Aufwühlende «Zell:stoff»-Premiere in Luzern

«Nach der Arbeit» – ein Mann macht seiner Familie ein Ende

Das Stück «Nach der Arbeit» von Dominik Busch erzählt von den letzten Momenten im Leben von Reto, der seinem Leben und dem seiner Familie ein Ende bereitet.

(Bild: Ingo Höhn)

Das Thema ist heftig, das Wetter ungastlich, der Spielort karg. Das Theaterstück über einen Mitnahmesuizid, welches die Luzerner Gruppe «Zell:stoff» diesen Mai aufführt, ist keines, das man sich zur erheiternden Unterhaltung anschaut. Doch man sollte es sich ansehen.

Der Theaterabend beginnt fröhlich. Wie kurz vor einer Schulreise steht das Premierenpublikum, aufgekratzt und wetterfest eingepackt, vor dem Luzerner Kleintheater bei der Bushaltestelle. Alle ausgerüstet mit Kopfhörern und einem Infozettel.

Wohin es geht, das wissen die meisten nicht. Klar ist nur, die freie Theatertruppe «Zell:stoff» zeigt ihre neueste Produktion «Nach der Arbeit» nicht auf der Bühne. Sie bleibt sich treu und bricht aus dem gewohnten Theaterrahmen aus.

Einsteigen

Um Punkt 20.30 Uhr hält ein VBL-Bus mit der Leuchtschrift «Zell:stoff» an der Haltestelle vor dem Kleintheater. Wir steigen aufgedreht in den Bus – und werden hier am späteren Abend wieder aussteigen, alles andere als lustig gestimmt. Es läuft Musik. Erst, als ein vermeintlicher Radiobeitrag beginnt, der laut durch den Bus tönt, wird klar, das Stück hat begonnen. Und die Geschichte, die uns erzählt wird, ist bereits passiert.

Wer und wann?

«Nach der Arbeit» wird noch fünf Mal in Luzern gezeigt: Am 17., 18., 23., 24. und 26. Mai 2018 jeweils um 20.30 Uhr.

Besetzung:

Künstlerische Leitung: Patric Gehrig
Autor: Dominik Busch
Regie: Sophie Stierle
Spiel: Patric Gehrig, Julia Schmidt, Jürg Plüss
Bühne & Kostüm: Saskya Germann
Video: Kevin Graber
Licht: Alessandro Paci
Produktionsassistenz: Madleina Cavelti
Produktionsleitung: Boss & Röhrenbach

Im «Radio» sprechen Gewalt-Experten, Politiker, Vereinskollegen und Nachbarn über die Tat eines 55-jährigen Familienvaters aus Ebikon, der sich, seiner Frau und seinen Kindern das Leben genommen hat. Ohne über die Umstände und die Tat mehr zu wissen, wird der Zuschauer gleich zu Beginn des Stücks mit den allzu bekannten Statements und Fragen konfrontiert, die auf solche Taten immer folgen. Er sei ein respektierter Kollege gewesen, niemand hätte das gedacht, angenehme Nachbarn, so die Aussagen des Umfelds.

Mit den Experten werden die Tat und das Thema analysiert. Der Mitnahmesuizid der gesamten Familie sei bislang fast ausnahmslos ein Männermonopol, wird erklärt. Politiker fordern Massnahmen und Experten ordnen ein. Sie sprechen von Hilflosigkeit, von Scham, von Druck, von Status und von der Rolle als Brötchenbringer. Es wird zu erklären versucht, weshalb Männer in unserer Gesellschaft glauben, nicht Scheitern zu dürfen.

Im Nirgendwo der Stadt

Wir landen etwas ausserhalb der Stadt. Der Ort: eine verlassene Bushaltestelle zwischen Lärmschutzwänden und Kies. Es ist kühl, im Hintergrund Leuchtreklamen und Züge, ein Unort, ein Dazwischen. Es beginnt leicht zu regnen. Das Wetter kann den Zuschauern auf der kleinen überdachten Tribüne nichts anhaben, und die Bilder, die Stimmung werden durch den Regen noch verstärkt. Der Bus fährt mehrfach im Schritttempo zwischen Schauspielern und Publikum hindurch. Ein Einfall, der zu Beginn noch etwas Schmunzeln auslöst.

Das Stück erzählt die letzten Tage von Reto, einem leitendenden Angestellten, verheiratet, Vater zweier Kinder. Er bringt es nicht fertig, seinen Freunden und seiner Frau die Nachricht seiner Kündigung mitzuteilen und verbringt die Nachmittage schlafend im Auto in einem Parkhaus. Bis er dem allem ein Ende bereitet.

Julia Schmidt, Jürg Plüss und Patric Gehrig als Reto (v.l.).

Julia Schmidt, Jürg Plüss und Patric Gehrig als Reto (v.l.).

(Bild: Ingo Höhn)

Die drei Schauspieler, Patric Gehrig, Jürg Plüss und Julia Schmidt, wechseln in jeder Szene die Rollen und das mehr als überzeugend. Mit wenigen Mitteln machen die Kostüme (Saskya Germann) dem Zuschauer klar, wer wann welche Figur verkörpert.

Es sind verschiedene Perspektiven, die im statischen und doch lebendigen Bühnenbild live und in Videoeinspielungen von Kevin Graber den Täter und seine Hoffnungslosigkeit zeigen. Kurz vor dem Suizid am Telefon mit seiner Schwester, beim Streit mit der Frau, im Gespräch mit dem Kollegen, mit dem Parkhaus-Sicherheitsdienst oder seiner Psychologin.

Das Stück ist eine Aneinanderreihung von Erinnerungen und Begegnungen. In den Szenen springen wir durch die Zeit, die Chronologie ist unwichtig. Denn das Publikum weiss, das Ende von Reto und seiner Familie ist bereits geschrieben. Das Stück will nicht erklären, es wertet nicht und es entschuldigt nicht. So ist es vor allem die Stimmung – die Hilf- und Hoffnungslosigkeit, die die Inszenierung von Sophie Stierle transportiert.

Bedrückend

Das Ende erwischt kalt: Der Bus fährt vor, öffnet die Türen und lädt zum Einsteigen ein. Das Publikum versucht sich in einem Applaus, doch die Schauspieler zeigen sich nicht mehr.

Auf der Rückfahrt geht die Radioberichterstattung über den Mitnahmesuizid des 55-jährigen Familienvaters aus Ebikon weiter. Der Regen ist stärker geworden und prasselt an die Fenster, während wir zurück zum Kleintheater gefahren werden. Zwei einzelne Passanten, die an der Strasse stehen, ein Obdachloser, der bei der Post seine Tüten sortiert – alle scheinen Teil dieses traurigen Stücks zu sein. Auf dem Screen im Bus die Meldungen des Tages – Realität und Theater verschwimmen. Das Publikum, vorher noch gesprächig, lässt sich nun wortlos, fast reglos, zurückfahren. Lediglich die Lieder «Freiheit» von Marius Müller‐Westernhagen und der Django-Soundtrack «Freedom», welche die traurige «Radio-Sondersendung» unterbrechen, hellen die Gesichter wieder etwas auf.

Zurück in der Wärme des Foyers, bei Käse und Wein, fällt die Betroffenheit langsam ab und beim Eintreffen der mittlerweile trockenen Schauspieler wird die Stimmung beinahe heiter. Aber auch nur beinahe. Denn «Nach der Arbeit» wühlt auf – ein Theaterabend, den man nicht verpassen sollte.

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