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Der Zuger Alt-Nationalrat Jo Lang kritisiert Sahra Wagenknechts putinfreundliches «Manifest für Frieden» heftig. Schon vor 25 Jahren hat er sich daran gestört, dass Wagenknecht in Luzern am 1. Mai 1998 auftreten sollte. Die darob entbrannte Kontroverse hat schon fast historische Dimensionen.
«Wagenknecht will verhindern, dass Putin den Krieg verliert»: Das ist die These des Zuger Alt-Nationalrats Jo Lang (68) zum deutschen «Manifest für Frieden», das die deutsche PDS-Politikerin Sahra Wagenknecht (53) zusammen mit der Feministin Alice Schwarzer (80) im Februar lanciert hat.
Per Ende Februar haben bereits über 700'000 Personen dieses Manifest unterzeichnet. Es verlangt, «die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen», setzt sich «für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen» ein; dies «mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern».
Der profilierte Friedensaktivist Jo Lang unterstreicht, dass er es für unsinnig hält, Verhandlungen zu führen, solange Putin sich nicht hinter die bis zum Februar 2022 bestehenden Grenzen zurückzieht. Er beurteilt Wagenknechts Attacken gegen die Sanktionspolitik des Westens in einem Interview mit dem «Tagesanzeiger» (siehe Quellen) kritisch. Wagenknecht, so Lang, habe nie mit ihrer «stalinoiden» Vergangenheit gebrochen.
Ihr Engagement für Friedensverhandlungen hält er für unredlich. Die grosse Unterstützung für das Manifest ist in seinen Augen bedenklich, weil sie die russische Aggression verharmlost. Mit seiner ablehnenden Haltung zum Manifest steht er bei Weitem nicht allein. Dieses wird zurzeit auch in Deutschland breit kritisch rezipiert.
1.-Mai-Komitee verschätzte sich mit der Einladung Wagenknechts
Jo Lang hat die im ostdeutschen Jena aufgewachsene Wagenknecht bereits vor 25 Jahren scharf kritisiert. Die Wortführerin der PDS pries damals den «Sozialismus» der DDR als antikapitalistische Alternative an. Als das 1.-Mai-Komitee der Luzerner Gewerkschaften die damals 29-jährige Galionsfigur des ostdeutschen Kommunismus einlud, stieg der damalige Zuger Kantonsrat für die sozialistische Grüne Alternative auf die Barrikaden.
Schon zuvor hatte der heute 71-jährige Luzerner Journalist Herbert Fischer – inzwischen Betreiber der Meinungs-Plattform «lu-wahlen.ch» – hinter den Kulissen vergebens die Einladung von Wagenknecht zu verhindern versucht. Als Vertreter der Gewerkschaft Bau und Industrie GBI (heute UNIA) gehörte er dem 1.-Mai-Komitee an. Er habe die Kolleginnen gewarnt: «Wisst ihr wirklich, wer das ist? Diese Frau verteidigt die DDR-Mauer, den Schiessbefehl in der DDR, Erich Honecker, Erich Mielke, Walter Ulbricht und Josef Stalin.»
”«Wagenknecht stand damals symbolisch für die DDR-Diktatur. Das war mit der Botschaft des 1. Mai schlicht nicht vereinbar.»
Jo Lang, Zuger Alt-Nationalrat und Historiker
Und weiter: «Ihr könntet übers ganze Jahr ein Requiem auf die DDR veranstalten, aber sicher nicht im zeitlichen und thematischen Umfeld des 1. Mai. Das gibt garantiert ‹Lämpen›.» Und so sei es denn auch tatsächlich gekommen: Statt dass die Medien über die gewerkschaftlichen Forderungen zum 1. Mai berichteten, hätten sie sich eben über diese «Lämpen» ausgelassen. Und das nicht zu knapp.
Diktatur der DDR im Widerspruch zum Tag der Arbeit
«Wagenknecht stand damals symbolisch für die DDR-Diktatur», erinnert sich der Historiker Josef Lang. «Das war mit der Botschaft des 1. Mai schlicht nicht vereinbar.» Lang protestierte, sobald er von der Einladung erfuhr, in Form eines Briefs an das 1.-Mai-Komitee und die Medien. Seine knappe Botschaft: «Sie ist eine Verteidigerin der DDR, sie ist eine Bewunderin von Ulbricht, sie ist eine Verharmloserin von Stalin.»
Im Rückblick betont Lang am Telefon: «Mir ist es damals nicht darum gegangen, einen Auftritt von Wagenknecht generell zu verhindern.» Er habe vorgeschlagen, Wagenknecht ausserhalb der 1.-Mai-Feierlichkeiten zum Streitgespräch einzuladen. Das fand Anklang beim 1.-Mai-Komitee. Das Streitgespräch wurde auf den Vorabend, den 30. April, festgelegt. Solche Rahmenveranstaltungen seien nicht unüblich rund um den 1. Mai herum, hält Jo Lang fest.
Doch die Stimmung war durch das Vorgeplänkel bereits derart angeheizt, dass das Nachrichtenmagazin «10 vor 10» des Schweizer Fernsehens darin eine Geschichte von nationaler Relevanz erkannte. Zumal weitere Nebengeräusche nicht auf sich warten liessen. Die Freiheitspartei des Kantons Luzern sprang auf den Zug auf und titelte in ihrer Medienmitteilung zum Anlass: «Keinen Millimeter für den Kommunismus». Und weiter hiess es in drastischer Manier: Wagenknecht, «die Stiefel- und Speichelleckerin», gehöre nicht nach Luzern.
«Schweizer Fernsehen» richtete Scheinwerfer auf Wagenknecht-Auftritt
So stand das Hotel Restaurant Anker in Luzern am Abend des 30. April im Scheinwerferlicht des regionalen Interesses mitsamt landesweiter Ausstrahlung in die guten Stuben. Jo Lang besuchte den Anlass in Begleitung der damaligen Nationalrätin Cécile Bühlmann. Der Saal im Anker war pumpenvoll. Josef Höltschi aus Altwis, Vizepräsident der Freiheitspartei, fuhr vor dem Hotel provokativ mit einem Güllewagen auf. Er stiess aber laut «Tagesanzeiger» auf keine Beachtung. Und auch das «Schweizer Fernsehen» konzentrierte sich auf das Geschehen im grossen und kleinen Saal des Ankers.
Dort durfte Sahra Wagenknecht zunächst ihre Rede halten. Laut «Tagesanzeiger» sei diese aber «formelhaft und uninspiriert» gewesen. Von Charisma hat Berichterstatter Thomas Bolli nichts gespürt. Das Publikum, nicht allein aus Gewerkschaftskreisen, hörte trotzdem ruhig und gefasst zu.
In der Folge kam es dann allerdings zu einem Streitgespräch. Mit dabei: Jo Lang. Er war allerdings nicht vom 1. Mai-Komitee eingeladen worden. Er sagt im Rückblick: «Sahra Wagenknecht, wie auch ich, waren Gäste der Frauen der Gewerkschaft Bau und Industrie. Nach dem Motto: Kaum kommen Männer in die Bredouille, schieben sie es auf die Frauen ab.»
Niedergeschrien von Wagenknecht-Unterstützern
Bis heute ist Jo Lang der im Beitrag von «10 vor 10» verewigte Aufruhr rund um seine Wortmeldung in Erinnerung geblieben. So ist zu sehen, wie sich mehrere Votanten lautstark wie auch gestenreich zu Wort melden, als er davon spricht, dass ihm an diesem Abend die Aufgabe des Advocatus Diaboli zukomme.
Im Fernsehbeitrag ist zu sehen, wie sich diverse Anwesende mit Wagenknecht solidarisieren und Jo Lang aus dem Saal wünschen. Dem Aufruf der wenigen Aufrührer hat er dann nicht Folge geleistet. Das Streitgespräch wurde zu Ende geführt.
”«Wenn Sahra Wagenknecht heute eine eigene Partei gründen würde, wäre diese eine des fremdenfeindlichen Sozialkonservatismus. Sie würde sich gegen Ausländer und Klimabewegte richten und konservative Werte betonen.»
Jo Lang beschäftigt dieser Anlass noch heute. Der promovierte Historiker ist um eine Analyse nicht verlegen. Und zwar eine solche, welche die Vergangenheit aufgreift, dann aber auch die Gegenwart mit einbezieht – inklusive der persönlichen politischen Entwicklung von Sahra Wagenknecht und einer veränderten Wahrnehmung der streitbaren Politikerin.
Wahrnehmung Wagenknechts hat sich gewandelt
In den letzten 25 Jahren habe sich einiges verändert, sagt Jo Lang. Die jüngere Generation knüpfe nicht mehr an den Kalten Krieg an und sei nicht durch ein «Blockdenken» geprägt, das sich an Mächten statt Werten orientiere.
Heute stelle Wagenknecht nicht mehr die Verteidigung der DDR in den Vordergrund. Sie geniesse Sympathien bei der Bewegung, die gegen die staatlich verordneten Covid-Massnahmen opponiert und diese als diktatorisch verteufelt.
”«Sahra Wagenknecht würde heute nicht mehr von Linken nach Luzern eingeladen. Sie wird immer mehr zu einer Galionsfigur der Rechten. Die Autopartei würde heute nicht mehr gegen, sondern für sie demonstrieren.»
Aus diesem Grund und weil sie sich als Putin-Versteherin verorte, flössen ihr aus rechtskonservativen Lagern zunehmend Sympathien zu. Lang: «Sie holt bewusst den Beifall der rechtsextremen AfD ab.»
Wandel von der linken zur rechten Galionsfigur
Sahra Wagenknecht war vor allem jüngst bei der Partei Die Linke in Deutschland derart umstritten, dass wiederholt Stimmen laut wurden, sie auszuschliessen. Gestern Freitag hat Wagenknecht diese Diskussion nun beendet, indem sie bekannt gab, nicht mehr für eine weitere Legislatur für die Linke kandidieren zu wollen. Sie liess verlauten, sich nach Ablauf der Legislaturperiode entweder aus der Politik zurückziehen und als Publizistin und Buchautorin zu arbeiten. «Oder es ergibt sich politisch etwas Neues.»
Explizit nicht vom Tisch wischte sie anlässlich dieser Bekanntgabe die Möglichkeit, eine eigene Partei zu gründen. Aufgrund ihrer Popularität sieht Jo Lang durchaus eine Gefahr, dass Sahra Wagenknecht ebendies tun könnte: «Es wäre eine Partei des fremdenfeindlichen Sozialkonservatismus», analysiert er aufgrund der jüngeren politischen Tätigkeit Wagenknechts. «Sie würde sich gegen Ausländer und Klimabewegte richten und konservative Werte betonen.»
In seinen Augen ist die Konsequenz dieser Grundhaltung schon heute klar ersichtlich: «Sahra Wagenknecht würde heute nicht mehr von Linken nach Luzern eingeladen. Sie wird immer mehr zu einer Galionsfigur der Rechten. Die Autopartei würde heute nicht mehr gegen, sondern für sie demonstrieren.»
- Tagesanzeiger Online vom 28.02.2023 mit Interview Jo Lang: «Wagenknecht will verhindern, dass Putin den Krieg verliert»
- Basler Zeitung zur Bekanntgabe Wagenknechts, sie wolle nicht wieder antreten
- Die Welt zur Kritik aus Deutschland zum «Manifest für Frieden» von Wagenknecht/Schwarzer
- Beitrag 10 vor 10 auf SRF vom 30.04.1998 zum Streitgespräch Wagenknecht im Hotel-Restaurant Anker in Luzern mit Wortmeldungen von Jo Lang und Herbert Fischer
- Beitrag 10 vor 10 auf SRF vom 30.04.1998 mit Porträt Sahra Wagenknecht im damaligen Kontext
- Telefonat mit Jo Lang
- Persönliches Gespräch mit Herbert Fischer
- Wikipedia-Eintrag zu Sahra Wagenknecht, abgerufen am 02.03.2023
- sda-Meldung vom 02.04.1998 zum Anfang April noch vorgesehenen Auftritt Wagenknechts zum 1. Mai (Schweizerische Mediendatenbank, SMD)
- Artikel NZZ vom 02.04.1998: «Wirbel um Auftritt am 1. Mai in Luzern» (SMD)
- Artikel Tagesanzeiger vom 02.05.1998 zum Wagenknecht-Auftritt im Hotel-Restaurant Anker, Luzern (SMD)
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