Luzernerin führt mehr Kriseninterventionen durch

Nach Corona: «Krisen kommen erst jetzt an die Oberfläche»

Manche Menschen fühlten sich während der Pandemie alleine. (Symbolbild: Adobe Stock)

Gleich zwei prominente Frauen brauchen eine Auszeit. Und auch im privaten Umfeld hört man von mehr Menschen, die zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie einen Zusammenbruch erleiden. Wir haben bei zwei Menschen nachgefragt, die sich beruflich mit Krisen auskennen.

«Ich komme an einen Punkt, an welchem ich noch nie war», verkündete Jolanda Spiess-Hegglin kürzlich über Twitter (zentralplus berichtete). «Ich muss eine Pause einlegen.»

Damit ist sie nicht die Einzige. Die Zürcher SP-Nationalrätin Jacqueline Badran legt eine Auszeit ein, die ihr Hausarzt dringendst verschrieben hat. Auch persönlich haben wir im Umfeld von Müttern, Jugendlichen und Berufstätigen gehört, die zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie einen Zusammenbruch erlitten haben.

Just jetzt, wo die meisten Corona-Massnahmen gestrichen wurden. Brechen jetzt die Dämme, weil man die letzten Monate irgendwie durchhalten wollte?

Luzernerin führt viele Kriseninterventionen durch

Claudia Winkler teilt diese Einschätzung. «Gerade jetzt, wo sich alles zu normalisieren scheint, kommen die grossen Belastungen und Krisen erst an die Oberfläche.»

Die Luzernerin berät und begleitet Menschen und Unternehmen in den Bereichen Eingliederungs- und Gesundheitsmanagement. Sie führt Kriseninterventionen, Kurzzeitberatungen und Integrationen durch.

«Viele Menschen habe in diesen zwei Jahren ihren Lebensraum Zuhause mit Arbeit gefüllt.»

Claudia Winkler

Warum kommen Krisen erst jetzt an die Oberfläche? Gerade in den Herbst- und Wintermonaten wurden die Massnahmen erneut verschärft und die Hoffnung auf etwas Normalität wurde erneut vernichtet. «Ein neuer Energieschub wurde gefordert und ein Ende nicht absehbar», so Winkler.

Es ist wie eine Gebirgswanderung

Anschaulich hat dies auch Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer gegenüber der deutschen Zeitung «Die Welt» erklärt. Auch er sagt, dass die Menschen erschöpft sind. Die Realität werde ausgeblendet, Nachrichten nicht mehr gelesen.

«Wir sind in einem Stadium, in dem alle eine mehrfache Enttäuschung erlebt haben. Die Hoffnung, dass es irgendwann besser wird, ja vorbei ist, hat sich schon einige Male zerschlagen.» Der Psychoanalytiker vergleicht die Situation mit einer Gebirgswanderung. «Wenn man in dem Moment, da man den Abstieg erwartet, noch eine Steigung und noch eine Steigung vorfindet. Irgendwann kann man dann einfach nicht mehr. Selbst wenn der Körper noch könnte, will der Kopf nicht mehr.»

Den Lebensraum mit Arbeit füllen

Auch das Homeoffice hat Spuren hinterlassen. «Viele Menschen habe in diesen zwei Jahren ihren Lebensraum Zuhause mit Arbeit gefüllt», sagt Winkler.

Den Lebensraum zu gestalten, beinhaltet jedoch viel mehr als das. Es geht auch darum, die ganz persönlichen und eigenen Bedürfnisse einzubeziehen. Dies sei für viele nicht mehr möglich gewesen. «Homeoffice ist also nicht nur einfach arbeiten von Zuhause aus am Küchentisch, im Kinderzimmer oder wo auch immer, sondern: Die gesamte Gestaltung des eigenen Lebensraumes.»

«Krisen sind schwierige, meist nicht überwindbare Lebenssituationen. Das Gleichgewicht geht verloren und alles erscheint nicht überwindbar oder zu bewältigen.»

Claudia Winkler

Viele Menschen stellten während der Pandemie ihre persönlichen Bedürfnisse zurück. Wir beschränkten unsere sozialen Kontakte, manche fühlten sich einsam. Wir verlagerten den Büro-Job in die eigenen vier Wände. So war es natürlich für Arbeitgeber schwerer, zu spüren, wie es den Angestellten im Homeoffice geht.

Und den Mitarbeiterinnen bot das die Gelegenheit, sich zu verstecken. «Momentan habe ich deswegen sehr viele Kriseninterventionen bei Arbeitnehmenden», bestätigt Winkler.

Claudia Winkler ist Mitinhaberin der Luzerner Agentur Hiestand & Winkler für Gesundheitsmanagement, Coaching und Standortbestimmung.

Eltern waren während Corona besonders gefordert

Menschen waren während der Pandemie besonders gefordert (zentralplus berichtete). Dies, weil in Zeiten von Homeoffice und Homeschooling das «Gesamtkonstrukt», wie es Winkler nennt, massiv umgekrempelt wurde.

«Krisen sind schwierige, meist nicht überwindbare Lebenssituationen. Das Gleichgewicht geht verloren und alles erscheint nicht überwindbar oder zu bewältigen», so Winkler. «In Krisen Strategien zu erarbeiten, ist sehr schwierig. Insbesondere, wenn mehrere Aspekte zu diesen Krisen beitragen.»

Verschiedenste Menschen durchleiden Krisen

Winkler begleitet querbeet Menschen mit psychischen oder physischen Herausforderungen – vom Familienvater bis zur jungen Studentin. Jemand hatte Mühe, weil durch das Homeoffice der Arbeitsweg fehlte und es schwerer war, Arbeit und Privates zu trennen. Auch die Beziehung litt darunter, verbrachte man nun gezwungenermassen 24 Stunden auf sehr engem Raum. Das Kartenhaus fiel zusammen.

In einem anderen Fall ging es darum, das Team eines Unternehmens aufzufangen, in dem es einen Suizid gegeben hat. Da ging es zu allererst einmal darum, dass die Teammitglieder eine Anlaufstelle haben, wo sie gehört werden.

Tagesablauf als Mittel gegen Krise

Wer in eine Krise fällt, braucht vor allem eines: Struktur. Und die kann einem auch eine andere Person geben. «In einer Krise sind wir nicht mehr handlungsfähig. Wir sehen keine Optionen mehr und können nicht mehr rational denken», so Winkler. «Da braucht es eine Person, welche für kurze Zeit die notwendigen Massnahmen einleitet, Struktur wiederherstellt und so Sicherheit vermittelt.»

Im Falle des Familienvaters telefonierte Winkler jeden Morgen und jeden Abend mit ihm. So besprachen sie auftauchende Ängste besprochen und definierten die Tagesstrukturen jeden Tag neu. Das gab Sicherheit.

«Die Pandemie hat an den Kräften vieler Frauen genagt, sie an ihre Grenzen gebracht – aber sie hat auch Energien freigesetzt.»

Petra Sewing-Mestre

Gemeinsam erstellten sie jeden Tag einen genauen Tagesplan. Darauf standen auch ganz banale Dinge wie Aufstehen, Frühstücken, Zeitungslesen und Duschen. Wann soll er essen, wann ist Zeit für einen Spaziergang?

Erst in einem nächsten Schritt werde dann wieder die Arbeit miteinbezogen. Das rät Claudia Winkler auch anderen Betroffenen, die am Ende ihrer Kräfte sind. «Für sich herausfinden, wie man sich selbst immer wieder auftanken kann. Dinge, die einem guttun, die Energie zurückgeben.» Das beginnt mit ganz kleinen Schritten.

Frauenakademie: Corona als Chance

Petra Sewing-Mestre sieht in Krisen immer eine Chance. Die Luzernerin steht Frauen zur Seite, wenn diese sich in einer akuten Krisenzeit befinden. Im Oktober 2020 hat sie die Frauenakademie in Luzern gegründet. In den Räumen der Frauenakademie stehen unter anderem Mentalexpertinnen und Laufbahnexpertinnen Frauen zur Seite. Es wird aber auch Yoga und Ayurveda praktiziert und es gibt weitere alternative Therapiemöglichkeiten. Mittlerweile bieten 26 Frauen ihre Angebote an.

Nach dem Lockdown suchten teilweise ganze Familien die Frauenakademie auf. Erst kamen die Mütter, die dann die Kinder schickten und schliesslich auch noch ihre Männer. «Sicher gibt es Menschen, bei denen erst jetzt die Dämme brechen», sagt Sewing-Mestre. «Ich glaube aber: Die belastendste Phase – in der mit Homeoffice, Homeschooling und erhöhter Kinderbetreuung alles zusammengekommen ist – ist schon länger vorbei.»

Mittlerweile würden die positiven Aspekte fast überwiegen. «Viele Frauen nutzen die Krise als Anhaltspunkt, um herauszufinden, was sie in ihrem Leben wirklich wollen und um sich umzuorientieren», so Sewing-Mestre. Sie begleitet derzeit gut sieben Frauen, die während der Pandemie ihren Job gekündigt haben und nun den Sprung in die Selbständigkeit wagen.

Sie hält darum fest: «Die Pandemie hat an den Kräften vieler Frauen genagt, sie an ihre Grenzen gebracht – aber sie hat auch Energien freigesetzt.»

Petra Sewing-Mestre ist Expertin für mentales Wachstumund Kommunikationstrainerin. (Bild: ida)

Luzerner Psychiatrie: Auslastung so hoch wie immer

Bei der Luzerner Psychiatrie ist die Tendenz, dass grosse Belastungen und Krisen erst zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie an die Oberfläche gelangen, im stationären Bereich bislang nicht spürbar. «Die Auslastung ist hoch wie mehr oder weniger immer», sagt Lienhard Maeck, Chefarzt Stationäre Dienste. «Die Eintrittsgründe haben mit dem pandemischen Geschehen eher am Rande zu tun, wenn überhaupt.»

Im stationären Akutbereich sei die Aufnahmefähigkeit jederzeit gewährleistet, im ambulanten Bereich betragen die Wartezeiten «mehrere Wochen». «Notfälle werden aber klar priorisiert.»

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Claudia Winkler
  • Telefonat mit Petra Sewing-Mestre
  • Schriftlicher Austausch mit der Kommunikationsstelle der Luzerner Psychiatrie
  • Artikel in «Die Welt»
Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


0 Kommentare
    Apple Store IconGoogle Play Store Icon