88 Personen im Grosshof unterschreiben einen Brief

«Warum randalieren wir?»: Junge Flüchtlinge fordern Mitspracherechte

Der Blick auf den Innenhof und die Gesellschaftsräume im neuen Asylzentrum Grosshof.

(Bild: giw)

88 Jugendliche des Durchgangszentrums Grosshof in Kriens haben eine Stellungnahme unterschrieben. Dieser ist an die Leiterin der Dienststelle Asyl- und Flüchtlingswesen in Luzern gerichtet. In diesem Brief erklären sie, warum es zu Problemen gekommen ist. Sprich: Warum sie vor zehn Tagen im Durchgangszentrum randaliert haben.

«Wir sind die Jugendlichen vom DGZ Grosshof. Was vor zehn Tagen bei uns passiert ist, macht uns sehr unglücklich. Wir wissen alle, dass Aggression und Zerstörung keine Lösung ist. Wir wünschen uns, einen anderen Weg zu finden.» Mit diesen Worten beginnt das Schreiben, das 88 Bewohner des Flüchtlings-Durchgangszentrums in Kriens unterschrieben und an Silvia Bolliger, Leiterin der Dienststelle Asyl- und Flüchtlingswesen in Luzern, geschickt haben. Es geht auf die Vorfälle von Mitte Januar ein, als zweimal nacheinander die Polizei nach Kriens ausrücken musste (zentralplus berichtete).

Erstes Zentrum für minderjährige Asylsuchende im Kanton Luzern

Der Grosshof ist bekanntlich das erste Zentrum im Kanton Luzern in Kriens, das speziell für Asylsuchende gebaut wurde. Es wurde im November 2017 in Kriens (siehe Box am Textende).

Seit sieben Wochen würden sie im Grosshof wohnen und sie seien sehr dankbar, dass man dieses Zentrum für sie gebaut habe, halten die Jugendlichen im Brief fest. «Überhaupt sind wir dankbar, in der Schweiz zu leben. Wir haben hier ein Zuhause, bekommen zu Essen und können in die Schule gehen. Unser Leben kann hier anfangen. Wir möchten alle eine gute Zukunft haben und ein selbständiges Leben aufbauen», heisst es in dem Schreiben weiter.

Zahlreiche Anwohner und Mitarbeiter des Kantons besuchten die Eröffnung des Asylzentrums Grosshof.

Zahlreiche Anwohner und Mitarbeiter des Kantons besuchten die Eröffnung des Asylzentrums Grosshof.

(Bild: giw)

«Warum randalieren wir, wenn wir so dankbar sein wollen? Wir sind unglücklich über die letzten Monate.» Dann versuchen die 88 Jugendlichen ihr Verhalten zu erklären, das gemäss dem Kanton darauf zurückzuführen ist, dass ihr Tagesbudget gekürzt wurde. Es sei nicht nur wegen der Kürzung der Finanzen, schreiben nun aber die Jugendlichen. Viele denken, es sei nur wegen des Gelds. Das sei ein Aspekt. 


«Das macht ein Gefühl von Ohnmacht.»

Jugendliche in dem Schreiben

«Aber es ist vor allem, weil über uns entschieden wird, ohne uns zu fragen. Das macht ein Gefühl von Ohnmacht. Wir haben schwierige Situationen erlebt in unserem Leben, es ist fast nicht erträglich, wenn man uns herumschiebt und über uns entscheidet. Wir sind hier, um Verantwortung für uns und unsere Angehörigen zu übernehmen. Aber wie sollen wir das tun, wenn wir nicht als erwachsene Menschen angesprochen werden, sondern als Problem, das man unter Kontrolle halten muss?»

Vor drei Monaten habe man die Gesetze und Regelungen verschärft, so die ausländischen Jugendlichen in dem Brief. «Damals haben wir die Situation akzeptiert. Seit wir ins DGZ Grosshof umgezogen sind, werden wir mehr kontrolliert. Wir fühlen uns überwacht. Ein automatisches System checkt uns ein und aus. Wir wohnen mit neuen WG-Partnern zusammen. Wir haben unsere Mitbewohner nicht ausgesucht und wurden zusammengewürfelt. Die Beziehungen von vorher wurden auseinandergerissen.»

«Wir haben Angst, dass alle denken, wir sind undankbare Problemasylanten.»

Jugendliche vom Grosshof in Kriens

Im Pilatusblick, dem vorherigen Zuhause, habe man Mitbewohner selber bestimmen können. «Das hat gut funktioniert», heisst es in dem Schreiben weiter. «Gute Freunde sind für uns das Wichtigste. Wir haben keine Eltern oder Geschwister, mit denen wir zusammenleben können. Wem sollen wir vertrauen? Wir müssen uns immer wieder an neue Menschen gewöhnen. Auch die Betreuer wechseln ständig und sie haben keine Zeit für unsere Fragen. Wir wurden als Menschen gesehen. Jetzt sind wir nur noch Nummern.»

Der Kanton habe angeboten, dass sich die Jugendlichen melden könnten, wenn sie Probleme hätten. «Wir haben wirklich grosse Probleme. Wir haben Angst, dass alle denken, wir sind undankbare Problemasylanten. Wir möchten gerne mit Ihnen ein Gespräch führen», endet der Brief.

«Wir werden mit den Jugendlichen einen Gesprächstermin koordinieren.»

Silvia Bolliger, Leiterin Dienststelle Asyl- und Flüchtlingswesen

Kanton nimmt inhaltlich keine Stellung

Wie Silvia Bolliger gegenüber zentralplus mitteilte, wolle man nicht über die Medien mit den Jugendlichen kommunizieren. Ausserdem sei man gerade dabei, einen Kontakt zu ihnen herzustellen. «Wir werden mit den Jugendlichen einen Gesprächstermin koordinieren.»

Der Regierungsrat hat die Leitung der neuen Dienststelle Asyl- und Flüchtlingswesen, die per Anfang 2017 geschaffen wurde, Silvia Bolliger übertragen. Sie steht der Abteilung im Sozialdepartement bereits seit Mai ad interim vor. Bolliger leitete zuvor unter anderem die Kommunikation im Gesundheits- und Sozialdepartement und war stellvertretende Departementssekretärin.

 Rund 120 minderjährige Asylsuchende in den Grosshof eingezogen

Der Grosshof ist bekanntlich das erste Zentrum im Kanton Luzern in Kriens, das speziell für Asylsuchende gebaut wurde. Es ist im November 2017 in Kriens eröffnet worden. Es bietet Platz für 120 unbegleitete minderjährige Asylsuchende (MNA). Die Bauzeit dauerte neun Monate bei Kosten von rund 6,8 Millionen Franken (zentralplus berichtete).

In den Neubau sind Asylsuchende im Alter von 14 bis 17 Jahren eingezogen. Das neue Zentrum ist auf ihre Bedürfnisse und auf jene der Betreuer ausgerichtet. Unter der Woche haben die Jugendlichen eine feste Tagesstruktur. Wer unter 16 Jahren ist, besucht ein spezielles Schulangebot in Luzern, ältere Bewohner ein Programm für Schule und Jobtraining. Integrationsbrückenangebote gibt es für jene, die das Sprachniveau A2 erreichen. Unter 14-Jährige werden in der Regel in Pflegefamilien untergebracht.

1440 Asylsuchende leben aktuell im Kanton Luzern, davon 127 minderjährige Asylsuchende. Ein Grossteil der Jugendlichen stammt aus Eritrea, Afghanistan, Äthiopien und Syrien. Herkunftsländer sind aber auch China oder Angola. Im Grosshof leben sie in Wohngruppen zusammen und werden durchgehend betreut. Sie gehen zur Schule, besuchen Programme für Schule und Jobtraining oder Brückenangebote. Einige sind in Kriens bereits in Sportvereinen aktiv.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von M. Moser
    M. Moser, 23.01.2018, 12:18 Uhr

    Wie weit kann und soll Mitsprache gehen? Es gibt sicher eine Hausordnung, diese bildet das Gerüst für den ordnungsgemässen Betrieb der Unterkunft. Diese Hausordnung ist erst einmal als verbindlich zu betrachten. Wo viele Menschen auf engem Raum zusammenleben müssen Vorschriften erlassen werden. Diese Vorschriften ermöglichen einen sicheren Betrieb. Das sind Vorschriften (Brandschutz etcetera pp) die vom Kanton so bestimmt wurden. Daran gibt es nichts zu rütteln. Auch was die Vorschriften im Rahmen der persönlichen Sicherheit betrifft sollte nicht unbedingt daran gerüttelt werden. Wo Mitsprache möglich ist ist bei der Tagesgestaltung, da öffnet sich ein breites Feld an Sachen die in Zusammenarbeit mit den Jugendlichen entwickelt werden können. Sobald aber irgendwelche sicherheitsrelevanten Vorschriften touchiert oder verändert werden sollten, da soll und muss der Kanton das letzte Wort haben.

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