Pünktlichkeit gehört zu den grössten aller Schweizer Tugenden. Entsprechend hoch sind die Ansprüche an den öffentlichen Verkehr. Der Luzerner ÖV steht nun an einem Scheideweg: Soll er eine bleibende positive Wirkung auf das Verkehrsaufkommen haben, muss er in den nächsten Jahren klar zuverlässiger werden.
Die nächsten vier Jahre sind für den Luzerner ÖV entscheidend. Die längerfristige Entwicklung des ÖV-Angebotes – positiv oder negativ – könnte von den Massnahmen abhängen, die in den nächsten Jahren umgesetzt oder angestossen werden. Dies ist dem kürzlich erschienenen Entwurf zum ÖV-Bericht 2022 bis 2025 zu entnehmen.
Einer der Kernpunkte des Berichts: die Zuverlässigkeit des Luzerner ÖV. Die aktuelle Lage wird darin nicht schöngeredet: «Zahlreiche Buslinien erleiden Verlustzeiten und dadurch Anschlussbrüche», heisst es bereits im Einstieg in das Dokument.
Unpünktlichkeit ist aus mehreren Gründen ein zunehmend grosses Problem für den ÖV – und die Zeit für Verbesserungen drängt. Hier die wichtigsten Fragen und Antworten dazu:
Welche sind die «Problemlinien»?
Während den Stosszeiten sind praktisch alle Linien der Stadt und Agglomeration Luzern von Verlustzeiten – sprich Verspätungen – betroffen, die auf Hauptachsen oder stark belasteten Nebenachsen verkehren. Einige Beispiele:
- Linie 1: Auf diversen Abschnitten in Kriens (Obernau-Kriens, Kupferhammer-Kriens), Luzern (Eichhof-Bahnhof-Schlossberg und umgekehrt Maihof-Pilatusplatz – betrifft auch alle anderen auf diesen Abschnitten verkehrenden Linien) und Ebikon (Ortszentrum).
- Linien 7/14: Im Abschnitt Dreilinden-Wey.
- Linie 19: In den Bereichen St. Karli-Schlossberg.
- Linien 22 und 111: Im Bereich Reussbrücke und zahlreiche weitere Linien an verschiedenen Orten. In den letzten Wochen häufen sich die Verspätungen wieder markant – dies bedingt durch die generelle Zunahme des motorisierten Individualverkehrs (MIV).
- Linie 40: Auf der Seetalstrasse Flugzeugwerke-Seetalplatz.
- Linien 41–44: Zwischen Rüeggisingen und Sonnenplatz.
- Linien 63, 66, 271, 277: Zwischen Burgrain und Willisau.
- Sämtliche Linien im Bereich Ringstrasse Sursee.
Wie hat sich die Pünktlichkeit verschlechtert?
Der vorliegende Bericht legt nahe, dass es bei der Zuverlässigkeit des ÖV in den letzten Jahren zu einer negativen Entwicklung gekommen ist. Die aktuellsten Daten dazu wurden zwischen 2011 und 2018 erhoben, wie der Verkehrsverbund Luzern auf Anfrage mitteilt.
In der folgenden Grafik ist die Veränderung der Durchschnittsgeschwindigkeiten pro Streckenabschnitt auf den VBL-Linien in diesen Jahren ersichtlich:
«Es lässt sich festhalten, dass die Durchschnittsgeschwindigkeiten in dieser Zeit gesunken sind, ausser dort, wo in der Zwischenzeit Busbevorzugungsmassnahmen umgesetzt wurden», erklärt VVL-Mediensprecher Romeo Degiacomi. Solche Massnahmen wurden etwa bei der Pilatusstrasse (bahnhofwärts) oder der Schachenweid in Ebikon (stadteinwärts) implementiert.
Grosse Verschlechterungen gab es vor allem auch im Umfeld der neuen Autobahnanschlüsse Rothenburg und Buchrain, ergänzt Degiacomi. Beide Anschlüsse wurden im Jahr 2011 eröffnet.
Was sind Störquellen?
Eines der im ÖV-Bericht definierten Ziele lautet so: «Zuverlässigkeit des ÖV erhöhen durch konsequente Eliminierung von Störquellen.» Es sind oftmals Knotenpunkte, wie beispielsweise die oben genannten Autobahnanschlüsse, die zu Verzögerungen und Verspätungen im Busbetrieb führen. Der VVL nennt zudem folgende Beispiele für weitere Störquellen:
- Lichtsignalanlagen (Ampeln) mit langen Wartezeiten und ohne Busbevorzugung.
- Zu kurze beziehungsweise zu wenige Durchmesser-Haltekanten am Bahnhofplatz Luzern. Dies verunmöglicht mehr Durchmesserlinien und behindert teilweise die restlichen Linien und den übrigen Verkehr.
Wie sollen die Störquellen eliminiert werden?
Die geforderte «konsequente Eliminierung von Störquellen» soll in erster Linie mittels «punktuellen Einschränkungen» für den motorisierten Individualverkehr (MIV) umgesetzt werden. Dies wiederum kann durch verschiedene Massnahmen bewerkstelligt werden:
- Verkehrsmanagement/Busbevorzugung an Lichtsignalanlagen: Ein Beispiel dafür findet sich am Seetalplatz. Allenfalls wird dies mit Dosierstellen vor Engpässen verbunden. Beispiele dafür sind die Haldenstrasse beim Bahnübergang Dietschiberg oder Schwachenweid vor dem Kreisel in Ebikon.
- Bus als sogenannter Pulkführer: Dies kann beispielsweise mit Fahrbahnhaltestellen statt Busbuchten errmöglicht werden. «Im Rahmen des hindernisfreien und behindertengerechten Ausbaus von Bushaltestellen ohnehin vielfach aus Platzgründen eine opportune Lösung», fügt Degiacomi an.
- Reduktion und/oder Bewirtschaftung von Parkplätzen: Im Fokus liegen dabei die Zentrumsbereiche, die vom ÖV gut erschlossen sind. Hier könnten etwa Massnahmen wie Mobilitätsmanagement in Unternehmen zum Greifen kommen (zentralplus berichtete).
Was soll bis 2025 erreicht werden?
Verbessert sich die Zuverlässigkeit der Linienbusse, müssen auch weniger von ihnen zur gleichen Zeit auf der Strasse sein. Genauer gesagt minimiert sich dadurch die Notwendigkeit zusätzlicher teurer Fahrzeuge für die betrieblich instabilen Spitzenzeiten.
Ein weiteres im ÖV-Bericht festgehaltenes Ziel für das Jahr 2025 sieht deshalb eine Reduktion solcher zusätzlicher Busse vor. Die Anzahl zusätzlicher Busse pro Linie zur Stosszeit soll von heute zehn auf sieben reduziert werden können.
Um dies zu erreichen, müsse aber umgehend gehandelt werden, heisst es im Bericht: «Es besteht das Risiko, dass infolge nicht rechtzeitig umgesetzter Busbevorzugungsmassnahmen die Zuverlässigkeit des Busbetriebs nicht derart verbessert werden kann, dass der Anteil zur Stabilisierung der Umläufe notwendigen Fahrzeuge reduziert werden kann.»
Was ist das übergeordnete Ziel?
Das übergeordnete Ziel dieser «Pünktlichkeitskampagne» ist es aber nicht nur ein paar Busse weniger auf der Strasse zu sehen, sondern eine spürbare Verschiebung des Modalsplits vom motorisierten Individualverkehr (MIV) zum ÖV zu bewirken. Zur Erinnerung: Unter dem Modalsplit ist die Verteilung des Transportaufkommens auf die verschiedenen Verkehrsträger oder Verkehrsmittel (Modi) zu verstehen.
Der Anteil jener, die den ÖV nutzen, soll bis 2025 erhöht werden. Dabei wird zwischen drei verschiedenen Raumtypen unterschieden:
- In der Stadt Luzern steigt der ÖV-Anteil von 42 auf 45 Prozent.
- In der Agglomeration Luzern steigt der ÖV-Anteil von 20 auf 30 Prozent.
- Im ländlichen Raum steigt der ÖV-Anteil von 16 auf 20 Prozent.
Um diese Anteilserhöhung zu erreichen, muss der ÖV eine attraktive Option sein. Der Faktor Zuverlässigkeit macht dabei den wesentlichen Teil dieser Attraktivität aus, wie Romeo Degiacomi erklärt: «Verspätete Busse sorgen für verpasste Anschlüsse und führen zu deutlich längeren Reisezeiten, insbesondere wenn die Anschlussverbindungen nur alle 30 oder gar 60 Minuten verkehren. Dadurch wird der ÖV unattraktiver und die Fahrgäste steigen aufs Auto um.»
In der Folge bedeutet dies wiederum: Autos benötigen mehr Platz auf den Strassen, sind also nicht flächeneffizient, womit Staus länger und die Verspätung – unter anderem auch der Busse – noch grösser wird.
Warum drängt die Zeit für Verbesserungen?
Der ÖV-Bericht schaut naturgemäss voraus. Und am Horizont zeichnen sich bereits die langen Schatten dreier Bauprojekte ab, die das Luzerner ÖV-Netz an den Anschlag bringen könnten: der Luzerner Bypass (ab zirka 2025), die Erweiterung des Autobahnanschlusses Emmen Nord (ab zirka 2026) und der Bau Durchgangsbahnhof (ab zirka 2030).
Die teilweise überlappenden Bauzeiten werden, insbesondere für den Busverkehr, «teilweise erhebliche Einschränkungen» bedeuten, wie im ÖV-Bericht zu lesen ist. Beim Bau des Durchgangsbahnhofs (DBL) kommen wohl noch zusätzliche Einschränkungen im Bahnverkehr hinzu. Die dann notwendigen Bahnersatzbusse werden ihrerseits aber von den Störungen im Strassenverkehr betroffen sein.
«In dieser Zeit wird einerseits die Zuverlässigkeit der Buslinien wie auch die Kapazität des gesamten ÖV zu einer grossen Herausforderung», warnt der Bericht. Die Gefahr: Die dadurch gegebenenfalls mangelnde ÖV-Attraktivität könnte zu einem stärker steigenden MIV-Aufkommen beitragen, was die Situation zusätzlich verschärft.
Wieso ist auch der Durchgangsbahnhof davon abhängig?
Apropos DBL: Auf dem Durchgangsbahnhof ruht die Hoffnung der Luzerner Verkehrspolitik zum Befreiungsschlag für den ÖV im Kanton Luzern und der Zentralschweiz. In seiner Würdigung des Berichtsentwurfs spricht der VVL-Verbundrat – das oberste Gremium des Verbandes – diese Hoffnungen an.
Der Erfolg des DBL hänge jedoch nicht zuletzt auch von der Zuverlässigkeit der Buslinien ab. Ist dies nicht der Fall, so könne «der potenzielle Nutzen des DBL zu wenig ausgeschöpft werden», warnt der Verbundrat.
Was sind die «Joker-Faktoren»?
Die Auswirkungen zweier Faktoren können laut dem Bericht heute noch nicht vollständig abgeschätzt werden: die Klimadiskussion und die Covid-Pandemie. Die Klimadiskussion könnte eine grosse Chance für den ÖV bedeuten. Dies, wenn sie tatsächlich zu einer Verhaltensänderung in der Mobilität führt.
«Ohne bessere Zuverlässigkeit keine Verkehrsverlagerung und damit keine Klimawende.»
Romeo Degiacomi, Mediensprecher Verkehrsverbund Luzern
Eine höhere Nachfrage im ÖV bedeutet auch höhere Erlöse und eine gleichzeitige Abnahme des MIV. Beides könnte zu einer höheren Zuverlässigkeit führen. «Zudem sind der ÖV und der Fuss- und Veloverkehr deutlich energieeffizienter und umweltfreundlicher als der MIV, was in Zeiten des Klimaziels elementar ist. Das heisst: Ohne bessere Zuverlässigkeit keine Verkehrsverlagerung und damit keine Klimawende», ergänzt Degiacomi.
Die Auswirkungen der Covid-Pandemie auf den ÖV sind derzeit noch ziemlich vage. Klar ist, dass mit den behördlichen Anordnungen ab März 2020 eine erheblich tiefere Nachfrage und damit Erlösausfälle hingenommen werden mussten (zentralplus berichtete). Die Nachfrage erholte sich seither gut. Es ist jedoch noch unklar, wann der Rückgang über die gesamte ÖV-Nachfrage vollständig wettgemacht ist. Aktuelle Prognosen der ÖV-Branche gehen von zirka 2023 aus.
Der Entwurf des ÖV-Berichts ist noch bis zum 28. Januar 2022 in der Vernehmlassung. Behörden, regionale Entwicklungsträger, Parteien, Interessenverbände und Transportunternehmen können bis dahin zum Berichtsentwurf Stellung nehmen.