«Exoten im Paradies» – Teil 3

Nach Luzern geflohen: Das Geheimnis der Familie Litten

Rainer Litten floh vor den Nazis nach Luzern. Das Bild zeigt ihn im Radiostudio in Basel. Er stirbt am 31. März 1972 in Zürich. (Bild: Privatarchiv)

Im dritten Teil unserer historischen Reportage über die nach Luzern geflüchtete Familie Litten entdeckt Tochter Patricia Litten, in welcher Beziehung ihr Onkel zu Adolf Hitler stand.

Ihre Eltern flohen vor den Nazis nach Luzern und haben in der hiesigen Theaterkultur Fuss gefasst. Aber die Familie Litten erlebte auch im vermeintlichen «Paradies» Fremdenhass, wie du im ersten Teil der Reihe «Exoten im Paradies» lesen kannst. Der zweite Teil beschäftigt sich dann mit den Töchtern Claudia und Patricia Litten, die Luzern hinter sich lassen, die Probleme aber mit sich nehmen.

Nun schreiben wir das Jahr 1962 und Claudia Litten verlässt die ihr vertraute Welt der Schweiz. Gemeinsam mit ihrem Vater steigt sie in den Zug. Aussteigen wird sie jedoch allein. Kurz vor Basel fragt Rainer Litten ein Ehepaar im selben Zugabteil, ob sie noch eine Weile auf seine Tochter acht geben könnten. Er müsse hier aussteigen.

«Sie geht zum ersten Mal allein von zu Hause weg.» Sie nicken, er steigt aus, sie bleibt sitzen. Bevor Rainer Litten geht, drückt er seine Tochter nochmals an sich. Er weint. Den Rücken gewölbt, die Schultern hochgezogen verlässt er den Wagon. «Papa war da schon schwer krank», wird sie später sagen. Ein Emphysem; der Atem bleibt ihm in der Lunge hängen. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Paris rückt näher.

Claudia Litten verbringt dreieinhalb Jahre in Frankreich, bevor es sie nach Spanien, England und Holland verschlägt. Insgesamt ist sie fast 10 Jahre unterwegs. «Ich war immer von der Boheme umgeben – überall!» Sie lernt baskische Maler, englische Hippies und holländische Schriftsteller kennen. Sie heiratet auch. Zweimal. Als es ihrem Vater aber immer schlechter geht, entscheidet sie sich 1972, in die Schweiz zurückzukehren. Als er stirbt, sind beide Töchter bei ihm.

Das Buch der Grossmutter Litten

Zwei Tage nach dem Tod von Rainer Litten steht ein Gemeindeangestellter in der Wohnung. Er soll die Besitztümer taxieren. Ihm ist die Situation sichtlich unangenehm. Er steht vor der trauernden Familie und entschuldigt sich. Während dieser «unsäglichen Begegnung», wie Patricia Litten sie rückblickend beschreiben wird, schweift ihr Blick über die Schulter des Mannes – vielleicht um seinem Blick zu entgehen – und bleibt im Büchergestell an einem Buchrücken hängen: «Eine Mutter kämpft gegen Hitler» von Irmgard Litten.

Irmgard Litten kämpfte nach der Festnahme von Hans Litten vehement für dessen Freilassung und setzte sich nach seinem Tod für die deutschen Kriegsgefangenen ein. Im Hintergrund eine Zeichnung von Hans Litten, angefertigt von einem Mithäftling. (Bild: Privatarchiv)

Es fällt ihr zum ersten Mal auf. Sie nähert sich und zieht es heraus. Ungläubig fragt sie: «Hat das die Grossmutter geschrieben?» Hannelore Litten wirkt erstaunt: «Ja, Kind, weisst du das gar nicht?» Ihre Tochter verneint, dann beginnt sie zu lesen. Vielleicht findet sie in diesem Buch endlich Antworten auf Fragen, für die es bis vor Kurzem schon zu spät gewesen zu sein schien.

Sie weiss kaum etwas über die Mutter ihres Vaters – wie auch: Irmgard Litten starb, bevor Patricia auf die Welt kam. Und Rainer Litten war nicht gerade dafür bekannt, über die Vergangenheit zu reden. Mit 17 Jahren eröffnet sich ihr erstmals die Gelegenheit, mehr über ihre deutsche Abstammung zu erfahren, die man ihr bisher lediglich durch Häme attestiert hatte.

Ein Dorn im Auge von Adolf Hitler

Sie liest über Hans Litten, ihren Onkel, der ein Anwalt für die Schwachen gewesen sei. Der es während des Edenpalast-Prozesses von 1931 gewagt hatte, Adolf Hitler in den Zeugenstand zu rufen und ihn dort mit unangenehmen Fragen zu seiner Parteipolitik blosszustellen. Sie liest, dass Hans Litten in der Nacht des Reichstagsbrands mit vielen weiteren politischen Gegnern der nationalsozialistischen Bewegung verschleppt wurde. Dass er verprügelt wurde, einen Judenstern an der Uniform tragen musste. Und auch, dass seine Mutter ihn während den wenigen gestatteten Besuchen nicht mehr umarmen durfte, weil er sonst noch schlimmer zugerichtet worden wäre.

Hans Litten, Bruder des in die Schweiz geflohenen Rainer Littensund vom Nazi-Regime verfolgter Anwalt. (Bild: Privatarchiv)

Sie liest, dass er im Konzentrationslager für seine Kameraden auswendig Gedichte rezitiert hatte, um wenigstens im Geiste frei zu bleiben. Sie liest, dass er schliesslich nicht mehr konnte, dass er sich erhängte und seine Kameraden ihm einen kleinen Sarg zimmerten.

Die Welt erfährt die Geschichte der Littens

Nachdem sie das Buch ihrer Grossmutter fertig gelesen hat, stellt sie es wieder in das Bücherregal zurück, an die Stelle, wo es jahrelang unentdeckt geruht hatte. Während sie das Erfahrene zu verarbeiten versucht, wird ihr etwas bewusst: Auf jede Frage, die ihre Grossmutter dank ihres Buchs post mortem beantworten konnte, sind unzählige neue aufgetaucht. Fragen, deren Last für eine Siebzehnjährige untragbar sind. Fragen, die sie in sich begraben wird, wie es wohl auch ihr Vater getan hatte. Aber die Erkenntnis, «dass das Schweigen so lange dauert, dass man es übernimmt und dass es sich erst nach einer Ewigkeit Bahn bricht», wird ihr Jahrzehnte später helfen, ihre Familiengeschichte zu erzählen.

2011 entstehen im Auftrag der BBC zwei Filme über Hans Litten. Sie erzählen die Geschichte des jungen Anwalts, der Adolf Hitler verhörte und daraufhin von den Faschisten zum Selbstmord getrieben wurde. Im Dokumentarfilm ist auch Patricia Litten zu sehen. Wenn sie über ihn spricht, spürt man eine ungewöhnliche Verbindung zum Protagonisten. Sie wird auch spürbar, wenn Patricia Litten vor Publikum aus dem Buch der Grossmutter vorliest.

Dass sie in den Zitaten ihrer Vorfahren den richtigen Ton trifft, erstaunt nicht. Schliesslich ist sie in die Fussstapfen ihres Vaters getreten und Schauspielerin geworden. Es ist nicht, was sie sagt; es ist, was sie nicht sagt: wenn sie zwischen den Worten ausharrt, wenn sie den Blick kurz über die Lesebrille hebt, wenn sie das Buch zuklappt, es im Schoss unter ihren Armen vergräbt. Eine andächtige, reflektierte Stimmung kommt auf, die kurzfristig zum Schweigen bringt, langfristig zum Sprechen animiert.

Wenn Claudia und Patricia Litten die Geschichte ihrer Grossmutter und ihres Onkels, ihrer Mutter und ihres Vaters erzählen, setzen sie unbewusst ein Exempel für die Auseinandersetzung mit der Geschichte. Nicht nur, um zu verhindern, dass sie in Vergessenheit gerät, sondern auch, um aus ihr Einsicht und Kraft zu gewinnen. In einer Kolumne schrieb die ehemalige First Lady Eleanor Roosevelt, nachdem sie Irmgard Littens Buch gelesen hatte: «Man ist stolz darauf, ein Mensch zu sein, weil es solche Menschen wie Hans Litten und seine Mutter gibt, die bis zum Ende das Vertrauen in diese Welt bewahrt haben.» Mit Sicherheit hat die Geschichte der Littens auch ihr damals Vertrauen geschenkt.

Dies ist der dritte und letzte Teil der dreiteiligen Serie «Exoten im Paradies» über das Leben der Familie Litten in der Schweiz.

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