Experte zu Aeschi-Flop: Es geht darum, was Selenski sagt
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Thomas Aeschi (SVP) konnte die Rede des ukrainischen Präsidenten im Nationalrat nicht verhindern. Die Rede zu erlauben, sei «grundsätzlich problematisch», meint ein Luzerner Völkerrechtsprofessor. Trotzdem gebe es Gründe, die dafür sprächen.
SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi ist daran gescheitert, eine Videoschaltung mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski zu verhindern. Der Zuger Nationalrat hatte beim Ratsbüro beantragt, auf den Auftritt zu verzichten. Doch die grosse Kammer lehnte seinen Ordnungsantrag am Dienstag mit 128 zu 58 Stimmen bei 4 Enthaltungen ab. Selenski wird somit am 15. Juni um 14 Uhr seine Videobotschaft ans eidgenössische Parlament richten können.
Die Rede soll nicht während der regulären Sitzungszeit stattfinden. So können Ratsmitglieder, sofern sie wünschen, der Rede fernbleiben. Die SVP hat bereits bekannt gegeben, seiner Rede fernzubleiben.
Videoansprachen sind ein Mittel der ukrainischen Aussenpolitik. Selenski hat ähnliche Reden bereits vor dem US-Kongress, dem britischen Ober- und Unterhaus und einigen Parlamenten in der EU gehalten.
Auch für die Schweiz ist der Auftritt des ukrainischen Präsidenten nächste Woche keine totale Premiere. Bereits kurz nach Kriegsausbruch war Selenski in Bern auf einem Bildschirm zu sehen. Damals sprach er während einer Friedensdemonstration zur Schweizer Bevölkerung. Im letzten Herbst dann richtete er eine Video-Botschaft an Studenten der Universität Zürich. Nun aber soll er zum Parlament sprechen.
Thomas Aeschi sieht die Neutralität in Gefahr
Thomas Aeschi argumentierte im Vorfeld, die Rede verletze die Schweizer Neutralität. Die Ukraine versuche, mit der Rede direkt Einfluss auf Themen wie Waffenlieferungen zu nehmen, also auf Parlamentsentscheide. Zustimmung für seinen Antrag gab es aus den eigenen Reihen und von einzelnen Mitgliedern der FDP-Fraktion.
Doch auf Twitter machte sich Aeschi mit seiner Haltung nur wenige Freunde. Unter einem seiner Beiträge zum Ordnungsantrag finden sich fast 80 Kommentare, von denen kaum einer Zustimmung ausdrückt. Sätze wie «Wollen deine Freunde lieber einen Live-Talk mit Putin?» und «Ihr seid so unglaublich weltverschlossen, zerknirscht und engstirnig» gehören zu den harmlosesten Aussagen unter dem Beitrag von Thomas Aeschi.
Auch die Ratsbüros des National- und des Ständerats sehen in der Bewilligung der Rede keine Verletzung der Schweizer Neutralität. Denn die Schweiz habe den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine klar verurteilt. Auf die Frage, wie er zur Ablehnung seines Ordnungsantrags steht, hat Thomas Aeschi gegenüber zentralplus bisher nicht geantwortet.
Die Schweiz setzt bei Neutralität die Standards
Den ukrainischen Präsidenten in Bern eine Rede halten zu lassen, sei eine Gratwanderung, erklärt Sebastian Heselhaus, Professor für Völkerrecht an der Universität Luzern auf Anfrage. «Grundsätzlich ist es problematisch, nur eine Kriegspartei anzuhören, wenn man als Land neutral ist.» Diese strikte Auslegung der Neutralität vertrete auch die SVP. Allerdings gebe es auch gute Gründe, Selenskis Rede zu gestatten.
«Es geht nicht nur darum, dass Selenski kommt, sondern zu welchen Inhalten man ihn anhört.»
Sebastian Heselhaus, Professor für Völkerrecht
«Es ist absolut vertretbar, Selenski einzuladen, um über die Lage in der Ukraine zu berichten», meint Heselhaus. Solche Informationen seien sinnvoll, damit die Schweiz in einer Sondersituation die Grenzen ihres Neutralitätsstatus überdenken könne.
Ab einem gewissen Punkt müsse sich die Schweiz aber die Frage gefallen lassen, ob sie auch Russland eine Rede gestatten würde. Dann zum Beispiel, wenn der ukrainische Präsident in seiner Rede für Waffenlieferungen werben würde. «Es geht nicht nur darum, dass Selenski kommt, sondern zu welchen Inhalten man ihn anhört», so Heselhaus.
Wie sich die Schweiz bei Neutralitätsfragen entscheide, habe globale Relevanz, resümiert der Völkerrechtler. «Es gibt heute keinen Staat mehr, der so neutral ist wie die Schweiz und Costa Rica.» Was die Schweiz jetzt entscheide, könne zu neuen Standards werden, was international als neutral empfunden werde.
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