Guido Graf: «Wer seinen Geburtstag mit über 50 Gästen feiern will, sollte lieber zwei Jahre warten»
Aufgrund der steigenden Fallzahlen verschärft der Kanton Luzern die Coronamassnahmen. Regierungsrat Guido Graf (CVP) sagt, wie es so weit kommen konnte, in welchen Bereichen weitere Einschränkungen folgen werden – und wo er das Zepter lieber dem Bund übergeben möchte.
zentralplus: Guido Graf, im März sagten Sie, zu viele Leute seien zu sorglos unterwegs (zentralplus berichtete). Erleben Sie gerade ein Déjà-vu?
Guido Graf: Wir haben einen sehr guten Sommer mit tiefen Fallzahlen hinter uns. Viele haben sich wieder an das «normale» Leben gewöhnt. Jetzt, wo die Infektionszahlen steigen, müssen wir dafür sorgen, dass wir die Bevölkerung mitnehmen können.
zentralplus: Sind wir in der zweite Welle?
Graf: Nein, ich würde derzeit nicht von der zweiten Welle sprechen. Aber wir müssen handeln, bevor die zweite Welle ausbricht. Es ist wichtig, dass unser Gesundheitssystem funktionsfähig bleibt. Gleichzeitig darf die Wirtschaft nicht zum Erliegen kommen. Einen zweiten Lockdown wollen wir um keinen Preis.
«Lange wurden in erster Linie jüngere Menschen positiv getestet. Da beobachten wir jetzt eine Verschiebung hin zu einer älteren Generation.»
zentralplus: Sie sagten am Freitag vor den Medien, der Kanton Luzern sei seit zehn Tagen in der Phase rot. Was heisst das?
Graf: Dafür gibt es verschiedene Indikatoren. Zum Ersten die Zahl der Infizierten, die in den letzten Tagen gestiegen ist. Zum Zweiten die Reproduktionszahl, die derzeit bei einem Wert von 2 liegt. Das heisst, jeder Infizierte steckt zwei weitere Personen an. Zum Dritten – und das macht uns grosse Sorgen – sind 15 bis 16 Prozent der Getesteten positiv. Da liegen wir weit über der Vorgabe von 5 Prozent. Und viertens (das werden wir erst verzögert merken) dürfte die Belegung der Spitäler ansteigen.
zentralplus: Wieso hat es trotzdem so lange gedauert, bis Luzern reagierte?
Graf: Die Ansteckungsrate war lange tief und es gab konstant wenige Patienten, die wegen Corona eine Spitalbehandlung brauchten. Lange waren es in erster Linie jüngere Menschen, die positiv getestet wurden. Da beobachten wir jetzt eine Verschiebung hin zu einer älteren Generation. Und was sich ebenfalls geändert hat: Nicht nur die Menschen in der Stadt und der Agglomeration sind betroffen, sondern von Vitznau bis Pfaffnau, von Escholzmatt bis Hochdorf, kurz: im ganzen Kanton.
zentralplus: Man wusste immer, dass im Herbst eine zweite Welle droht. Haben es die Behörden verschlafen, rechtzeitig zu reagieren?
Graf: Nein. Wir im Kanton Luzern haben uns aufgrund der Erfahrungen vom Frühling organisiert und nun rechtzeitig reagiert. Es ist aber so, dass die Bevölkerung nach dem guten Sommer teilweise nachlässig geworden ist. Ich habe das selber festgestellt: Man ist an einer Tagung, trägt den ganzen Tag eine Maske und hält den Abstand ein, doch beim Apéro steht man dann zusammen und vergisst alles.
«Bei der Einführung der Maskenpflicht würde ich eine nationale Lösung des Bundesrates begrüssen.»
zentralplus: Jeder Kanton agiert anders und beschliesst unterschiedliche Massnahmen. Sollte der Bund das Zepter wieder übernehmen?
Graf: Nach aussen sieht es vielleicht aus wie ein Flickenteppich, der dem Kantönligeist geschuldet ist. Aber es hat Vorteile, wenn man auf kantonale Zahlen reagieren kann und die Zusammenarbeit der Zentralschweizer Kantone ist intensiv. Bei der Einführung der Maskenpflicht würde ich eine nationale Lösung des Bundesrates aber begrüssen.
zentralplus: Und in anderen Bereichen?
Graf: Ich könnte mir gut vorstellen, dass der Bund betreffend Homeoffice oder bei der Anzahl Personen für Versammlungen eine nationale Empfehlung abgibt. Damit hätte ich als Regierungsrat eines Kantons kein Problem. Das oberste Gebot muss der Schutz unserer Bevölkerung sein.
zentralplus: Der Kanton Luzern hat bei diesen zwei Punkten keine Massnahmen beschlossen. Wieso nicht?
Graf: Die Gesundheitsdirektoren der Zentralschweiz koordinieren die Massnahmen in diesen zwei Punkten derzeit. Wir sind also daran, da werden demnächst Entscheide gefällt.
«Es wird aller Voraussicht nach relativ schnell eine unkomplizierte Regelung zum Homeoffice geben.»
zentralplus: Das heisst, es dürfte bald auch eine Obergrenze für private Anlässe und Feste geben. Von welcher Zahl reden wir?
Graf: Das wird derzeit diskutiert. Ich gehe davon aus, dass wir demnächst eine Zahl definieren werden, die festlegt, ab wann man bei privaten Veranstaltungen Masken tragen muss. Es soll sicher weiterhin möglich sein, dass Familien zusammenkommen. Doch wer seinen Geburtstag mit über 50 Gästen feiern will, sollte lieber noch zwei Jahre warten.
zentralplus: Empfiehlt der Kanton Luzern auch bald wieder Homeoffice, wenn es möglich ist?
Graf: Es wird aller Voraussicht nach relativ schnell eine unkomplizierte Regelung geben. Innerhalb der Verwaltung haben wir bereits Spielregeln definiert. Meine Erfahrung zeigt auch: Viele Unternehmen haben die Lehren aus dem ersten Lockdown gezogen und praktizieren bereits beziehungsweise immer noch Homeoffice.
zentralplus: Will der Kanton Luzern mit den schärferen Massnahmen auch den von Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga geforderten Ruck in der Bevölkerung forcieren?
Graf: Ein Ruck alleine reicht nicht mehr. Sonst explodiert das System. Wir müssen handeln, die Lage ist extrem ernst.
zentralplus: Nicht alle goutieren die Maskenpflicht und strengere Einschränkungen. Erhalten Sie negative Rückmeldungen?
Graf: Ja, viele. Die grosse Mehrheit trägt die Massnahmen verantwortungsvoll mit. Aber es gibt Kreise, die sich nicht daran halten, da ist Luzern jedoch nicht allein.
zentralplus: Viele sind coronamüde und fragen sich: Wann hört das endlich auf?
Graf: Es ist eine gute Frage. Sobald eine Impfung verfügbar ist, haben wir die Lage im Griff. Ich gehe davon aus, dass dies 2021 der Fall sein wird.
Kantone nehmen Bund in die Pflicht
Der Bund soll durchgreifen: Das fordert der Vorstand der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK), dem sowohl Guido Graf als auch der Zuger Regierungsrat Martin Pfister angehören. Es sei angezeigt, die Maskenpflicht in Geschäften und öffentlichen Räumen flächendeckend umzusetzen, schrieb die GDK am Freitag in einer Mitteilung. Dies, nachdem die Mehrheit der Kantone bereits entsprechende Entscheide getroffen habe.
Aufgrund der epidemischen Entwicklung sei auch eine Reaktivierung einer Homeoffice-Empfehlung auf Bundesebene nötig und zweckmässig. Zudem fordert der GDK-Vorstand den Bund auf, «umgehend eine einheitliche Regelung für öffentliche und private Versammlungen festzulegen». Höchstzahlen haben laut Mitteilung sicherzustellen, dass das normale Familien- und Freundesleben weiterhin möglich bleibt.
Den Kantonen empfiehlt der GDK-Vorstand, die Auflagen an Bars, Clubs und Diskotheken strenger auszugestalten. Ein Mittel dazu könnten Sperrstunden sein, aber auch die angeordnete Schliessung von Clubs. Angesichts der Engpässe beim Contact Tracing stellt das Gremium auch die Frage, ob Grossveranstaltungen weiterhin bewilligt werden können.