Gundula-Richter geht in Pension

Peter Studer: «Als Richter bin ich weder allwissend noch allmächtig»

Bezirksrichter Peter Studer sagt, es brauche eine einfache Sprache, damit die Entscheide der Justiz akzeptiert werden. (Bild: ber)

Jahrelang arbeitete Peter Studer als Bezirksrichter in Luzern, nun ist er pensioniert. Im Gespräch sagt er, welche Fälle ihm besonders nahe gegangen sind – und warum er mit der Kritik an seinem Entscheid im Fall «Gundula» gut leben kann.

zentralplus: «Als Richter bekommt man einen Einblick ­in fremde Lebenswelten, man kommt mit dem Schicksal anderer Menschen in Berührung», sagte mir mal ein Luzerner Richter. Was haben Sie als Richter über die Menschen und das Menschsein gelernt?

Peter Studer: Ich hatte oft mit Konfliktsituationen, harten Schicksalen und schwierigen Charakteren zu tun. In der Justiz ist es praktisch ein Berufsrisiko, ein negatives Menschenbild zu entwickeln. Aber gerade im Familienrecht habe ich auch schöne Erfahrungen gemacht: Mit Menschen, die wirklich gemeinsam nach einer Lösung suchen, die für alle passt.

zentralplus: Als Leiter der 2. Abteilung am Bezirksgericht Luzern hatten Sie fast jeden Tag mit Ehescheidungen zu tun. Die Leute kamen zu Ihnen, wenn sich ihre Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft zerschlagen hatten. Wie hat Sie das privat geprägt?

Studer: Ich kann nicht sagen, dass dies spurlos an einem vorbei geht. Aber in dieser Funktion ist es überlebensnotwendig, sich abzugrenzen. Ich würde sagen, das ist mir relativ gut gelungen, auch wenn es natürlich Einzelschicksale gibt, die mich belastet haben. Besonders wenn es um Kinder geht und die Eltern sehr unterschiedliche Vorstellungen haben, was für diese das Beste ist. Ich habe immer versucht, das Beste daraus zu machen – aber auch ich kann die Welt nicht retten.

zentralplus: Glücklicherweise gehen viele Scheidungen relativ reibungslos über die Bühne. Was können Richter beitragen, damit das gelingt?

Studer: Als Richter kann ich mir zwar überlegen, wie eine gute Lösung aussehen könnte. Aber ich bin weder allwissend noch allmächtig. Es kann gut sein, dass auch ich mal falsch liege. Das soll vorkommen. Das wichtigste ist, ein Klima zu schaffen, in dem ein offenes Gespräch möglich ist und die Parteien sich gegenseitig zuhören. Manchmal geht das – und manchmal ist es halt schon «verkachelt».

zentralplus: Manche Eltern einigen sich zum Beispiel darauf, dass das Kind jeweils eine Woche bei der Mutter und danach eine Woche beim Vater ist. Welche Erfahrungen haben Sie mit solchen Lösungen gemacht?

Studer: Das ist im Moment im Trend, alle sagen, man solle das fördern. Ich finde auch, dass das gut sein kann. Es gibt aber ein paar Voraussetzungen zum Gelingen, die nicht immer gegeben sind.

«Das Kind kann sich nicht wohlfühlen, wenn ein Elternteil den anderen ständig verteufelt und schlecht macht.»

zentralplus: Wie sehen diese aus?

Studer: Die Eltern müssen sehr gut miteinander kommunizieren können. Sie dürfen ihre Konflikte nicht über die Kinder austragen. Zudem braucht es eine gewisse geografische Nähe. Bereits wenn die Eltern nicht in der gleichen Gemeinde leben, wird es schwierig. Zudem müssen die Eltern das beide wollen. Es ist wenig sinnvoll, die alternierende Obhut anzuordnen, wenn sich beispielsweise die Mutter dagegen sträubt. Wenn sie zu ständigen Streitereien führt, ist es fraglich, ob eine solche Regelung im Interesse des Kindes ist.

zentralplus: Wenn ein Paar Kinder hat, ist das sogenannte «Kindswohl» die Richtschnur, nach denen die Richter entscheiden sollten. Was damit gemeint ist, daran scheiden sich teils die Geister.

Studer: Wenn die Kinder nicht mehr all zu klein sind, werden sie dazu befragt, was sie gerne möchten. Die klassische Antwort ist: Sie möchten, dass die Eltern zusammenbleiben und sie bei beiden wohnen können – leider ein Wunsch, den ich ihnen nicht erfüllen konnte.

zentralplus: Was verstehen Sie unter «Kindswohl»?

Studer: Der Begriff ist überhaupt nicht klar definiert. Ich sage es mal ganz pointiert: Das Kindeswohl ist das, was die Richter glauben, sei das Kindswohl. Ob es wirklich so ist – da bin ich mir nicht immer sicher. Wenn ich Bundesgerichtsentscheide lese, in welchen die alternierende Obhut angeordnet wird, obwohl die Eltern ständig streiten, dann bezweifle ich das sogar.

«Die Männer, die sich gleichberechtigt um den Nachwuchs kümmern, sind noch in der Minderheit. Das schlägt sich in den Entscheiden nieder.»

zentralplus: Sie meinen, weil sie einem ständigen Loyalitätskonflikt ausgesetzt sind?

Studer: Das Kind kann sich nicht wohlfühlen, wenn ein Elternteil den anderen ständig verteufelt und schlecht macht. Wenn eine Mutter dem Kind jeden Tag sagt, der Vater sei ein Halunke, will das Kind irgendwann nicht mehr zu diesem Mann gehen. Oder umgekehrt: Es weiss zwar, dass der Vater kein Halunke ist, will aber die Mutter nicht enttäuschen. Das ist schwierig.

zentralplus: Welche Lösungen gibt es in solchen Situationen?

Studer: Fürs Kindswohl zuständig sind in erster Linie die Eltern. Wir müssen uns bewusst sein: Wenn die Eltern eine Deeskalation konsequent blockieren, sind die Gerichte ziemlich hilflos. Wir können Hilfe anbieten. Aber wir können ihnen deswegen nicht die Kinder wegnehmen, auch wenn sie ihnen schaden.

zentralplus: Es heisst, dass Männer im Familienrecht benachteiligt seien. Hat sich dies mit Einführung des gemeinsamen Sorgerechts etwas geändert?

Studer: Das Sorgerecht ist heute am Gericht praktisch kein Thema mehr. Die Streitigkeiten über die Obhut, also wo das Kind tatsächlich lebt, sind aber zentraler geworden. Das muss man eines sehen: Die Gesetze sind das eine, die gesellschaftliche Realität ist das andere. Da ist es nach wie vor so, dass die überwiegende Betreuung der Kinder durch die Mütter stattfindet. Die Männer, die sich gleichberechtigt um den Nachwuchs kümmern, sind noch in der Minderheit. Das schlägt sich in den Entscheiden nieder.

zentralplus: Die Zahl der Straffälle, die am Bezirksgericht Luzern gelandet sind, hat sich verdreifacht, seit sie vor neun Jahren dort angefangen haben. Können Sie sich das erklären?

Studer: Es könnte damit zusammenhängen, dass die Betroffenen heute weniger bereit sind, die Entscheide der Staatsanwaltschaft zu akzeptieren. Der weitaus grösste Teil der Verfahren wird aber immer noch mit Strafbefehlen erledigt. Was zum Anstieg beigetragen haben könnte, ist die Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative. Einen Landesverweis können die Staatsanwaltschaften nicht über einen Strafbefehl erledigen, diese Fälle müssen nun alle ans Gericht. Das generiert zusätzlichen Aufwand. Allerdings ist die Anzahl dieser Verfahren zu klein um den grossen Anstieg der Fallzahlen zu erklären.

zentralplus: In den strafrechtlichen Verhandlungen sind Sie als «väterlich-strenger» Richter aufgefallen. Sie haben die Beschuldigten immer anständig behandelt, aber Sie liessen sich ungern auf der Nase herumtanzen. Womit konnte man Sie im Gerichtssaal auf die Palme bringen?

Studer: Das sollte man vermeiden. Aber es gab schon mal einen Fall, in dem ich mich sehr geärgert habe. Da hat eine Zeugin ganz offensichtlich gelogen. Sie wurde instrumentalisiert vom Beschuldigten. Ich hätte ihr am liebsten gesagt, dass ich ihr kein Wort glaube. Aber ich konnte es nicht beweisen und musste den Beschuldigten deshalb freisprechen.

zentralplus: Es gab auch medienträchtige Fälle, in denen Sie gefragt waren. Beispielsweise hatten Sie im Fall Gundula zu entscheiden, ob sich die Journalistin Jana Avanzini des Hausfriedensbruchs schuldig gemacht hatte oder nicht (zentralplus berichtete). Hat es sie geärgert, dass Ihr Entscheid, sie zu verurteilen, danach so kontrovers diskutiert wurde?

Studer: Das ist ein Berufsrisiko. Es hat ja offenbar auch Rechtsgelehrte gegeben, die fanden, die Position des Bezirksgerichts in dem Fall sei nicht mehr zeitgemäss. Ich habe Verständnis dafür, dass man die Sache anders sehen kann. Ich habe zwar nicht alle Medienberichte gelesen, aber ich hatte den Eindruck, dass die Kritik vom Ton her sachlich und nicht persönlich war.

zentralplus: Sie haben die Kritik also nicht persönlich genommen.

Studer: Was letztlich gerecht und richtig ist, weiss niemand mit endgültiger Gewissheit. Für mich muss ein Entscheid vertretbar und nachvollziehbar sein. Aber es gibt immer Argumente, die für die andere Richtung sprechen. Es kann durchaus sein, dass eine höhere Instanz das anders sieht oder der Entscheid kritisiert wird.

zentralplus: Berufsbedingt macht man sich des Öfteren unbeliebt als Richter. Wie sind Sie damit umgegangen, wenn die Betroffenen vielleicht auch mal «ausgerufen» haben?

Studer: Wichtig ist, möglichst objektiv zu bleiben und nicht ebenfalls emotional zu reagieren.  Wir waren ja nur die erste Instanz, ich hatte immer die Möglichkeit, die Betroffenen auf den Rechtsweg zu verweisen. Zu wissen, dass sie den Fall von einem zweiten Gericht unabhängig nochmals beurteilen lassen können, nimmt viel Druck.

«Wenn wir Richter und die Anwälte Urteile studieren und nicht drauskommen, stimmt irgendwo etwas nicht mehr.»

zentralplus: In Ihrer Karriere hat sich die Luzerner Justiz stark verändert. Laienrichter wurden beispielsweise abgeschafft. Was ging damit verloren?

Studer: Sie waren ein Bindeglied zur Bevölkerung. Und ich finde nach wie vor: Die Akzeptanz der Justiz ist wichtig, damit diese überhaupt funktioniert. Man stelle sich vor, nur ein Prozent unserer Kunden würde sich konsequent querulatorisch benehmen: Wir könnten den Laden zu machen.

zentralplus: Was braucht es, damit die Entscheide der Justiz akzeptiert werden?

Studer: Eine einfache Sprache. Wenn die Leute die Urteile nicht mehr verstehen, sind sie auch nicht bereit, sie zu akzeptieren. Und da sehe ich eine gewisse Gefahr, dass wir uns davon immer weiter entfernen. Es geht immer mehr in diese Richtung. Wenn beispielsweise im Unterhaltsrecht wir Richter und die Anwälte zusammen Urteile studieren und nicht drauskommen, dann stimmt irgendwo etwas nicht mehr.

Hinweis: Zum Fall Bodum veranstaltet zentralplus ein Podiumsgespräch:

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Ein sorge- und obhutsberechtigter Vater
    Ein sorge- und obhutsberechtigter Vater, 18.02.2020, 08:06 Uhr

    Seine Pensionierung ist für Väter ein Segen. Genau diese Haltung trägt dazu bei, dass Väter immer wieder benachteiligt werden. Wenn eine Mutter den Vater grundlos schlecht redet, ist die geteilte Obhut der wichtigste Weg, deren zerstörerische Wirkung auf das Kind einzudämmen. Zudem fällt weg, dass der Vater um das Kind betteln muss, was viel eher zu streit führt, als wenn die Betreuungszeit gerecht geteilt ist. Wenn die Mutter zudem weiss, dass ihr das Sorgerecht auch entzogen werden könnte, wird sie eher zur Vernunft gezwungen als wenn ihr alle Macht und Rechte zustehen. Es bleibt den Vätern von Herzen zu wünschen, dass altmodische Richter einen modernen Familienrecht weichen.

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