Politologin: «Frauen sind nicht generell linker als Männer»
Nach dem nationalen Frauenstreik hat die weibliche Vertretung in der Politik viel Aufmerksamkeit erhalten. Hält dieser Effekt auch auf die kommunalen Wahlen am 29. März im Kanton Luzern an? Wer könnte davon profitieren? Und wieso stellen linke Parteien mehr Kandidatinnen auf und was bedeutet das für die Männer? Antworten darauf hat Politologin Sarah Bütikofer.
Von einer «Frauenwahl» war die Rede. 2019, im Jahr des nationalen Frauenstreiks, hat die Schweiz so viele Politikerinnen nach Bundesbern gewählt wie nie zuvor. Auch im Luzerner Kantonsrat stieg der Frauenanteil im letzten Jahr. Der grünen Kandidatin Korintha Bärtsch gelang es beinahe, die Männerbastion im Regierungsrat zu knacken.
In der Stadt Luzern hält die Entwicklung an: Bei den Parlamentswahlen am 29. März steigen mehr Kandidatinnen ins Rennen als in der Vergangenheit (zentralplus berichtete). Allerdings gibt es weder separate Frauenlisten noch ist das Netzwerk «Frauen Luzern Politik» im Hinblick auf die kommunalen Wahlen aktiv.
Wie steht es um die Frauen in der Politik? Darüber haben wir uns anlässlich des Weltfrauentags mit der Zürcher Politologin Sarah Bütikofer unterhalten, die diesen Sonntag in Kriens auftritt (siehe Box).
zentralplus: Sarah Bütikofer, die Anliegen der Frauen, auch in der Politik, waren 2019 sehr präsent. Gibt es inzwischen Ermüdungserscheinungen?
Sarah Bütikofer: Das kommt drauf an, für wen. Weil der Newswert sinkt, kann es für die Medien ermüdend wirken. In der Bevölkerung ist die Wahrnehmung aber anders. Wertewandel und gesellschaftliche Veränderungen brauchen Zeit. Der Anteil an Politikerinnen im Parlament ist nach der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 bis Mitte der 90er-Jahre stetig gestiegen. Zwischen 1995 und 2015 hat er hingegen stagniert, weil dem Thema keine Bedeutung mehr beigemessen wurde und weil in dieser Zeit auch grosse Verschiebungen bei den Parteienstärken von der politischen Mitte hin zur Rechten stattfanden. Die SVP gewann sehr viele Mandate dazu – vornehmlich auf Kosten der bürgerlichen Parteien, die deutlich mehr Frauen in ihren Reihen hatten, als dies die SVP hat.
zentralplus: Das Jahr 2019 stand im Zeichen des nationalen Frauenstreiks. Hatte er einen Effekt auf die Wahlen?
Bütikofer: Der Frauenstreik am 14. Juni hatte eine starke Mobilisierungskraft und war zeitlich ideal gelegen, weil die meisten Parteien vor den Sommerferien die Listen für die nationalen Wahlen zusammenstellten. Hätte man im letzten Sommer wochenlang über das Coronavirus diskutiert, wäre der Anteil Kandidatinnen auf den Listen möglicherweise nicht so hoch ausgefallen. Die Kampagne «Helvetia ruft!» von Alliance F und Operation Libero hat zudem bereits ein Jahr vor den Wahlen Frauen zur Kandidatur ermutigt und alle Parteien aufgefordert, der Vertretung der Frauen auf den Listen Beachtung zu schenken, und so das Terrain gut vorbereitet. Darum kann man sicher sagen: Der Frauenstreik hatte einen Einfluss, exakt beziffern lässt er sich aber nicht.
zentralplus: Auch in der Stadt Luzern kandidieren für die Wahlen vom 29. März deutlich mehr Frauen als in der Vergangenheit. Hält dieser Effekt also an, auch auf kommunaler Ebene?
Bütikofer: Wenn das Thema in den Köpfen verankert ist und von Personen in entscheidenden Situationen und Positionen immer wieder bewirtschaftet wird, bleibt es sicher präsent.
«Man macht es sich viel zu einfach, wenn man sagt, diese Patriarchen wollen keine Frauen.»
zentralplus: Die linken Parteien, Grüne und SP, haben in der Stadt Luzern die Hälfte oder gar zwei Drittel ihrer Listenplätze an Frauen vergeben. Erhöht das die Wahlchancen der Parteien?
Bütikofer: Grundsätzlich ja, der Anteil Frauen unter den Gewählten ist in den meisten Parteien etwa gleich wie unter den Kandidierenden. Bei den Wählenden, die ganz bewusst Frauen fördern wollen, kommt ein hoher Anteil an Kandidatinnen auf Wahllisten gut an. Allerdings vor allem bei jenen, die ohnehin dazu tendieren, links zu wählen. Über das eigene Wählerpotenzial hinaus holt eine Partei damit wahrscheinlich nicht scharenweise Stimmen.
Wenn man die Wahlbarometer anschaut, zeigt sich: Für den Durchschnittswähler ist ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis in der Politik nicht das Hauptanliegen.
zentralplus: Haben linke Parteien mehr Kandidatinnen, weil sie sich stärker um Frauenförderung bemühen oder weil ihr Programm für Frauen attraktiver ist?
Bütikofer: Den linken Parteien fällt es leichter, viele Kandidatinnen zu nominieren, weil sie bereits unter den Mitgliedern ein ausgeglicheneres Geschlechterverhältnis haben als rechtsbürgerliche Parteien. Der Pool an potenziellen Kandidatinnen ist darum grösser und es gibt in diesen Parteien oft auch mehr weibliche Vorbilder.
Es ist nicht so, dass Frauen generell linker sind als Männer. Aber jene Frauen, die dem Status Quo kritisch gegenüberstehen und sich politisch betätigen wollen, fühlen sich eher von Parteien angesprochen, die für eine Änderung der geltenden Strukturen einstehen. Und für Gleichstellung zu kämpfen ist ein wichtiger Grundsatz der linken Parteien.
zentralplus: Heisst das im Umkehrschluss, dass eine Partei wie die SVP gar nichts dafür kann, dass sie kaum Frauen findet?
Bütikofer: Die bürgerlichen Parteien betonen stetig, niemandem Steine in den Weg zu legen und Frauen, die Interesse haben, zu fördern. Sie taten in der Vergangenheit aber sicher weniger für eine ausgeglichene Geschlechter-Repräsentation als andere Parteien. Ein fixer Anteil von Frauen in der Politik – im Sinne einer Quote – entspricht nicht ihrer Ideologie. Nach wie vor findet man in ihren Reihen in der Regel viel mehr Männer als Frauen, sowohl bei den passiven Parteimitgliedern als auch bei den aktiven Milizpolitikern. Zum einen, weil es in manchen Milieus nicht der Tradition entspricht, dass eine Frau ein öffentliches Amt bekleidet, zum anderen sind bürgerlich eingestellte Frauen, die bereits durch Familie und/oder berufliche Karriere zeitlich voll ausgelastet sind, schwieriger für ein politisches Amt zu gewinnen.
Durch die relativ späte Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz waren die Frauen früherer Generationen auch grundsätzlich weniger politisiert. Wobei aber beispielsweise gerade die CVP Luzern schon früh erfolgreiche Politikerinnen hervorbrachte, denken Sie an Judith Stamm, Rosmarie Dormann oder Josi Meier. Es gibt auch viele Beispiele von Frauen, die in der SVP oder FDP Karriere gemacht haben. Man macht es sich zu einfach, wenn man sagt, diese Patriarchen wollen keine Frauen.
Sarah Bütikofer ist Politikwissenschaftlerin und Wissenschaftsvermittlerin mit Schwerpunkt Schweizer Politik und Parlamentsforschung an der Universität Zürich. Diesen Sonntag hält sie anlässlich des Internationalen Frauentags ein Referat im Kulturquadrat in Kriens. Thema: So siehts aus mit den Frauen in der Politik. Der Anlass beginnt um 10.30 Uhr und wird von der SP Kriens und ihrer Stadträtin Judith Luthiger organisiert. Es ist eine von zahlreichen Anlässen am Weltfrauentag in der Region (zentralplus berichtete).
zentralplus: Wie sieht es grundsätzlich mit den Wahlchancen der Frauen aus?
Bütikofer: Heute gibt es im Proporzsystem praktisch keinen systematischen Diskriminierungseffekt mehr. Der Anteil von Frauen auf den Listen und der Anteil unter den Gewählten entsprechen sich ungefähr.
zentralplus: Das würde für die Stadt Luzern bedeuten, dass der Frauenanteil steigt – denn aktuell liegt er bei rund 27 Prozent, der Anteil der Kandidatinnen liegt bei etwa 40 Prozent.
Bütikofer: Da es mehr Kandidatinnen gibt, ist davon auszugehen, dass auch mehr Frauen tatsächlich den Sprung ins Parlament schaffen. Ein Frauenanteil von rund einem Viertel ist heutzutage wenig. Aber bei Wahlen spielen immer ganz unterschiedliche Faktoren mit rein.
zentralplus: So etwa der Bisherigen-Bonus? Die Stadtluzerner SP hat zum Beispiel zwei Drittel Frauen auf der Liste, aber es treten gleichzeitig viele bisherige Männer an. Wer hat bessere Chancen?
Bütikofer: Grundsätzlich ist zu erwarten, dass die Bisherigen besser abschneiden als die neu Kandidierenden. Aber wir haben bei den nationalen Wahlen letzten Herbst gesehen, dass überproportional viele Männer nicht mehr gewählt und durch Frauen, zum Teil sogar deutlich jüngere und weniger erfahrene, ersetzt wurden.
«Eine Abwahl kann auch sehr prominente und gestandene Männer treffen.»
zentralplus: Wie lässt sich das erklären?
Bütikofer: Man weiss aus Untersuchungen: Wem das Geschlechterverhältnis wichtig ist, der oder die wählt tendenziell Parteien, die viele Frauen aufstellen – und in der Schweiz mit unseren Möglichkeiten, die Listen zu verändern, führt das dazu, dass sicher teilweise auch Männer von der eigenen Liste systematisch gestrichen werden. Davon sind Kandidaten auf linken Listen wohl überproportional betroffen. Zum einen, weil die Wählerschaft dieser Parteien der Geschlechter-Repräsentation viel Bedeutung bemisst, zum andern aber auch, weil in anderen Parteien oft gar nicht genügend Frauen kandidieren, um mit ihnen eine ganze Liste zu füllen.
zentralplus: Für linke Männer ist das Risiko einer Abwahl also grösser?
Bütikofer: Soweit würde ich nicht gehen. Man hat bei Nationalratswahlen zwar gesehen, dass es auch sehr prominente und gestandene Männer treffen kann. Im Kanton Bern hatte die SP eine getrennte Frauen- und Männerliste, was für die Männer sicher ein Nachteil war. Im Tessin oder in Fribourg hingegen wurden langjährige, etablierte CVP-Ständeräte in Majorzwahlen nicht wiedergewählt, also eine völlig andere Ausgangslage. Allgemeingültige Gesetzmässigkeiten sind schwierig zu formulieren.
zentralplus: Im Luzerner Stadtrat sind zwei von fünf Mitgliedern weiblich und haben keine Kinder. Auch im Bundesrat sitzt keine Mutter. Hat das System?
Bütikofer: Es kommt sicher nicht von ungefähr. Frauen haben zwar in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt stark aufgeholt. Trotzdem ist es im Privaten immer noch so, dass die Frauen einen grösseren Teil der Verantwortung für die Familienarbeit übernehmen. Unter den Politikerinnen in den Spitzenämtern ist der Anteil der Frauen ohne Kinder viel grösser als im Schweizer Durchschnitt. Bei den Männern weiss man meist gar nicht, wie ihre private Situation aussieht, weil sie weniger thematisiert wird. Die Möglichkeit der Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Politik hat einen grossen Einfluss auf eine politische Karriere – bei bürgerlichen Parteien vielleicht sogar noch einen grösseren als bei linken.
«Bei der Frage, welche Themen überhaupt aufs politische Tapet kommen, spielt das Geschlecht sehr wohl eine Rolle.»
zentralplus: Wie meinen Sie das?
Bütikofer: Die Karrieren von Politikerinnen und Politikern aus links positionierten Parteien beginnen oft schon in jungen Jahren über die Arbeit in der Partei oder parteinahen Organisationen, in NGOs, Kampagnen oder Verbänden. Die beruflichen Tätigkeiten des Nachwuchses sind bei einigen ganz auf die Politik ausgerichtet, zudem ist in diesem Umfeld Teilzeitarbeit eher der Normalfall als in der Privatwirtschaft. Es ist kein Zufall, dass heute so viele junge linke Parlamentsmitglieder Kinder haben, während es auf der bürgerlichen Seite vor allem bei den Frauen anders aussieht. Für eher bürgerlich eingestellte Personen führt der traditionelle Weg in die Politik im schweizerischen Milizsystem über eine berufliche Karriere ausserhalb der Politik.
Politikerinnen früherer Generationen hatten eher Kinder, weil sie während der Familienphase keiner Erwerbsarbeit nachgingen und so zur Politik fanden. Politikerinnen, die heute in den höchsten Ämtern sind, mussten sich die letzten zwanzig Jahre auf ihr Amt vorbereiten und verzichteten darum eher auf Kinder – sicherlich zum Teil auch aufgrund nicht vorhandener Angebote für die familienergänzende Betreuung in der damaligen Zeit.
zentralplus: Wie wichtig ist überhaupt ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis im Parlament?
Bütikofer: Wenn man nur das Abstimmungsverhalten im Parlament analysiert – wer drückt im konkreten Fall Ja oder Nein –, ist das Geschlecht nur in seltenen Fällen ein entscheidender Faktor. Viel wichtiger ist die Parteizugehörigkeit. Aber bei der Frage, welche Themen überhaupt aufs politische Tapet kommen, spielt das Geschlecht sehr wohl eine Rolle. Denn die Lebensrealitäten von verschiedenen sozialen Gruppen, aber auch von Männern und Frauen, sind zum Teil sehr unterschiedlich.
zentralplus: Können Sie ein Beispiel nennen?
Bütikofer: Nehmen wir die zum Teil fehlende soziale Absicherung von Bäuerinnen: Wenn das niemandem auffällt oder niemand von diesem Problem hört, wird es politisch nicht zum Thema. Ein Manager aus Zürich kennt die Nöte einer Bergbäuerin im Kanton Uri womöglich wenig, während die Bergbäuerin vielleicht mit der Situation von alleinerziehenden Müttern nicht vertraut ist – das kann man beiden auch nicht verübeln. Aber genau darum ist es wichtig, dass ein breites Spektrum an Lebensrealitäten im Parlament vertreten ist. Je diverser die Parlamente zusammengesetzt sind, desto breiter wird die Themensetzung.