten die Frauen schamlos aus.»

zentralplus: Und was passiert, wenn sie einmal hier sind?

Steger: Dann beginnt die eigentliche Ausbeutung. In osteuropäischen Strukturen wird häufig mit direktem Druck und Androhung von Gewalt gearbeitet. In thailändischen Fällen eher über ein Schuldsystem. Den Frauen wird beispielsweise gesagt, sie müssten 30’000 Franken für die Reise in die Schweiz abarbeiten. Diese Schulden werden mit Bussen künstlich hochgehalten. Ein Entrinnen aus diesen Systemen ist kaum möglich. Die Täter drücken alles aus ihnen raus und beuten die Frauen schamlos aus.

zentralplus: Und dann gibt es noch das Phänomen des Loverboys …

Steger: Genau. Vor allem junge Frauen aus ärmlichen Verhältnissen, und damit besonders vulnerabel, werden gezielt gesucht und durch ebenfalls junge Männer hofiert. Sie machen den jungen Frauen Komplimente, überschütten sie mit Geschenken, vermeintlicher Liebe und der Mär einer gemeinsamen Zukunft. Verlieben sich die Frauen in diese Männer, ist die emotionale Abhängigkeit perfekt und sie werden für die vermeintlich bessere, gemeinsame Zukunft in die Prostitution getrieben. Dies ist mittlerweile ein bewährtes Mittel der ersten Phase, der Anwerbung.

zentralplus: Wie erkennen Sie, ob es sich bei einer Beziehung um eine Loverboy-Konstellation handelt?

Steger: Oft gar nicht. Viele Sexarbeiterinnen hier in Luzern haben einen Partner – teilweise sind sie sogar verheiratet und haben Kinder. Ob sie von diesem Partner unter Druck gesetzt oder ausgebeutet werden, sehen wir oft erst im Verlauf von Ermittlungen. Die emotionale Abhängigkeit ist enorm. Es braucht einen riesigen Leidensdruck, bis sich eine Frau selbst eingesteht: «Ich wurde nur benutzt.»

zentralplus: Können Sie das an einem konkreten Beispiel schildern?

Steger: In einem Fall wurde eine Sexarbeiterin straffällig. Während der Ermittlungen zeigte sich, dass ihr Freund eine dubiose Rolle spielte. Es sah sehr danach aus, dass er sie emotional und finanziell nur ausgenutzt und in die Prostitution getrieben hat. Sie überwies ihm ihr ganzes in der Prostitution verdientes Geld, während er ihr gegenüber immer wieder betonte, wie schlecht es ihm gehe und sie für ein gemeinsames Haus mehr Geld benötigen würden. Auf Social Media hingegen präsentierte er sich mit teuren Autos und anderem Luxus – mutmasslich finanziert vom Geld seiner Freundin. Es stellte sich ebenfalls heraus, dass er mehr als eine Beziehung dieser Art pflegte, was in solchen Fällen nicht selten ist. Sie wusste davon nichts – und wollte es auch nicht wahrhaben. Sie verweigerte jede Aussage gegen ihn.

zentralplus: Woran erkennt ihr, ob eine Frau freiwillig in der Prostitution arbeitet?

Steger: Das ist die grosse Herausforderung für uns. Ohne entsprechende Aussagen der Betroffenen können wir dies selten abschliessend beurteilen. Aber es gibt Indikatoren. Darf sie beispielsweise ihr Geld behalten? Hat sie Zugriff auf ihre Ausweisdokumente? Ist sie isoliert? Verhandeln andere Personen die Preise oder Dienstleistungen für sie? Je mehr solche Hinweise wir haben, desto stärker versuchen wir, sie mit Ermittlungen zu untermauern. Unser Ziel ist es immer, Vertrauen aufzubauen und die Frau dazu zu motivieren, mit uns zu sprechen – allerdings ohne Druck auszuüben. Das ist ein heikler Balanceakt, weil wir nicht wissen, in welche Gefahr wir sie dadurch womöglich zusätzlich bringen.

zentralplus: Und wenn sie nicht mit euch sprechen will?

Steger: Dann halten wir den Kontakt offen. Wir erklären immer, wer wir sind und was wir machen. Dass es uns nicht um Aufenthaltsbewilligungen geht und dass sie jederzeit auf uns zukommen können – auch informell. Parallel vermitteln wir an Opferhilfe-Organisationen wie die FIZ oder LISA.

«Diese Fälle erschüttern mich – aber sie gehören zum Alltag.»

zentralplus: Sie erleben in Ihrer Arbeit viele belastende Fälle von Ausbeutung. Gibt es einen, der Ihnen besonders nahegegangen ist?

Steger: Ja, das waren sicherlich die beiden Fälle mit den Roma-Buben, die kürzlich vor Gericht verhandelt worden sind. Zwei Männer, 52 und 74 Jahre alt, wurden wegen Menschenhandels mit minderjährigen Roma-Buben erstinstanzlich zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Sie waren Teil desselben Netzwerkes. Normalerweise beschäftigen wir uns mit Frauen, die ausgebeutet werden. In diesem Fall ging es aber um eine Vielzahl von minderjährigen Jungen, die über Jahre hinweg sexuell missbraucht wurden. Und das mitten in der Stadt Luzern. Die Kinder wurden von ihren eigenen Eltern – gegen Geld – zum Missbrauch zur Verfügung gestellt. Dass so etwas so lange unbemerkt blieb, war erstaunlich und erschreckt.

zentralplus: Wie gehen Sie mit solchen Fällen emotional um?

Steger: Als Polizist muss man sich abgrenzen, egal in welchem Bereich. Sonst hält man nicht wie ich 25 Jahre in diesem Beruf durch. Diese Fälle erschüttern mich – aber sie gehören zum Alltag. Kindesmissbrauch, Menschenhandel, Kinderpornografie sind leider tägliches Geschäft. Schlaflose Nächte habe ich deswegen zum Glück nicht.

zentralplus: In Ihrem Fachdienst kam es kürzlich zu einer Umstrukturierung.

Steger: Ja, wir haben drei zusätzliche Stellen für den Kampf gegen den Menschenhandel erhalten. Ein kleiner Fortschritt, aber noch kein Durchbruch. Denn: Solche Delikte kommen selten von alleine zu uns – wir müssen sie in der Regel selbst suchen und entdecken. Das bedeutet: Präsenz zeigen, Hinweise prüfen, dranbleiben, loslassen und wieder neu anfangen. Das kostet viel Zeit und benötigt Ressourcen, die wir nicht immer haben.

zentralplus: Der nationale Aktionsplan nimmt die Polizeikorps in die Pflicht, den Fokus vermehrt auch auf Arbeitsausbeutung zu legen.

Steger: In diesem Bereich waren wir bis Ende letzten Jahres noch nicht aktiv, der Aktionsplan ist Teil der Umstrukturierung und der Erweiterung unseres Aufgabenportfolios; das relativiert auch die Aufstockung wieder etwas.

zentralplus: Gibt es Parallelen zwischen Arbeitsausbeutung und sexueller Ausbeutung?

Steger: Absolut. Es geht um denselben Mechanismus: Menschen werden mit falschen Versprechen angeworben, in die Schweiz gebracht und ausgebeutet – ob auf dem Bau oder im Bordell. Nur die Betroffenen unterscheiden sich: Bei sexueller Ausbeutung sind es meist Frauen oder Trans-Personen, bei Arbeitsausbeutung oft auch Männer – und Kinder. Die Fussball-WM in Katar hat das Thema Arbeitsausbeutung ins allgemeine Bewusstsein gerückt, aber hierzulande bleibt es oft unsichtbar.

zentralplus: Können Sie konkrete Bereiche nennen, in denen Menschenhandel zwecks Arbeitsausbeutung in Luzern öfters vorkommt?

Steger: Grundsätzlich gibt es Branchen, die anfälliger für Ausbeutungssituationen sind. Dazu gehören Baugewerbe, Landwirtschaft, Gastronomie und der Beautysektor, wie etwa Barbershops und Nagelstudios. Welche Bereiche im Kanton Luzern explizit betroffen sind, wird die Zukunft zeigen.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Simon Steger, Chef des Fachdienstes Milieu- und Sexualdelikte, Luzerner Polizei
  • Beitrag von «SRF Rundschau»
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