Politik
Zwei Experten ordnen die Entwicklung ein

Deshalb haben Verschwörungstheorien gerade Hochkonjunktur

Bei der Demo der Corona-Rebellen in Zug standen Verschwörungstheorien im Fokus. (Bild: Roger Meier)

Verschwörungstheorien seien absurd, aber nicht unbedingt antisemitisch, sagen die Geisteswissenschaftler Demian Berger und Marko Kovic. Eine Demokratie müsse Anlässe wie die «FCK NWO»-Kundgebung in Zug aushalten. Die Antwort auf die laute Minderheit seien nicht Verbote, sondern Argumente.

Ein Club «psychopathischer Milliardäre» will uns durch 5G-Strahlung dezimieren, die Schweiz ist eine Firma ohne Regierungsgewalt, das World Trade Center wurde gesprengt. Die «FCK NWO»-Demonstration Anfang Oktober auf dem Stierenmarkt liess kaum einen Klassiker unter den Verschwörungstheorien vermissen.

Rund 500 Menschen zog die Kundgebung laut Behörden nach Zug. Die Organisatoren wollen gar 3'000 gezählt haben. Bereits planen die «Corona Rebellen Schweiz», wie sie sich selbst nennen, den zweiten Teil. Ein Anlass zum Thema «ritueller Missbrauch» soll mitunterstützt werden, wie den einschlägigen Kanälen zu entnehmen ist.

Der Kommunikations- und Politikwissenschaftler Marko Kovic und der Kulturwissenschaftler Demian Berger haben die «FCK NWO»-Veranstaltung und die Gruppierung dahinter für zentralplus genauer unter die Lupe genommen.

Absurde Meinungen werden zunehmend salonfähig

Dass die Corona Rebellen gerade jetzt sichtbarer in Erscheinung treten, kommt für Marko Kovic nicht von ungefähr. «Meinungen, die vor der Pandemie noch als wirr oder gefährlich galten, werden zunehmend salonfähig.» Immer unverhohlener sprächen einige Skeptiker-Kreise von der «Corona-Diktaktur» oder zögen «historisch absurde Parallelen». Es war aus seiner Sicht zu erwarten, dass die Verschwörungstheoretiker unter den Massnahmenkritikern das Narrativ der orchestrierten Pandemie («Plandemie») ausweiten.

«Meinungen, die vor der Pandemie noch als wirr oder gefährlich galten, werden zunehmend salonfähig.»

Marko Kovic

In der Verantwortung für diese «Verschiebung des Sagbaren» sieht Marko Kovic nebst Wortführern der Anti-Massnahmen-Bewegung die Medien und die SVP. Die grösste Partei der Schweiz habe schon früh eine Haltung eingenommen, die den Bundesrat mit absurden Vorwürfen konfrontiere und geradezu «torpediere».

Besuche bei den Freiheitstrychlern oder in den Online-Sendungen der Skeptiker würden die radikale Minderheit in ihrem Denken bestätigen. Letztere werde zusehends lauter. Verstärkt werde dies durch die Berichterstattung gewisser Medien, welche die Botschaft von Diktatur, bundesrätlicher Machtgier und «schlimmeren Absurditäten» nicht einordnen.

Eine laute Minderheit in der lauten Minderheit

Wie viele innerhalb der Anti-Massnahmen-Bewegung der Meinung sind, die Coronakrise sei nur ein Symptom konspirativer Machenschaften, lässt sich laut Marko Kovic nicht beziffern. «Uns fehlen die Daten.» Er geht davon aus, dass es sich um eine laute Minderheit von rund 20 Prozent der radikalen Massnahmekritiker handelt. «Eine laute Minderheit in der lauten Minderheit.»

Nicht auszuschliessen ist, dass Leute dazugestossen sind, die ursprünglich nur an Massnahmenkritik interessiert waren. Dieser Meinung ist auch Demian Berger, der an der Uni Luzern zum Thema Aufklärung und Polemik forscht. Seine Erklärung: «Ernstzunehmende Kritik» sei durch die Medien allzu oft vorschnell im Keim erstickt und als «rechtslastig, unsolidarisch» oder eben als Verschwörungstheorie disqualifiziert worden. Dadurch wurden gemässigte Skeptiker möglicherweise zu «unheiligen Allianzen» mit den radikaleren Kräften veranlasst und für Verschwörungstheorien empfänglich gemacht.

Dass das Weltbild der Verschwörungstheoretiker längst nicht von der gesamten Bewegung geteilt wird, zeigt ein Blick auf Telegram. Kritische Stimmen zur «FCK NWO»-Veranstaltung blieben nicht aus. Von einer Spaltung der Bewegung möchte Marko Kovic aber nicht reden. Den unterschiedlichen Gruppierungen sei bewusst, dass sie im Kern gegen dasselbe kämpfen – «gegen die aus ihrer Sicht ungerechtfertigten Massnahmen».

Setzen sich wissenschaftlich mit Verschwörungstheorien auseinander: Demian Berger und Marko Kovic. (Bilder: zvg)

Eine Botschaft mit Zündstoff

Problematisch sei die Botschaft der Verschwörungstheoretiker vor allem deshalb, weil es sich im Kern um eine «extreme Infragestellung des politischen Establishments» handle, sagt Demian Berger. Das berge Zündstoff. Auch der Titel der Kundgebung auf dem Stierenmarkt (etwa: «Scheiss auf die neue Weltordnung») zeuge nicht unbedingt von einer pazifistischen Grundhaltung. Man dürfe sich die Frage nach dem «intrinsischen Gewaltpotenzial» der Botschaft deshalb ruhig stellen.

Falsch sei es jedoch, anzunehmen, jeder Verschwörungstheoretiker würde automatisch zum Gewalttäter. Das zeigt das Beispiel der Veranstaltung auf dem Stierenmarkt-Areal. Sie verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle. Für Demian Berger ist deshalb klar, dass eine demokratische Gesellschaft solche Anlässe auszuhalten und zu erlauben habe.

«Harter Kern» radikalisiert sich

Marko Kovic sieht das ähnlich. Er hält die Kundgebung punkto öffentlicher Sicherheit für unbedenklich. Den Bewilligungsentscheid von Sicherheitsvorsteher Urs Raschle kann er nachvollziehen (zentralplus berichtete). Das eigentliche Problem sieht Kovic in der «Online-Radikalisierung»: Der «harte Kern» der Massnahmenkritiker – darunter sicherlich auch einige Verschwörungstheoretiker – wiegle sich in ihrer Bubble gegenseitig immer mehr auf. Dies sei zuletzt im Zuge der Zertifikat-Erweiterung zu beobachten gewesen. Die hundert- bis tausendfach geteilten Live-Mitschnitte der Demos und Kundgebungen seien Teil dieser «Radikalisierungsspirale».

Diese drehe sich immer schneller. Marko Kovic ist besorgt. Man könne den Apfelschorle-Angriff auf die Zürcher Gesundheitsdirektorin, Störaktionen gegen Impfbusse oder die Ausschreitungen vor dem Bundeshaus im September schon als harmlos oder normal belächeln. Derartige Aktionen seien aber noch nie Teil der politischen Kultur der Schweiz gewesen. Sie würden verdeutlichen, dass sich der aufgestaute Hass einiger Weniger allmählich in Taten umwandle und entlade. «Bis jemand so etwas macht, muss er sehr radikalisiert worden sein.»

Verschwörungstheorien sind nicht zwingend antisemitisch

Widerstand regte sich im Vorfeld der «FCK NWO»-Kundgebung nicht primär wegen potenziellen Ausschreitungen. Das linke Komitee «Zug hält Abstand» (zentralplus berichtete) befürchtete rassistische und antisemitische Äusserungen. Die Gruppe, die sich als «Stimme der leisen Mehrheit» versteht, forderte deshalb von den Behörden, Verstösse gegen die Rassismus-Strafnorm konsequent zur Anzeige zu bringen.

Für Demian Berger ist die Forderung legitim. «Natürlich gibt es antisemitische Verschwörungstheorien. Aber nicht jede Verschwörungstheorie ist antisemitisch», so der Experte für deutsch-jüdische Literatur. Von vorschnellen Verurteilungen gelte es Abstand zu nehmen. Er spreche dann von einer antisemitischen Verschwörungstheorie, «wenn die Juden eine tragende Rolle in der postulierten Weltverschwörung spielen».

«Das beste Mittel gegen absurde Weltbilder sind nicht Verbote, sondern gute Argumente und Dialog.»

Marko Kovic

Zu beurteilen, ob dies auf vereinzelte Reden des Anlasses auf dem Stierenmarkt zutreffe, sei Aufgabe der Justiz, so Berger und Kovic. Von einer rassistischen oder antisemitischen Veranstaltung könne man im Falle der «FCK NWO» nicht sprechen. Ein paar wenige Reden hätten jedoch «antisemitisch aufgeladene» Elemente enthalten. Dies sei etwa der Fall, wenn auf «die Bankiersfamilie Rotschild» oder «die jüdische Freimaurerei» als mächtige Strippenzieher im Verborgenen verwiesen wurde.

Die Redner hätten mit Sicherheit gewusst, welcher Begriffe sie sich bedienen, sagt Marko Kovic. Dem Grossteil des Publikums dürfe «die antisemitische Interpretation» der jeweiligen Verschwörungstheorie aber gar nicht aufgefallen sein.

Dialog und Argumente sind gefragt, nicht Verbote

Die nächste Kundgebung der Corona-Rebellen will sich einer «satanistischen Elite» widmen, die Kinder entführe, missbrauche oder deren Blut trinke. Das erinnert an die frühmittelalterliche Ritualmordlegende gemäss der Juden das Blut von Christenkindern für ihr gesäuertes Brot verwenden würden. Dieses Schauermärchen wird nicht zuletzt durch die QAnon-Bewegung verbreitet.

Demian Berger und Marko Kovic blicken kritisch auf die Veranstaltung zum Thema «ritueller Missbrauch». Ob die Organisatoren bei ihrer Planung nach Zug schielen, ist nicht bekannt. Möglich ist es. Die Stadt wurde nicht nur aufgrund ihrer zentralen Lage bereits dreimal zum Austragungsort von Kundgebungen gegen die Corona-Massnahmen. Nach dem Bewilligungsentscheid für die «FCK NWO» wurde Zug von den Veranstaltern als «einen der wenigen Kantone» gefeiert, in dem die Verfassungsrechte noch gewahrt würden.

Verbieten würden Berger und Kovic diese und weitere Kundgebungen gemäss jetzigem Kenntnisstand nicht. «Das beste Mittel gegen absurde Weltbilder, sind nicht Verbote, sondern gute Argumente und Dialog», sagt Marko Kovic. Auch in den Reihen der Verschwörungstheoretiker gebe es immer noch solche, bei denen durch Argumentieren und Zuhören etwas erreicht werden könne.

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