Das sagen Luzerner Politikerinnen

So (un)-vereinbar sind Politik und Familie

Kind, Politik und Beruf – eine Herkulesaufgabe für viele junge Eltern. (Bild: Adobe Stock)

Wie schwer haben es junge Mütter in der Politik? Der Fall einer Berner Nationalrätin, die während des Mutterschaftsurlaubs am Parlamentsbetrieb teilnahm und daher Mutterschaftstaggelder zurückbezahlen musste, sorgt für Kopfschütteln. Wir haben mit Luzernerinnen gesprochen.

Küken nicht mehr bei lebendigem Leibe zu schreddern, der Ausbau von Nationalstrassen: An der Märzsession 2019 diskutiert der Nationalrat über vieles. Eines wurde jedoch erst später zum grossen medialen Thema: Denn auch die Berner Nationalrätin Kathrin Bertschy (GLP) nahm an der Märzsession fast täglich teil.

Das Problem: Bertschy hat eine Tochter, die sie 2018 auf die Welt gebracht hat. Bis Ende März wäre sie noch im Mutterschaftsurlaub und erhielt währenddessen Mutterschaftsentschädigung. Und zeitgleich eine volle Entschädigung als Parlamentarierin.

Die Ausgleichskasse Bern teilte ihr deswegen mit, dass sie die Mutterschaftstaggelder zurückbezahlen müsse, die sie im März bezogen hatte. Mit der Wiederaufnahme der Parlamentstätigkeit habe der Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung geendet.

Aktuell sind mehrere Standesinitiativen hängig, die eine Gesetzesänderung fordern. Auch in der Stadt Luzern tut sich was: In einer kürzlich eingereichten dringlichen Motion fordern Grossstadträtinnen namens der SP und der Grüne/Junge-Grüne-Fraktion, dass der Stadtrat über die Bücher gehen solle. Sie fordern eine Übergangslösung: Die Stadt soll einen allfälligen Ausfall vollumfänglich ausgleichen, wenn in Folge der parlamentarischen Tätigkeit der Anspruch auf Erwerbsersatzentschädigung aberkannt wird.

Andrea Gmür musste sich einiges anhören

Frauen, die im parlamentarischen Kontext politisieren, sind historisch gesehen ein neues Phänomen. Die Ursprünge der Demokratie, wie wir sie heute kennen, sei «von Männern für Männer» gelegt worden, sagte die Historikerin und Geschlechterforscherin Fabienne Amlinger gegenüber zentralplus.

Nicht selten werden Parlamentarierinnen mit dem Vorwurf konfrontiert, eine «Rabenmutter» zu sein. Dass eine Mutter politisieren will – das eckte an. Das weiss auch die Luzernerin Andrea Gmür. Sie ist Mutter von vier mittlerweile erwachsenen Kindern.

2007 bis 2015 war sie Kantonsrätin, 2015 schaffte sie den Sprung in den Nationalrat. Seit drei Jahren ist sie Ständerätin. «Ich musste hören, weshalb ‹die überhaupt kandidiert, wenn die doch vier Kinder zu Hause hat. Die soll sich um ihre Kinder kümmern›», schildert Gmür auf Anfrage die kritischen Aussagen, die sie sich damals anhören musste. Solche Sprüche gebe es bei einem Mann nicht.

Ständerätin Andrea Gmür.
Ständerätin Andrea Gmür kandidiert an den Wahlen 2023 erneut. (Bild: zvg)

SP-Kantonsrätin Simone Brunner spricht von einem Armutszeugnis

Und wie schätzen junge Frauen aus Luzern, die Mütter und Politikerinnen sind, die Vereinbarkeit von Parlamentsarbeit und Familie ein? Es ist herausfordernd, in dem ist man sich einig.

SP-Kantonsrätin Simone Brunner wurde kürzlich Mutter. Bis Anfang November befindet sie sich noch im Mutterschaftsurlaub. Dieser stelle auch eine der grössten Baustellen dar. Seit gut 50 Jahren dürfen Frauen in der Schweiz politisch mitbestimmen, führt Brunner aus. «Seit 2005 haben wir eine Mutterschaftsversicherung. Trotzdem weiss man im Jahr 2022 immer noch nicht, wie man den Mutterschutz und das Recht darauf, seine politischen Rechte auszuüben, in Einklang bringt.» Dafür findet die 33-Jährige klare Worte: «Das ist wirklich ein Armutszeugnis.»

Aktuell sei die Parlamentstätigkeit im Kanton Luzern während 14 Wochen untersagt. «Das heisst, es darf weder an den Sessionen noch an Kommissions- und Fraktionssitzungen teilgenommen werden. Die Frage, ob in dieser Zeit ein Vorstoss eingereicht oder Medienauskünfte erteilt werden dürfen, ohne dass die Mutterschaftsentschädigung in Gefahr ist, ist ungeklärt», so Brunner, die als Abteilungsleiterin bei der Stiftung Pro Juventute arbeitet.

SP-Kantonsrätin Simone Brunner. (Bild: zvg)

Silvana Leasi: Wann sie das politische Amt antritt, war gut durchdacht

Silvana Leasi sitzt seit März dieses Jahres für Die Mitte im Grossen Stadtrat Luzern. Vor rund neun Monaten hat sie ihren zweiten Sohn zur Welt gebracht. Leasi arbeitet in einem fast 100-Prozent-Pensum bei der Emmi-Gruppe im Management. Als im Stadtparlament der Sitz von Agnes Keller-Bucher freigeworden ist, habe sie sich gut überlegt, nachzurücken. «Weil ja bereits die Vereinbarkeit von Beruf und Familie viel Flexibilität fordern», sagt die 41-Jährige am Telefon. «Und ich habe mir gesagt: Wenn ich Politik mache, dann will ich der Sache auch gerecht werden.»

Innerhalb der Fraktion habe man sich auch bewusst abgesprochen, sodass Leasi nach ihrem Mutterschaftsurlaub das politische Amt aufnehmen konnte. Insgesamt sei Beruf, Politik und Familie «zwar schon vereinbar, aber mit gewissen Abstrichen», wie Leasi sagt. «Es verlangt definitiv etwas von einem ab», sagt sie, während ihr Sohn im Hintergrund zu hören ist. Dass man Prioritäten setzen und Abstriche machen muss, hören wir auch von anderen Politikern.

Grossstadträtin Silvana Leasi (Die Mitte). (Bild: zvg)

Sitzungen im Voraus planen

Simone Brunner und Silvana Leasi schätzen beide, dass die Sitzungstermine jeweils gut im Voraus geplant seien. So sind die Termine rund um das Amt als Kantonsrätin laut Brunner bei Legislaturbeginn, also vier Jahre im Voraus, bekannt. Und auch die Parlamentssitzungen im Stadtparlament sind gut vorgeplant, so Leasi.

Hinderlich sei es, wenn Termine kurzfristig verlängert oder einberufen werden. «Häufig geht vergessen, dass es junge Mütter und Väter im Parlament gibt, die nicht einfach so mal schnell eine Stunde länger an der Session oder einer Kommissionssitzung teilnehmen können», sagt Brunner. Schliesslich müssen die Kinder von der Kita oder der Schule abgeholt und betreut werden.

Auch Väter hadern mit der Vereinbarkeit

Väter hadern genauso mit der Vereinbarkeit. SP-Kantonsrat Hasan Candan sitzt seit elf Jahren im Parlament. Im letzten November wurde er Vater eines Sohnes. Mit seiner Partnerin hat er gemeinsam entschieden, dass sie ihr Kind während des ersten Lebensjahres nicht fremdbetreuen wollen.

In den letzten Jahren habe der Aufwand generell zugenommen, die Fehlertoleranz aber nicht. Politiker müssten zeitnah auf Aktualitäten reagieren, in den sozialen Medien präsent sein. «Gleichzeitig trägt der Kanton Luzern nicht dazu bei, Arbeitslast, Organisation und Koordination im Kantonsrat gemäss den Bedürfnissen von Familien entgegenzukommen», sagt Candan. Zum Beispiel sei entschieden worden, dass die Sitzungen für dieses Jahr früher beginnen und später aufhören. Das bedeutet: zusätzlicher Koordinationsaufwand bei der Kinderbetreuung.

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SP-Kantonsrat Hasan Candan. (Bild: bic)

Hasan Candan bemängelt Entlöhnung

Candan bemängelt unter anderem, dass die Besoldung eher tief ausfalle. Diese wird als Grundentschädigung und Sitzungsgeld ausbezahlt. Das Sitzungsgeld richte sich nicht am effektiven Aufwand, sondern ob eine physische Teilnahme an der Sitzung erfolgte. «Muss eine Sitzung kurzfristig ausgelassen werden, dann wird kein Sitzungsgeld ausbezahlt, trotz hohem Aufwand zur Vorbereitung.»

Das treffe diejenigen besonders, welche Eltern sind. Die meisten reduzieren ihr Arbeitspensum nach der Geburt eines Kindes, die junge Familie hat ein geringeres Einkommen. «Praktisch in jedem Fall fahren Familien schlechter, wenn sie das Berufspensum herunterfahren oder gleichbehalten zugunsten des Kantonsratsmandats», so der 37-Jährige.

Das gibt auch Parteikollegin Simone Brunner zu denken. Für Alleinerziehende oder Menschen mit unregelmässigen Arbeitszeiten sei die Vereinbarkeit aus strukturellen Gründen kaum möglich. «Diese Menschen bleiben dann der Politik häufig fern, was uns aus demokratiepolitischen Überlegungen zu denken geben muss. Denn ihre Stimme, ihre Ideen und ihre Anliegen fehlen im politischen Prozess.»

«Stossend», die geltende Praxis

Zurück zum Fall Bertschy: Andrea Gmür betont, dass das Bundesgerichts bestehendes Recht anwende. «Junge Mütter werden durch die aktuelle Gesetzgebung faktisch von der Wahrnehmung ihres Volksauftrags und der Präsenz im Parlament abgehalten. Ich finde das stossend und mit der Idee unseres Milizsystems nicht vereinbar.» Das müsse man ändern.

Gleich sieht es SP-Kantonsrätin Simone Brunner. «Eine Parlamentarierin muss, sobald sie Mutter geworden ist, zwischen ihren politischen Rechten und dem Einkommen entscheiden.» Dieser diskriminierenden Praxis müsse ein Ende gesetzt werden.

Mitte-Politikerin fürchtet zu viel Druck

Silvana Leasi (Mitte) kann es nachvollziehen, wenn dies als stossend empfunden werde. «Ich befürchte aber, dass eine Gesetzesänderung auch Druck auf Politikerinnen ausüben wird, nach der Geburt eines Kindes die Parlamentstätigkeit frühzeitig aufzunehmen.» Dass eine Mutter dann quasi der Partei zuliebe an Sessionen teilnehme, um bei politischen Geschäften mitzubestimmen.

Jede Mutter und Politikerin solle grundsätzlich für sich entscheiden, wann sie wieder an Ratssitzungen teilnehmen möchte. Ohne Druck zu verspüren – und ohne dass ihr droht, den Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung zu verlieren.

Simone Brunner bringt auch wieder die Idee einer Stellvertreterregelung aufs Tapet. Weil es eben nicht allen Frauen nach einer Geburt möglich sei, wieder am Parlamentsbetrieb teilzunehmen.

FDP-Nationalrat Peter Schilliger – selbst Vater dreier erwachsener Kinder – sieht hingegen so gar kein Problem. Auf seiner Website beschreibt er sich als Familienmenschen. Er hält gegenüber zentralplus fest: «Für mich stimmt der Entscheid des Bundesgerichtes. Die Regeln waren und sind klar.»

Verwendete Quellen
  • Medienbericht im «Tages-Anzeiger»
  • Dringliche Motion 201 des Grossen Stadtrats Luzern
  • Telefonat mit Silvana Leasi
  • Schriftlicher Austausch mit Simone Brunner, Hasan Candan, Andrea Gmür und Peter Schilliger
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