Auf 50’000 Quadratmetern wird in Luzern ab 2016 das Areal «Rösslimatt» neben dem Luzerner Bahnhof überbaut. Geplant sind ein «hochwertiger Bürokomplex» und 400 Wohnungen. Eine soziale Durchmischung oder gemeinnützige Wohnungen sind bis jetzt nicht vorgesehen. Droht Luzern damit ein Quartier für Wenige? Ein Blick nach Zürich lässt dies befürchten. Dort bauten die SBB die «Europaallee» – ein Areal, in dem man den Lebensnerv suchen muss.
Eigentümer der SBB-Areale ist der Bund. Und dieser erwartet von den SBB eine marktübliche Rendite. Dass die Stadt Luzern vom Stimmvolk den Auftrag erhalten hat, den Anteil von gemeinnützigem Wohnraum in den nächsten 25 Jahren von 14 auf 16 Prozent zu erhöhen, braucht weder den Bund noch die SBB zu interessieren. In dieser Sache steht die Luzerner Politik in der Verantwortung. Es stellt sich jedoch die Frage, ob denn die Stadt-Verantwortlichen versuchen, das Projekt der SBB in eine Luzern dienende Richtung zu beeinflussen. Denn die Rösslimatt ist eine der letzten Gelegenheiten, neuen zahlbaren Wohnraum im Herzen der Stadt zu ermöglichen.
Europaallee in Zürich: Grossbürgerliche Architektur ohne Halt
Das Rösslimatt-Areal ist noch nicht zu Ende geplant, doch lohnt sich gerade deshalb ein Blick nach Zürich, wo die SBB – ebenfalls direkt neben dem Hauptbahnhof – das Projekt Europaallee realisiert haben. Ein Shoppingcenter, Büroräumlichkeiten für 6000 Bankangestellte, ein Hotel, elegante Stadtwohnungen und Lofts. Die von den SBB erbaute Europaallee in Zürich wird nur tagsüber sozial durchmischt. Dann, wenn die Schüler der Pädagogischen Hochschule Zürich morgens zu ihren Unterrichtslektionen antreten. Mit der abendlichen Schulglocke wird das Areal dann wieder jener Bevölkerungsschicht überlassen, die sich eine der teuren Wohnung leisten kann. Ähnlich beschrieb der «Tagesanzeiger» die Szenerie in der Europaalee vor wenigen Tagen.
Philipp Klaus ist Dozent für Soziologie in der Architektur an der ETH Zürich. Die Europaallee beschreibt er mit «Klotz an Klotz, grossbürgerliche Architektur die keinen Halt gibt, jeder Blick flutscht sozusagen weg an den monotonen und repetitiven Elementen.» Das Gebiet sei nur als Gesamtskulptur zu betrachten, «als Ensemble von Klötzen, wie Spielzeug, nur nicht so verspielt. Es ist elitär.» Die 400 Wohnungen und Lofts im gehobenen Standard zeigen dann auch ihre Auswirkungen auf die Bewohnerstruktur der Europaallee: «Bezüglich Wohnen gibt es keine soziale Durchmischung im Areal. Bezüglich Besuchenden (im wesentlichen Einkaufende) ist das Angebot Mainstream – oder ein bisschen gehoben.»
Das Quartier wird «yuppifiziert»
Die Europaallee in Zürich zeigt, dass ein solches Grossprojekt auch einen Einfluss auf die unmittelbare Umgebung hat, wie Philipp Klaus erklärt: «Die neuen Einwohner der Europaallee werden teilweise auf das Langstrassenquartier ausstrahlen, viel mehr aber die Leute, die dort arbeiten.» Gemeint sind damit die rund 6’000 Bankangestellten, welche im Areal ihre Büroräumlichkeiten haben. «Das Quartier wird yuppifiziert, Konsumationspreise werden steigen, schicke Restaurants eröffnet.» Ob die Studenten der PHZ diesen Trend ausgleichen können, bleibt abzuwarten. Ernst Hauri, Direktor des Bundesamtes für Wohnungswesen BWO, betont, dass ein Quartier immer eine gewisse Zeit brauche, «bis sich entscheidet, in welche Richtung es sich entwickelt.»
Die Parallelen zu Luzern sind dabei offensichtlich. Wie in Zürich liegt das Rösslimatt-Areal direkt neben dem Bahnhof und ähnlich der Langstrasse war das Tribschenquartier in den 80er und 90er Jahren in Verruf, quasi das «ännet den Gleisen» von Luzern. Genau in solchen Gebieten setzen dann die Stadtentwickler mit den Grossprojekten an, wie Philipp Kraus weiss: «Meist werden nur die bestehenden Quartiere, wo die schwachen Einkommen leben, mit Leuten, die besser verdienen oder Vermögen haben, durchmischt. Dadurch steigen die Preise. In den reichen Quartieren hingegen werden keine Wohnungen mit moderaten Mietzinsen erstellt.»
Neu fördert und unterstützt der Bund auch den gemeinnützigen Wohnungsbau mit Finanzhilfen. So sieht es auf jeden Fall das Wohnbauförderungsgesetz vor. Laut Ernst Hauri, Direktor des Bundesamtes für Wohnungswesen BWO, habe der Bundesrat Mitte Januar verschiedene Beschlüsse gestützt auf den Wohnungspolitischen Dialog der Städte und Kantone gefasst: «Darin ist die Empfehlung enthalten, dass der Bund seine Strategie in Bezug auf die SBB-Areale überprüfen und gegebenenfalls anpassen soll.»
Aber wären Anpassungen im Rösslimatt-Areal überhaupt noch möglich, wenn die Untersuchungen des Bundes ergeben würden, dass gemeinnütziger Wohnungsbau auch den SBB-Grundstücken angeboten werden soll? «Grundsätzlich ja», sagt Jürg Stöckli, Leiter Immobilien der SBB, hält sich aber eine Hintertüre offen: «Bedingung dafür ist, dass die Nutzung der Wohnungen mit der Gesamtentwicklung des Areals verträglich ist.» Und auch Ernst Hauri möchte sich in dieser Sache nicht festlegen: «Wahrscheinlich wird das Rösslimatt-Quartier so umgesetzt, wie es geplant wird. Es ist heute schwierig zu sagen, ob da noch Änderungen passieren können.»
Doch was rät der Dozent für Soziologie in der Architektur, Philipp Kraus, der Stadt Luzern? Welche Lehren sollen aus der Europaallee für das Rösslimatt-Areal gezogen werden? «Rat holen, wie man mit den SBB verhandelt. Der Auftrag des Luzerner Stimmvolkes zur Erstellung von günstigem Wohnraum ist ernst zu nehmen, auch an zentralen Lagen. Nutzungsdurchmischung ist erwünscht, auch öffentliche Nutzungen, aber die SBB müssen mit den Preisen runter.» Ob im Rösslimatt-Areal schlussendlich wirtschaftliche Interessen oder jene der Stimmbürger berücksichtigt werden, wird sich zeigen.
«Es gibt keine Pflicht für die SBB»
Denn aktiv greife der Stadtrat von Luzern nicht in die Baupläne von Dritten ein. Laut Stadtpräsident Stefan Roth sorge der Stadtrat «im offenen Dialog mit dem Bauherren dafür, dass im Rahmen der gesetzlichen Planungs- und Bewilligungsverfahren eine qualitativ hochstehende und ausgewogene Stadtentwicklung möglich ist». Jedoch betont Roth, dass sich die Ziele der SBB in der Entwicklung des Areals Rösslimatt mit den Zielen des Stadtrates decken. Doch was sind diese Ziele? Büroräumlichkeiten für Firmen, welche trotz der tiefen Unternehmenssteuer immer noch nicht nach Luzern gezogen sind? Und Wohnungen für deren Mitarbeiter?
Auch Marcel Budmiger, SP-Mitglied des Grossen Stadtrates und Mitglied der Baukommission, betont, dass das Rösslimatt-Areal den SBB gehören: «Die Stadt hat daher nur beschränkten Einfluss. Diesen aber muss sie wahrnehmen, mit den SBB das Gespräch suchen und ihre Anliegen deponieren.» Die SP arbeitet zur Zeit an einer Interpellation, worin sie vom Stadtrat Antworten haben will, wie sich dieser in die Planung des Rösslimatt-Areals einbringen will: «Mit der City Bay-Überbauung wurden neben dem Rösslimatt-Areal bereits Wohnungen im hohen Preissegment gebaut. Nun muss in der Rösslimatt preisgünstiger Wohnraum geschaffen werden. Sonst droht uns tatsächlich eine Europaallee. Das ist ein negatives Beispiel, wie man es eben nicht tun sollte. Das Quartier ist abends tot.»
Budmiger bezieht sich auch auf den Auftrag, welcher die Luzerner Stimmbevölkerung der Regierung gegeben hat: «Für uns ist klar: Die SBB müssen einen Teil gemeinnützigen Wohnraum schaffen. Auch, damit die Stadt die Chance hat, den von unserer Initiative geforderten Anteil von gemeinnützigem Wohnraum zu erreichen.» Ob dies auch tatsächlich so zustande kommen wird, muss sich erst noch weisen. Denn in der Luzerner Regierung soll es durchaus auch Bewunderer der Zürcher Europaallee geben: «Stefan Roth’s Aussage mit dem Rösslimatt-Areal eine kleine Europaallee zu schaffen, kann ich beim besten Willen nicht verstehen», sagt Budmiger und stellt noch einmal klar, was er vom Zürcher Projekt neben dem Hauptbahnhof hält.
Als Erstes kommen die Büros – erst dann die Wohnungen
In einer ersten Bauetappe werden ab 2016 die Büroräumlichkeiten auf dem ehemaligen Güterschuppenareal, entlang der Bahnanlagen, realisiert. Dies sei laut Jürg Stöckli, Leiter Immobilien der SBB, denn auch im Sinne der Stadtregierung: «Mit einem Bürokomplex kommt die SBB der Nachfrage nach grossen, zusammenhängenden Büroflächen in Luzern nach.» Ein Blick in Onlineportale von Immobilienanbietern kann diese Nachfrage jedoch nicht untermauern: In Luzern stehen viele Büroräumlichkeiten leer. Nebst Büroflächen sind auf dem Rösslimatt-Areal 400 Wohnungen geplant, wobei diese erst später, nicht vor 2022 realisiert werden. Die Planung wurde noch nicht in Angriff genommen und so können laut Stöckli noch keine konkreten Angaben zur Nutzung der Wohnungen gemacht werden.
Einen Ansatz, in welche Richtung sich der künftige Wohnungsmix auf dem Rösslimatt-Areal entwickeln könnte, gibt Stadtpräsident Stefan Roth: «Der Stadtrat und das Parlament haben im wohnbaupolitischen Bericht festgehalten, dass die spätere Umzonung und Nutzung der heutigen Geleisefläche den öffentlichen Interessen dienen muss.» Öffentliche Interessen können unterschiedlicher Natur sein. Sozialer, kultureller oder natürlich ökonomischer. Der Finanzdirektor lässt dann auch keine Zweifel offen, welche Interessen im Areal Rösslimatt im Fokus stehen: «Aus heutiger Sicht stehen vor allem zwei Nachfrageziele im Zentrum. Zum einen wollen wir die wirtschaftliche Entwicklung sichern und stärken. Ebenso wächst die Nachfrage nach attraktivem, urbanem Wohnraum in allen Segmenten.»
Sammelbecken für neues, starkes Steuersubstrat?
Die Aussagen «wirtschaftliche Entwicklung» und «attraktiver, urbaner Wohnraum» deuten nicht darauf hin, dass künftig im Rösslimatt-Areal mit gemeinnützigem Wohnraum gerechnet werden kann. Viel eher lassen sie vermuten, dass es darum geht, gut verdienende Steuerzahler neu nach Luzern zu locken. Und auch bei der SBB scheinen monetäre Gedanken im Vordergrund zu stehen. Jürg Stöckli erklärt gegenüber zentral+, was die SBB aus Sicht der Bundesregierung mit ihren Arealen zu erreichen hat: «Der Bundesrat erwartet gemäss der Eignerstrategie von der SBB, dass sie die nachhaltige Wertsteigerung des Immobilienportfolios sicherstellt.»
Die Absichten des Bundes, mit den SBB-Arealen eine Gewinnmaximierung anzustreben, sind durchaus verständlich. Die SBB-Pensionskasse hat eine Sanierung nötig und die künftigen Investitionen in die Infrastruktur verlangen hohe finanzielle Ressourcen. «Jeder von SBB Immobilien verdiente Franken fliesst in das Bahnsystem», bestätigt Jürg Stöckli und fügt an, dass diese Mittel sonst durch Steuermittel kompensiert werden müssten.