Ehemaliger zentralplus-Journalist über die Ukraine

«Dass Russland Krieg anzettelt, wollte ich nicht wahrhaben»

Der Luzerner Raphael Zemp reiste nach Kiew um denen Gegenentwurf zum Westen kennenzulernen. Der Angriff durch Russland schockiert ihn zutiefst. (Bild: Adobe Stock)

Eigentlich wäre der ehemalige zentralplus-Journalist Raphael Zemp diese Woche in die Ukraine geflogen. Der Luzerner hat längere Zeit dort gelebt. «Teile deine Position in diesem Konflikt mit der ganzen Welt», riet ihm ein ukrainischer Bekannter. Das macht er mit diesem Gastbeitrag.

Am Morgen sieht die Welt ganz anders aus, sagt man.

Ich wünschte, der Volksmund hätte Recht. Fakt aber ist: Wenige Stunden des unruhigen Hin- und Herwälzens haben keine Wunder bewirkt.

In der Ukraine herrscht noch immer Krieg (zentralplus berichtete). Der Einmarsch russischer Truppen in sein friedliches Nachbarland im Westen unter fadenscheiniger, ja erlogener Begründung eines weltfremden, machttrunkenen und rachsüchtigen Greisen hat sich nicht als Alptraum erwiesen.

«Hätte die Swiss ihre Flüge in die Ukraine nicht eingestellt, ich würde mich jetzt in Kiew befinden.»

Noch immer steht eine moderne und straff geführte russische Armee ukrainischen Truppen gegenüber, die in vielen Belangen unterlegen sind. Es wird geschossen und gemordet; schwarze Erde tränkt sich mit rotem Blut.

Und noch immer reibt sich die ganze Welt ungläubig die Augen. Es ist passiert, was viele für ein Ding der Vergangenheit hielten: Ein konventioneller Krieg zwischen zwei Staaten ist ausgebrochen. Und das nicht irgendwo, sondern in Europa, nur wenige Flugstunden von unserem Zuhause entfernt.

Den Gegenentwurf zum Westen entschlüsseln

Wie nur konnte das passieren?

Eine Frage, die nicht nur die halbe Welt, sondern auch mich persönlich umtreibt. Weil ich als (ehemaliger) Journalist und engagierter Zeitgenosse grundsätzlich am (Welt-)Geschehen interessiert bin. Vor allem aber auch, weil ich Russisch und Geschichte studiert habe – und besessen bin von Osteuropa. Immer wieder reiste ich erst nach Russland, später vermehrt in die Ukraine. Um die Sprache zu erlernen, um zu studieren (in Rostow am Don), vor allem aber um Land und Leute kennenzulernen – und den Gegenentwurf zum Westen zu entschlüsseln.

Hätte die Swiss ihre Flüge in die Ukraine nicht eingestellt, ich würde mich jetzt in Kiew befinden. Dort, wo jetzt Sirenen heulen, Bomben explodieren und Gefechte geführt werden, wollte ich meine Ferien verbringen. Dass Russland in sein Nachbarland einfallen würde, einen grossflächigen Krieg anzetteln würde – ich wollte es bis zuletzt nicht wahrhaben.

Umso grösser der Schock, als das Unvorstellbare in den frühen Morgenstunden des Donnerstags Tatsache wurde. Nach einer Nacht, in der ich keine Sekunde Schlaf gefunden habe.

Hier ist Fasnacht, in der Ukraine ist Krieg

Seither sitze ich fast ununterbrochen vor meinem Computer, suche in unzähligen Tabs nach Antworten.

Was sagt der Westen? CNN, BBC, NBC, Spiegel, NZZ. Ab und zu poppen auch Beiträge des regionalen Platzhirsches im News-Feed auf, verstören aber eher. «Punkt 5 Uhr morgens hats geknallt», wird etwa vermeldet. Oder «Brüele». Die Rede aber ist von der Fasnacht. Im flächenmässig grössten vollständig in Europa gelegenen Land sterben Leute, in Luzern Kinos (zentralplus berichtete).

«Mal packt mich die nackte Wut, mal übermannt mich schier grenzenlose Trauer.»

Was sagt die russische Opposition? Der TV-Sender Dozhd (zu Deutsch «Regen») läuft ohne Unterbruch, ich schaue Youtube-Beiträge von Kreml-Kritiker und Putin-Erzfeind Michail Chodorkovskij sowie Einschätzungen von zig anderen Regierungskritikern, unabhängigen Journalisten und Aktivisten. Wären da keine sprachlichen Barrieren, ich würde noch mehr ukrainische Newssendungen verfolgen

So viel unnötig provoziertes Leid!

Dann und wann klinke ich mich auch in den Newsfluss der russischen Propaganda ein. Lasse mir von Experten des russischen Staatsfernsehens erklären, dass es sich hierbei nicht um einen Krieg, sondern um eine kriegerische Sonderoperation handle, ja eigentlich um eine Friedenssicherungsmission. Werde immer wieder mit Ausschnitten von Putins verstörender Rede konfrontiert, die versucht den Angriff auf den friedlichen Nachbarstaat als unabdingbar und unausweichlich darzustellen.

«Die Verantwortung für dieses Blutvergiessen hat einen Namen: Wladimir Wladimirowitsch Putin.»

Mal packt mich die nackte Wut, mal übermannt mich schier grenzenlose Trauer. So viel unverschämtes Lügen! So viel unnötig provoziertes Leid! Und scheinbar so wenig Möglichkeiten, den Gang der Dinge zu beeinflussen.

Klar, ich kann Worte der Unterstützung an meine Bekannten in der Ukraine richten – was ich auch getan habe. Aber was nützt das schon gegen massiertes Artilleriefeuer? Schlägt das den gut ausgerüsteten russischen Feind in die Flucht? Wohl kaum. Aber immerhin...

Kein Verständnis für die Russlandversteher

«Teile deine Position in diesem Konflikt mit der ganzen Welt», riet mir ein ukrainischer Bekannter weiter. Das fällt mir nicht schwer – und genau das bezweckt auch dieser Bericht. Die Botschaft ist eine simple, wenn auch für viele sogenannte Russlandversteher schwer verdaulich. In diesem Konflikt gibt es einen klaren Aggressor (Russland) und ein ebenso klares Opfer, das an der jüngsten Eskalation keine Schuld trifft (Ukraine). Den Genozid an der russischen Bevölkerung im Donbass gibt es nicht. Und auch die Nato ist nicht Trigger dieser Eskalation. Die Verantwortung für dieses Blutvergiessen hat einen Namen: Wladimir Wladimirowitsch Putin.

Raphael Zemp hat Russisch und Geschichte studiert und danach mehrere Jahre als Journalist bei der «Luzerner Zeitung» gearbeitet. Danach wechselte er als freier Mitarbeiter zu zentralplus, bevor er sich für eine Weiterbildung entschied. In den letzten Jahren ist er mehrfach in die Ukraine gereist und hat dort mehrere Monate gelebt.

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2 Kommentare
  • Profilfoto von Roli Greter
    Roli Greter, 26.02.2022, 10:30 Uhr

    Ich habe weder für Russlandversteher, NATO-Versteher, Osterweiterer noch für Putsch-Freunde Verständnis. Es scheint so als würde man, abhängig vom jeweiligen Flecken Erde wo man lebt, ganz gezielt mit Informationen eingedeckt die den jeweiligen Regierungen zuträglich sind. Intelligente Menschen haben längst begriffen wer in der Ukraine jahrelang Öl ins Feuer gegossen hat. Leider trifft es immer die Unschuldigen, die Drahtzieher hocken in ihren Villen und freuen sich über die guten Kriegsgeschäfte.

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  • Profilfoto von Sabine Steiger
    Sabine Steiger, 26.02.2022, 07:24 Uhr

    Vielen Dank Herr Zemp für diesen Kommentar – es ging mir ähnlich mit dem Urknall. Und so wie sich die weltpolitische Lage grad präsentiert habe auch ich hierzulande wenig Lust auf unklare Politikentscheide, übereifriges Fasnachtstreiben und Flugübungen zugunsten Skirennengaudi.

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