Mitte-Ständeräte aus Zug und Luzern sind sich völlig uneins
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Das Bundesparlament lehnt die vom Bundesrat in Aussicht gestellten zusätzlichen Ökoflächen ab. Die Zuger und die Luzerner Bundeshausdelegation ist komplett gespalten. Und in Umweltkreisen ist die Enttäuschung gross.
«Wir sind auf das Höchste erstaunt», sagt Nathalie Rutz von Pro Natura. Sie meint damit einen aktuellen Entscheid des Ständerates. Mit 25 gegen 16 Stimmen sagte dieser am Dienstag Ja zu einer Motion, welche die Erhöhung der Biodiversitätsförderflächen (BFF) auf den Schweizer Äckern verhindern will.
Der Bundesrat schlug vor, ab einer bestimmten Betriebsgrösse künftig jeweils 3,5 Prozent der offenen Ackerflächen für die Biodiversität zu reservieren und so gleichzeitig die Pestizidbelastung der Böden und Gewässer zu reduzieren. Diese Massnahme müsste eigentlich bereits in Kraft sein, wurde aber bereits zweimal verschoben.
Mit seinem Entscheid folgt der Ständerat dem Nationalrat, der bereits im Februar der genannten Motion überraschend zugestimmt hatte. Damit aber wird nun nichts aus der geplanten Verbesserung der Biodiversität auf den schweizerischen Äckern: Der Ständerat versenkte den Vorschlag des Bundesrates definitiv.
Kontroverse zwischen Peter Hegglin und Andrea Gmür
Mittendrin in dieser wichtigen Ständeratsdebatte ein Mitte-Ständerat aus Zug und eine Mitte-Ständerätin aus Luzern. Beide begaben sich letzten Dienstag ans Rednerpult, beide kamen zu höchst unterschiedlichen Schlüssen. Zuerst war Peter Hegglin dran. Er empfahl, die Motion anzunehmen – und sich damit gegen mehr Biodiversitätsflächen auszusprechen. Unter anderen meinte der Zuger Ständerat, es sei schwierig, die vorgesehenen Massnahmen konstruktiv und positiv umzusetzen. Hegglin wies in seinem Votum auch auf die Versorgungssicherheit hin.
Andrea Gmür, Mitte-Ständerätin Luzern«Für mich ist das schon auch Salamitaktik […].»
Kurz nach Hegglins Votum war die Reihe an Andrea Gmür. «Wir haben die Trinkwasser- und die Pestizidinitiative abgelehnt, wir haben einer Art indirektem Gegenvorschlag zugestimmt, wir haben aufgrund des Ukraine-Krieges die Umsetzung der Massnahme von 3,5 Prozent BFF verschoben», begann die Luzerner Ständerätin ihre Rede. Um dann anzufügen: «Aber jetzt, muss ich sagen, fühle ich mich langsam ein bisschen über den Tisch gezogen. Für mich ist das schon auch Salamitaktik, wenn man zuerst immer wieder verschiebt und dann sagt: ‹Ja nein, eigentlich wollen wir überhaupt nichts.›»
Es gebe wissenschaftliche Studien, welche klar belegen würden, dass eigentlich zumindest 5 Prozent BFF nötig wären, damit auch die Bestäubung wirklich funktioniere. «Und da möchte ich Kollege Hegglin, der normalerweise ein grosser Bienenförderer ist, sagen: Das ist für mich natürlich schon ein bisschen widersprüchlich. Hier sieht man das Thema nicht, aber sonst schaut man zu den Bienen und zu den Insekten. Da müsste man in der Konsequenz eben hier auch Ja stimmen.»
Dazu muss man wissen, dass der von Andrea Gmür als «grosser Bienenförderer» betitelte Peter Hegglin im letzten Herbst eine Motion mit dem Titel «Sicherung der Insektenbestäubung durch Wild- und Honigbienen» eingereicht hatte. Der Ständerat stimmte dieser Motion im letzten Dezember zu, der Nationalrat am 11. Juni ebenso.
Die beiden FDP-Ständeräte aus Zug und Luzern stimmten konträr ab
Gegen mehr Ökoflächen sprach sich der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller aus. Er begründet seinen Entscheid folgendermassen: «Die Produktion von pflanzlichen Nahrungsmitteln ist bereits jetzt rückläufig und darf aus meiner Sicht nicht weiter geschwächt werden. Als Liberaler bin ich überzeugt, dass mit dem eingeschlagenen Weg und gezielten Anreizprogrammen mehr erreicht werden kann als mit Vorschriften und Strafen.»
Anders der Zuger FDP-Ständerat Matthias Michel. Er habe gegen diese Motion gestimmt und teile damit die Haltung der Mehrheit der FDP-Fraktion des Nationalrates. «Mit der Ablehnung der Trinkwasserinitiative hat man versprochen, auf anderem Weg aktiv zu werden. Der Bedarf an zusätzlichen Bemühungen zur Förderung der Biodiversität, insbesondere im Tal- und Ackerbaugebiet, ist weitgehend unbestritten.» Im Idealfall würden sich Biodiversität und Lebensmittelproduktion ergänzen, anstatt sich zu konkurrenzieren. Zudem hätte laut Michel die Ausscheidung der besagten 3,5 Prozent flexibel umgesetzt werden können.
Nathalie Rutz, Pro Natura«Die Massnahme ist dringend nötig, um die stark bedrohte Artenvielfalt im Kulturland zu fördern, und reduziert gleichzeitig den Pestizideinsatz durch die Förderung von Nützlingen.»
Bei der Abstimmung im Nationalrat stimmten die Zuger und die Luzerner Nationalrätinnen und Nationalräte folgendermassen: Für ein Ja zu der besagten Motion – und damit gegen mehr Ökoflächen – sprachen sich aus: Thomas Aeschi (ZG, SVP), Gerhard Pfister (ZG, Mitte), Vroni Thalmann (LU, SVP), Franz Grüter (LU, SVP), Pius Kaufmann (LU, Mitte).
Nein stimmten Manuela Weichelt (ZG, Grüne), David Roth (LU, SP), Hasan Candan (LU, SP), Michael Töngi (LU, Grüne) und Peter Schilliger (LU, FDP). Priska Wismer (LU, Mitte) enthielt sich der Stimme.
Die grosse Enttäuschung bei den Umweltverbänden
Die Ernüchterung bei den Umweltverbänden ist gross. Nathalie Rutz von Pro Natura sagt: «Die 3,5 Prozent BFF sind ein Versprechen von Bundesrat und Parlament aus der Abstimmung um die Pestizidinitiativen. Die Massnahme ist dringend nötig, um die stark bedrohte Artenvielfalt im Kulturland zu fördern, und reduziert gleichzeitig den Pestizideinsatz durch die Förderung von Nützlingen. Damit profitiert indirekt auch die Ernährungssicherheit. Wissenschaftliche Studien fordern mindestens 5 Prozent Acker-BFF, aktuell sind es nicht einmal 1 Prozent.»
Es gehe um eine Massnahme, die im Abstimmungskampf als Teil des inoffiziellen Gegenvorschlags von bäuerlicher Seite als wichtig angesehen worden sei. In einem «CH Media»-Artikel erklärte Bauernpräsident Markus Ritter kürzlich, die 3,5-Prozent-Massnahme habe nichts mit dem inoffiziellen Gegenvorschlag zu tun. Ritter wies den Vorwurf, es werde ein Versprechen gebrochen, zurück. Anders sieht das Nathalie Rutz von Pro Natura: «Auch der Bundesrat spricht von einem ‹Verstoss gegen Treu und Glauben›. Dass diese Massnahme im Nachhinein zweimal verschoben wurde und nun ganz gestrichen werden soll, ist höchst bedenklich.»
Entscheidend ist auch die Qualität der Biodiversitätsflächen
Bauernpräsident Markus Ritter geht von aktuell 19 Prozent Biodiversitätsförderfläche auf dem Kulturland aus. Diese Zahl ist auch beim Bundesamt für Landwirtschaft zu finden.
Livio Rey von der Vogelwarte Sempach entgegnet: «Allerdings sagt die Fläche nichts über die Qualität dieser BFF aus. Es bräuchte 10 bis 14 Prozent hochwertige BFF, die Betonung liegt hier bei hochwertig, und das wird nicht überall erreicht. Im Ackerland wird nicht einmal ein Bruchteil davon erreicht, und selbst die Einführung von 3,5 Prozent BFF auf Ackerflächen wurde nach einem politischen Hin und Her nun abgelehnt.»
Die Rote Liste der Schweizer Brutvögel zeige, dass nicht nur in den Feuchtigkeitsgebieten, sondern auch im Kulturland Handlungsbedarf bestehe. «Rund die Hälfte der typischen Landwirtschaftsvögel sind bedroht, ein weiteres Drittel potenziell gefährdet. Es ist also keineswegs so, dass im Kulturland alles in Ordnung ist. Viele Landwirte engagieren sich stark für die Natur, aber schweizweit gibt es noch grossen Aufholbedarf, um typische Kulturlandarten wie zum Beispiel Feldhase und Feldlerche zu erhalten.»
Ausserdem habe die Landwirtschaft auch einen Verfassungsauftrag: Der Bund habe dafür zu sorgen, dass die Landwirtschaft durch eine nachhaltige und auf den Markt ausgerichtete Produktion einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und zur Pflege der Kulturlandschaft leiste.
Die Verfassung spreche von «nachhaltig» und «Pflege der Kulturlandschaft», was durchaus die Biodiversität und die natürliche Vielfalt im Kulturland betreffe. «Die Aussage ‹Ökologie kann kein Kernthema mehr sein› ist in diesem Zusammenhang unverständlich», so Rey. Damit spricht er eine Aussage von Bauernpräsident Ritter an, der im Frühjahr gegenüber Radio SRF sagte, dass die Ökologie nun keine Priorität mehr haben könne.
Rey sagt weiter: «Wo die Vögel selten werden, ist dies oft ein Anzeichen, dass etwas mit der Umwelt nicht in Ordnung ist. Im Übrigen ist die Landwirtschaft selbst auf gesunde Böden und bestäubende Insekten wie Wildbienen angewiesen. Von einem vielfältigen Kulturland profitieren also alle: Artenvielfalt, Landwirtschaft und wir als Gesellschaft.»
- Schriftlicher Austausch mit Matthias Michel, Ständerat Zug
- Schriftlicher Austausch mit Damian Müller, Ständerat Luzern
- Amtliches Bulletin des Ständerates und des Nationalrates
- Schriftlicher Austausch mit Pro Natura, WWF, Vogelwarte Sempach, Initiative für eine sichere Ernährung
- Schriftlicher Austausch mit Markus Ritter, Präsident Bauernverband
- Artikel von «CH Media»
- Beitrag von Radio SRF, Samstagsrundschau vom 2. März 2024