Neue Zuger Plattform für brisante Geschichten

Na hören Sie mal!

Will, dass die Zuger Geschichten nicht verloren gehen. Und hat deshalb angefangen, sie zu sammeln. (Bild: fam)

Was passiert, wenn man sich eine Zuger Persönlichkeit schnappt und die Kamera einschaltet? Dann bleibt man sechs Stunden sitzen. Drei Zuger wollen mit einer neuen Plattform Zuger Geschichten einfangen und aufbewahren. Am Donnerstag ist das Ganze losgegangen. Wie funktioniert sowas – und wer hört so lange zu?

Wann haben Sie das letzte Mal jemandem so richtig lange beim Erzählen zugehört? Ewig her? Dann geht’s Ihnen wie den meisten Menschen. Eine Konversation mit wildfremden Leuten im Zug bahnt sich an? Schnell das Natel gezückt und einige Mails beantwortet. Oder so tun als schlafe man. Jemand will aus seinem Leben erzählen? Das könnte dauern, also gleich mittels Körpersprache klarmachen: Ich muss los. Entfernte Verwandte im Einkaufszentrum getroffen? Nichts wie raus hier. Wir flüchten vor Konversation, bei der wir zuhören sollen. Weil: Nichts ist schlimmer als aus einem Gespräch nicht mehr rauszukommen. 

Aber nicht für ihn. Der junge Zuger Kunstschaffende Remo Hegglin hat das Gegenteil vor. Er hat zusammen mit dem Zuger Journalisten Beat Holdener und dem Video-Editor Max Pfeffer eine Plattform geschaffen. Für Zuger Geschichten. Drei Jahre hat das gedauert. Jetzt ist sie online: wiiterverzelle.ch, heisst das Ding, darauf sind schon die ersten drei Videos veröffentlicht. «Wir sind kurz Gefahr gelaufen, dass das Projekt versandet», sagt Hegglin, «aber jetzt haben wir einen enormen Schub entwickelt.» Jeden Monat soll nun ein neues Video dazukommen. Ob das Tausende von Klicks generieren wird? Egal. «Es ist für die interessant, die sich hinsetzen und zuhören wollen. Wir müssen uns zum Glück nicht rechtfertigen und haben keinen wirtschaftlichen Druck – wir sind ein Verein.»

Sperrig? Jep. Warum macht er das?

Und das geht zum Beispiel so: Walter Friedrich Haettenschweiler sitzt in seinem Arbeitszimmer, hat 80 Jahre Erfahrung auf dem Buckel, eine eigene Schrift erfunden und erzählt was. Eine Stunde lang. Ein Dokumentarfilm ohne Dokumentation. Sperrig? Jep. Warum macht Hegglin das? «Man muss sich mal klarmachen, wie sich Zug verändert hat», sagt Remo Hegglin. Wir sitzen im ersten Stock im Café Speck, zwischen Rohstoffhändlern, Lachs–Canapés und älteren Damen. «Früher haben sich hier noch alle gekannt, nur schon vor ein paar Jahren», sagt Hegglin, jetzt ist Anonymität angesagt. Dabei geistern die Geschichten noch herum, wenn man gut genug zuhört.

Zum Zuhören braucht’s Leute, die erzählen können. Haettenschweiler gehört dazu.

Hegglin und Holdener tun genau das. Gret Jorio etwa erzählt davon, wie sie mit ihrem Mann nach Zug gekommen ist, wie sie mit drei weiteren Lokführern im Haus gewohnt haben. Reto Nussbaumer erzählt, wie sich die Zuger Altstadt verändert hat, was alles dazugekommen ist, was verschwunden. Wieso interessiert das? Weil es echt ist – und dahinter viel Leben steckt. «Manchmal sind wir sechs, sieben Stunden bei den Leuten, bis der Film gedreht ist. Ich kann stundenlang zuhören, und dieses Sich-Zeit-Nehmen und die Entschleunigung gefallen mir», sagt Hegglin. «Das sind wichtige Dinge, die diese Menschen erzählen. Auch wenn deren Kinder sagen: Das haben wir schon hundertmal gehört. Für die Gesellschaft sind solche Dinge wichtig, damit sie nicht vergessen gehen.»

«Das Stichwort ist ‹Oral History›.»

Remo Hegglin

Es sind Identifikationspunkte, die Hegglin da zusammenträgt. Möglichkeiten, sich an echten Erlebnissen festzuhalten, ein Realitätscheck für eine vereinsamte Gesellschaft. Und es sind Dinge, die schnell verloren gehen, wenn die Menschen verschwinden. Dafür müssen es allerdings interessante Menschen sein: «Wir treffen eine Auswahl», sagt Hegglin und lacht. Und es gibt sogar einen Beirat, der die Interessantheit von möglichen Gesprächspartnern abklärt.

«Ich will schon zeigen, dass man etwas lernen kann»

«wiiter verzelle» will ein Archiv sein für gute Geschichten. «Das Stichwort ist Oral History», sagt Hegglin, «ursprünglich wollten wir nur Tonaufnahmen machen, aber es war nur noch ein kleiner Schritt zum Video.» Die Videos werden zwar geschnitten und aufbereitet, so dass sie nicht allzu lang sind – rund zwanzig Minuten. Das ist allerdings schon unendlich lange bei einer Youtube-konditionierten durchschnittlichen Aufmerksamkeitsspanne von zwei Minuten. Zudem gibt’s keine Hilfe von Hegglin, keine Regieanweisungen, Einführungen, Erklärungen. Wenn man «wiiterverzelle.ch» anschaltet und sich das erste Video zu Gemüte führt, dann stürzt man sich mitten in eine Situation. Jemand spricht, man hört zu.

«Eigentlich ist es absurd, so eine Gesprächssituation herstellen zu wollen», sagt Hegglin, «aber man muss die Leute ja da abholen, wo sie sind: vor dem Bildschirm.» Und wenn sie erst gelernt hätten, dass man interessante Dinge erfährt beim Zuhören, dann sprechen sie vielleicht wieder miteinander. Das ist Hegglins mit etwas Modernitätsschmerz versetzte Hoffnung. Will er da jemanden erziehen? «Nein, ich hoffe nicht. Aber ich will schon zeigen, dass man etwas lernen kann, wenn man jemandem zuhört. Es geht darum, dass Informationen weitergegeben werden.»

Erste Rückmeldungen? Noch keine

«wiiter verzelle» ist bisher ehrenamtliche Arbeit, Hegglin hofft, dass die Plattform Schule macht. «Was ich mir wünsche, ist, dass auch andere Leute mitmachen und eigene Videos einschicken. Gerade für Schulklassen könnte das eine gute Möglichkeit sein, im Medienunterricht ein vielschichtiges Projekt anzugehen: Sie schnappen sich eine Kamera und suchen sich eine interessante Person. Das kann ein Grossvater sein. Muss aber nicht.»

Die Seite ist seit dem Donnerstagmittag live, jetzt geht’s los mit den Geschichten. Ob das Ganze auch ankommt, weiss Hegglin noch nicht. Erste Rückmeldungen? «Noch keine», sagt Hegglin und lacht, «und es wäre auch zu früh. Wenn die Leute jetzt schon schreiben würden, coole Seite, dann wüsste ich: Sie haben die nicht ganz kurzen Videos nicht geschaut.»

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