In Oberägeri trifft Sozialarbeit auf Hausarztmedizin

«Manchmal hilft ein Gespräch mehr als teure Medikamente»

Nicht alle Krankheiten kann man mit Pillen bekämpfen – manchmal sind Gespräche und Beratungen sinnvoller. (Bild: Symbolbild Adobe Stock)

Hausärzte sind in der Schweiz vielerorts Mangelware. Dafür entstehen Gemeinschaftspraxen. In Oberägeri gibt’s bald eine, deren Konzept einer ausgeweiteten Tätigkeit auch andernorts Schule machen könnte. Die Wissenschaft soll Klarheit schaffen.

Im Wallis wurde eine temporäre Steuerbefreiung für sie angeregt, in Baselland finanziert der Kanton ihnen sogar Praxis-Assistenten: Hausärzte. Sie sind hochgeschätzte Mitglieder der Gesellschaft, aber ihre Zahl nimmt ab.

Die Gründe: Schlechtere Bezahlung als Spezialärzte und überlange Präsenzzeiten. Was damit zusammenhängt, dass sich viele Hausärzte nicht nur als Mediziner verstehen, sondern auch als Berater und Lebensbegleiter ihrer Patienten.

Keine geeigneten Nachfolger

Auch in Oberägeri war das so. Zwei Hausärzte erfüllten jahrzehntelang die medizinische Grundversorgung in der Gemeinde. Mittlerweile sind Joachim Henggeler und Emil Schalch 75 und 66 Jahre alt. Eine geeignete Nachfolgerin oder einen geeigneten Nachfolger haben sie in den vergangenen Jahren nicht gefunden.

Nicht, dass es keine Interessenten gegeben hätte. Aber es fand sich keine Lösung, die «zufriedenstellend» gewesen wäre, wie sich der Oberägerer Gemeinderat ausdrückt. Eine praktische Ärztin aus Tschechien wurde 2016 als Henggelers Nachfolgerin vorgestellt. Doch die Übergabe scheiterte. Nach mehreren Stationen bei andern Ärzten und Arbeitgebern versuchte sie es auf eigene Faust – und wirkt mittlerweile von der Stadt Zug aus.

Infrastruktur für florierende Gemeinde

Der Gemeinderat von Oberägeri nahm angesichts der sich zuspitzenden Lage das Heft in die Hand und überlegte sich, wie es mit den Ärzten im Dorf weitergehen könnte. Zum einen, weil die Aufrechterhaltung der medizinischen Grundversorgung im Kanton Zug Aufgabe der Kommunen ist.

Sozialvorsteher Paul Iten vom Forum Oberägeri organisiert die Gesundheitsversorgung der Gemeinde. (Bild: zvg)

Zum andern, weil Oberägeri immer wieder den Kürzeren zieht, wenn  Anbieter von wichtigen Dienstleistungen rationalisieren. Jüngste Beispiele: Im Frühsommer schloss die Raiffeisenbank ihre Niederlassung in Oberägeri. Und vor wenigen Tagen gab die Post bekannt, ihre Filiale in eine Agentur umzuwandeln.

Junge Ärzte suchen Gemeinschaft

Man habe sich 2019 mit einer Bitte um Rat an den Kantonsarzt Rudolf Hauri gewandt, sagt Sozialvorsteher Paul Iten vom Forum Oberägeri. Dieser empfahl eine Zusammenführung der beiden Praxen.

«Der Kanton begrüsst das Projekt in Oberägeri, ist aber nicht daran beteiligt.»

Beatrice Gross, Zuger Gesundheitsdirektion

«Es zeigt sich seit einigen Jahren eine Tendenz weg von der klassischen Hausarztpraxis mit einem Arzt hin zu Gruppenpraxen», erklärt Beatrice Gross, Generalsekretärin bei der Zuger Gesundheitsdirektion. Es sei für die Gesundheitsversorgung positiv, wenn Ärztinnen aus verschiedenen Fachrichtungen eng zusammenarbeiteten, sagt sie. Der Kanton begrüsse das Projekt in Oberägeri, sei aber nicht daran beteiligt. «Es ist eine private Initiative», so Gross.

Neuland für Gruppenpraxis

Ausgedacht hat sich das Oberägerer Modell Emil Schalch. Er hatte schon für die Zuger Ärztegesellschaft die Notfallpraxis am Zuger Kantonsspital aufgebaut. Mit dem Konzept für die Gruppenpraxis «Gesundheitspunkt», das er mit dem Oberägerer Sozialamt und mit seinem Berufskollegen Joachim Henggeler entwickelte, erweitert Schalch nicht nur die bisherige Angebotspalette an medizinischen Dienstleistungen im Dorf.

«Eine Krankheit hat ihren Ursprung manchmal im Stress oder der Unzufriedenheit am Arbeitsplatz oder im familiären Umfeld. In diesen Fällen nützen soziale oder psychologische Beratungen.»

Paul Iten (Forum Oberägeri), Sozialvorsteher

Er stösst auch in Gebiete vor, um die sich Gemeinschaftspraxen sonst nicht kümmern. Zum Beispiel sollen im «Gesundheitspunkt» Freiwillige der Gemeinde ausgebildet werden, die sich bei Pro Senectute, Pro Infirmis, der Nachbarschaftshilfe oder dem Samariterverein engagieren. Und man will niederschwellige Beratungen in den Bereichen Gesundheit, Pflege und Soziales anbieten.

Andere Kantone interessiert

Mit seinem Konzept hat Schalch das Interesse in anderen Kantonen geweckt. In Nidwalden stellte er es dem Regierungsrat vor, wie er an einer Informationsveranstaltung sagte (zentralplus berichtete).Auf eine Nachfrage von zentralplus reagierte Schalch leider nicht.

Anstelle von Schalch erklärt Gemeinderat Iten die Idee: «Wer zum Arzt geht, kommt mit einem Medikament raus.» Diese Behandlung könne dann mit der Krankenkasse abgerechnet werden. «Aber manchmal hilft ein Gespräch mehr als ein teures Medikament», sagt Iten.

Eine Krankheit habe ihren Ursprung mitunter im Stress oder der Unzufriedenheit am Arbeitsplatz oder im familiären Umfeld. «In diesen Fällen nützt es mehr, wenn man eine soziale oder psychologische Beratung bekommt.» Die neue Praxis biete solche Beratungen an. Aber sie könnten nicht oder nur ungenügend nach dem Abgeltungssystem Tarmed verrechnet werden.

Sozialarbeiter in Arztpraxis

Im Prinzip macht der «Gesundheitspunkt» etwas Ähnliches, wie es früher die Hausärzte getan haben, als sie sich nach dem Leben ihrer Patienten erkundigten und ihnen praktische Ratschläge erteilten oder ihnen die Meinung sagten – allerdings auf einer professionellen Ebene. «Der ‹Gesundheitspunkt› stellt dafür extra einen Sozialarbeiter ein», sagt Paul Iten.

Statt einer Bank soll hier im November eine neue Gruppenpraxis ihre Tore öffnen, welche die Oberägerer medizinisch versorgt. (Bild: mam)

Welche Leistungen dann die Praxis für die Gemeinde erbringt und welche Arbeiten beim Sozialamt bleiben, stimme man derzeit ab, so Iten. «Aber auf jeden Fall sind wir froh, wenn am 1. November der ‹Gesundheitspunkt› eröffnet.»

Oberägerer unterstützen das Projekt

Die Gemeinde Oberägeri leistet in den ersten drei Jahren eine Defizitgarantie von total 300'000 Franken an die neue Gruppenpraxis. In dieser Zeit will sie wissenschaftlich abklären, ob und wie sich die Verzahnung von Gemeinde und Arztpraxis, von Sozialarbeit und Hausarztmedizin auszahlt. Die Untersuchungen leisten Abteilungen der Berner Fachhochschule, der Fachhochschule Nordwestschweiz sowie des Instituts für Hausarztmedizin der Universität Zürich.

Die Idee der gemeindlichen Beteiligung und der Defizitgarantie war in Oberägeri übrigens unumstritten. «Das zeigt, dass wir vom Gemeinderat die Bürger überzeugt haben und sie gut informieren konnten», sagt Paul Iten.

An der traditionell gut besuchten Gemeindeversammlung dieses Herbstes gab es keine Einwände gegen die Pläne. Es tauchte keine Frage dazu auf – und nur zwei Gegenstimmen wurden gegen die Gewährung der Defizitgarantie abgegeben.

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