:focal(1416x661:1417x662)/www.zentralplus.ch/wp-content/uploads/2025/03/beistandsschaft_menschen_mit_behinderung-scaled.jpeg)
Der Kanton Zug will Menschen mit geistiger Behinderung oder einem Beistand nicht länger von Abstimmungen abschliessen. Damit wäre er in der Schweiz Vorreiter. Doch die Änderung polarisiert.
93 Zugerinnen erhalten kein Wahl- oder Abstimmungscouvert – obwohl sie über 18 Jahre alt sind, Steuern zahlen und hier leben. Denn: Die Bundesverfassung sieht für politische Rechte eine Ausnahme vor. Wer «wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt» ist, dem werden seine Rechte vorenthalten. Sprich: Weil einige Zuger eine geistige Behinderung haben oder wegen ihres hohen Alters einen Beistand, dürfen sie nicht abstimmen.
Damit verstossen die Kantone wie auch die Schweiz gegen Völkerrecht. 2014 trat die Uno-Behindertenrechtskonvention in der Schweiz in Kraft. Damit hat sich die Schweiz nebst anderen Ländern dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderung gegen Diskriminierung zu schützen oder ihre Gleichstellung zu fördern. Explizit auch Teil der Konvention: «Die Vertragsstaaten garantieren Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte sowie die Möglichkeit, diese gleichberechtigt mit anderen zu geniessen.»
Vorlage spaltet Kommission
Seit über zehn Jahren müssten behinderte Menschen also ebenfalls ein Wahl- oder Abstimmungscouvert erhalten – tun sie aber bis heute nicht. In Luzern wurde dazu vor zwei Jahren eine Initiative lanciert (zentralplus berichtete). In Zug soll sich das ebenfalls ändern: Nach einer Motion von Mitte- und ALG-Kantonsräten will der Kanton Menschen mit Behinderung ab 2026 ihre politischen Rechte nicht länger vorenthalten (zentralplus berichtete).
Rechtlich ist der Fall klar – doch politisch scheiden sich die Geister, wie der Bericht der vorberatenden Kommission zeigt. Die vorberatende Kommission hat die Vorlage nur äusserst knapp angenommen – mit acht zu sieben Stimmen.
Prüfung für jeden Einzelnen?
Für die Mehrheit solle der Kanton Zug innovativ vorangehen und seinen Verpflichtungen nachkommen. Um die Gleichberechtigung und Teilhabe aller zu fördern, sei ein vorübergehender Mehraufwand gerechtfertigt. Zudem solle letztlich die Zuger Stimmbevölkerung darüber entscheiden, und die Diskussion nicht schon vorher abgeklemmt werden.
Die Minderheit – wie auch einige Zuger Gemeinden im Rahmen der Vernehmlassung – plädierten dafür, jeweils im Einzelfall zu prüfen, ob die Person fähig genug für eine Abstimmung oder Wahl sei. Einschätzen soll das jeweils die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB). Diese prüfe bereits heute, ob und in welchem Umfang ein Beistand nötig ist. Also, ob eine Person beispielsweise nur Hilfe bei Steuererklärungen und Verträgen benötigt oder ob sie den kompletten Zugang zu ihrem Bankkonto verliert.
- Ja, diese Diskriminierung gehört abgeschafft!
- Nein, wer nachweislich nicht für sich selbst sorgen kann, kann auch keine Entscheide für die Gemeinschaft treffen.
- Das kommt ganz auf die Person an...
Der Kanton Zug hat im Rahmen der Kommissionsarbeit zwei mögliche Varianten geprüft. Entweder, Personen beantragen jeweils ihr Stimmrecht und die Kesb prüfe das Gesuch im Einzelfall. Oder die Kesb prüfe beim Entscheid für eine umfassende Beistandschaft oder eine gesetzliche Vertretung auch, ob sie allenfalls trotzdem abstimmen oder wählen könne. Für eine solche Prüfung müsste die KESB aber in jedem Fall eine Hausärztin oder einen Psychiater zu Rate ziehen – was entsprechend kostet. Doch die Kommission hat sich letztlich mit acht zu sechs Stimmen für eine Variante ohne Prüfung entschieden.
Auf Bundesebene läuft Diskussion ebenfalls
Nebst der Prüfung wollte eine Minderheit der Kommission das Vorhaben grad ganz kippen. Denn: Entsprechende Bestrebungen laufen derzeit auch auf Bundesebene. Im Oktober 2024 hat die Staatspolitische Kommission des Nationalrats – ebenfalls äusserst knapp – eine Kommissionsmotion beschlossen. Der Bundesrat beantragt die Annahme der Motion.
Zug solle deshalb die Füsse stillhalten, bis der Bund eine entsprechende Regelung ausgearbeitet hat. Nicht, dass Zug beispielsweise eine Prüfung im Einzelfall einführt, der Bund jedoch nicht, argumentierte die Minderheit. Doch auch dieses Anliegen scheiterte in der Kommission knapp.
Als Nächstes wird sich nun der Zuger Kantonsrat damit beschäftigen. Und gegen Oktober oder November allenfalls noch die Zuger Stimmbevölkerung.
In Genf bereits Usus
Würde Zug das Wahl- und Stimmrecht auf Menschen mit Behinderung ausweiten, wäre er der dritte Kanton. Vor rund einem Jahr hat – ausgerechnet – die Landsgemeinde des Kantons Appenzell Innerrhoden die entsprechende Änderung befürwortet. Also der Kanton, der als letzter das Frauenstimmrecht einführte. Bis behinderte Appenzeller jedoch ebenfalls zur Landsgemeinde aufmarschieren dürfen, dauert es noch. Die neue Verfassung tritt voraussichtlich 2027 in Kraft.
Bereits abstimmen können Menschen mit Behinderung in Genf. Die dortige Stimmbevölkerung hat eine entsprechende Änderung Ende November 2020 angenommen – mit einer Mehrheit von 75 Prozent. Bei den letzten Wahlen im März haben beispielsweise rund 1200 Personen unter Vormundschaft ihr Wahlmaterial erhalten, wie die Genfer Staatskanzlei auf Anfrage schreibt. Wie deren Wahlbeteiligung sei, wisse der Kanton nicht, da er keine Statistiken darüber führe.
Probleme seit der Ausweitung des Wahlrechts in Genf seien dem Kanton nicht bekannt. Um die politische Meinungsäusserung zu erleichtern, habe der Kanton im Juni 2021 jedoch Wahlanleitungen als Videos und PDFs in leicht lesbarem und verständlichen Französisch eingeführt. Von diesen dürften alle profitieren. Denn auch geistig weniger eingeschränkte Personen tun sich teils beim Abstimmen schwer (zentralplus berichtete).
- Bericht und Antrag der Regierung zur Verfassungsänderung
- Bericht der vorberatenden Kommission zum Wahlrecht für Menschen mit Behinderung in Zug
- Webseite des Kantons Zug zur KESB
- Beitrag «Regionaljournal Ostschweiz» zur Landsgemeinde im April 2024 von Appenzell Innerrhoden
- Informationen des Bundes zur Uno-Behindertenrechtskonvention
- Schweizer Bundesverfassung
- Artikel von Swissinfo zur Genfer Abstimmung vom November 2020
- Medienmitteilung der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats
- Motion der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats
- Schriftlicher Austausch mit Genfer Staatskanzlei