Luzerner Psychiatrien schlagen Alarm

Massiv mehr Junge leiden seit Corona an Essstörungen

In der Luzerner Psychiatrie (Lups) nimmt seit Anfang dieses Jahres die Zahl an Jugendlichen zu. (Bild: Symbolbild: Adobe Stock)

Seit Ausbruch der Corona-Pandemie verzeichnen Kliniken schweizweit massiv mehr Patientinnen mit Essstörungen. So auch die Luzerner Psychiatrie. Sie behandelt in diesem Jahr rund 40 Prozent mehr Jugendliche, die an Magersucht leiden. Was sind die Gründe? zentralplus hat nachgefragt.

Kalorienzählen. Bewegungsdrang, bis zu sechs Stunden täglich spazieren. Die Gedanken kreisen nur darum. So erging es der Luzernerin Larissa. Innerhalb von sechs Monaten hat sie im vergangenen Jahr fast zwölf Kilogramm Gewicht verloren. 2013 rutschte sie erstmals in die Magersucht ab, musste damals sogar zwangsernährt werden. Jahrelang hatte sie die Krankheit im Griff. Bis Corona kam und die Modeverkäuferin in Kurzarbeit musste und ihr Alltag auf den Kopf gestellt wurde. Sie wurde rückfällig.

«Ich hatte dann gar nicht so Angst von der Krankheit selbst, sondern mich mehr gefragt: Wann habe ich mein Leben wieder? Das war so diese Angst, die mich zurück in die Anorexie gebracht hat, um Halt zu haben», erzählte sie in einem Beitrag von «SRF Forward».

Mit ihrer Essstörung ist Larissa nicht alleine. Die Corona-Pandemie schlägt gerade Jugendlichen auf die Psyche. Vermehrt müssen auch junge Menschen mit Essstörungen behandelt werden.

In der Luzerner Psychiatrie (Lups) nimmt seit Anfang dieses Jahres die Zahl an Jugendlichen zu. Aktuell werden stationär fünf bis sieben Patienten und ambulant etwa zwischen 30 und 40 Patientinnen mit Essstörungen behandelt. Das sagt Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensts der Luzerner Psychiatrie, auf Anfrage von zentralplus. «Das ist eine Steigerung von rund 40 Prozent.» 

Magersucht und Binge Eating

Junge Menschen brauchen Hilfe, weil sie an Anorexie – also Magersucht – leiden. Seltener auch Binge Eating – also wiederkehrende Essanfälle – oder Heisshungerattacken.

Hier findest du Hilfe

Wenn du vermutest, dass du oder ein Mensch in deinem Umfeld an einer Essstörung leidet, findest du hier Hilfe:

Der soziale Lockdown traf insbesondere die Jungen hart. In vielen Luzerner Jugend- und Familienberatungen stiegen die Anzahl der Beratungen massiv an. Soziale Kontakte waren auf ein Minimum beschränkt. Jugendliche suchten unter anderem Hilfe, weil sie sich einsam oder unverstanden fühlten (zentralplus berichtete). Depressive Verstimmungen und Ängste haben sich zugespitzt. Und eben auch Essstörungen.

Bilke-Hentsch schreibt, dass gerade bei Mädchen, die schon vor Corona belastet waren, ablenkende und ausgleichende Angebote fehlten. «Und eine ungesteuerte Social-Media-Nutzung verstärkt die negativen Vergleichsspiralen.»

Schweizweit nehmen Essstörungen zu

Schweizweit gibt es seit Corona mehr Menschen, die wegen einer Essstörung Unterstützung brauchen. Laut der Gesellschaft für Essstörungen nehmen Kliniken schweizweit seit dem ersten Lockdown 2020 einen starken Anstieg wahr – zum Teil von mehr als einem Drittel, berichtete SRF. Für Menschen, die Hilfe benötigen, kann das gefährlich werden. Gerade, weil viele – auch Magersuchtbetroffene – sich erst sehr spät melden, wenn sie schon stark untergewichtig sind. Schnelles Handeln wäre wichtig: Magersucht zählt zu den psychischen Krankheiten mit der höchsten Sterberate. Wie es im Medienbericht heisst, war aber beispielsweise die Warteliste mit Betroffenen im Kanton Bern so lang, dass teilweise auch lebensbedrohliche Fälle abgewiesen werden mussten. Einige Kliniken haben reagiert und bauen ihre Kapazitäten nun aus.

«Die Betten der Lups sind im Durchschnitt zu 98 Prozent ausgelastet, teilzeitlich liegt die Bettenauslastung über 100 Prozent …»

Die Luzerner Regierung im Planungsbericht Psychiatrie

Ein unterschiedliches Bild zeigt sich beim Psychiatrieverbund Triaplus, welche die psychiatrische Versorgung in Zug, Schwyz und Uri sicherstellt. Konkrete Zahlen können sie keine nennen. Nur so viel: Im ambulanten Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie beobachten sie «eine gewisse Zunahme» von Anmeldungen wegen Essstörungen. Im ambulanten Erwachsenenbereich gebe es teilweise eine leichte Zunahme von Essstörungen und «gehäuft verändertes Essverhalten».

So will die Luzerner Regierung den Notstand in der Psychiatrie bekämpfen

Bei der Triaplus habe man noch keine Patienten abweisen müssen, weil man keinen Platz mehr hatte. In Luzern sind die Behandlungsplätze jedenfalls rar. Laut Bilke-Hentsch von der Luzerner Psychiatrie besteht «immer eine gewisse Wartezeit».

Genaueres zeigt ein Blick in den Planungsbericht Psychiatrie des Kantons Luzern, der seit diesem September vorliegt und der kein gutes Bild abgibt von der jetzigen Situation. Denn die Auslastung der psychiatrischen Behandlungsangebote im Kanton ist hoch. «Die Betten der Lups sind im Durchschnitt zu 98 Prozent ausgelastet, teilzeitlich liegt die Bettenauslastung über 100 Prozent, was sowohl für die Patientinnen und Patienten wie auch für die Mitarbeitenden der Lups zu grossen Herausforderungen führt», schreibt die Regierung darin.

«Damals habe ich nicht gesehen, dass ich so dünn bin.»

Larissa

Auch die Wartezeiten der 92 Lups-Ambulatorien sind seit Jahren sehr lang. Zudem gibt es nur sehr wenige niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater, insbesondere auf dem Land. Auch das führt zu langen Wartezeiten. Laut dem Planungsbericht warten rund 300 Kinder und Jugendliche meist mehrere Wochen bis Monate auf eine Behandlung bei einer Fachperson der Lups, sofern es sich um keinen Notfall handelt.

Die Regierung geht davon aus, dass der Bedarf an psychiatrischen Leistungen in den nächsten Jahren weiter zunehmen wird. Sie plant, die Sprechstunden bei Kinder- und Jugendpsychiatrien auszubauen. Dafür sollen 17 zusätzliche Vollzeitfachstellen geschaffen werden. Zusätzlich sollen 32 Vollzeitstellen geschaffen werden (21 in der Erwachsenen- und Alterspsychiatrie sowie 11 in der Kinder- und Jugendpsychiatrie), um die Wartezeiten in den Ambulatorien abzubauen. Zudem will der Kanton ein Kriseninterventionszentrum aufbauen, in dem Personen in einer akuten Krisensituation zeitnah Hilfe bekommen. Alle diese Massnahmen sollen ab nächstem Jahr Realität werden. Der Kantonsrat wird im Dezember über den Planungsbericht befinden.

Wieder gesund werden

Zurück zu Larissa. Im SRF-Videobericht von zeigt sie ein Bild von sich. September 2020, ihr Gesicht sieht eingefallen aus. «Damals habe ich nicht gesehen, dass ich so dünn bin. Es schockt mich selber, wenn ich das nun sehe. Das bin nicht ich.»

Auf einen Therapieplatz wartete sie zum Zeitpunkt der Ausstrahlung Ende Juni noch. Aus der Krise fand sie heraus, weil sie ihr eigenes Verhalten reflektiert hat. Weil sie realisiert hat, dass vieles wieder zu einem Zwang wurde: das Kalorienzählen, der Bewegungsdrang, ein Schrittzähler, der sie triggerte, jeden Tag noch mehr Schritte zu machen. «Ich habe selber gemerkt: Ich will wieder mein Leben zurück. Ich will einfach gesund sein – gesund werden.»

Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


4 Kommentare
  • Profilfoto von hegard
    hegard, 14.10.2021, 13:33 Uhr

    Wie lange braucht’s noch um zu erkennen,das man die jungen beiden Geschlechts,in der Schule zum modernen gesunden und natürlichen kochen schult.Denn wenn sie gelernt haben sich einfach und gesund zu ernähren,wird es auch weniger übergewichtige geben und fressataken kommen von falschen Ernährung .Frusstessen
    könnte auch in der Schule psichioligisch trainiert werden.

    👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
    • Profilfoto von Peter Bitterli
      Peter Bitterli, 14.10.2021, 14:35 Uhr

      Stimmt! Müsste aber in verständlichem Deutsch vermittelt werden.

      👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
  • Profilfoto von Roli Greter
    Roli Greter, 14.10.2021, 07:17 Uhr

    Der Titel sollte «Massiv mehr Junge leiden seit Corona-Massnahmen» an Essstörungen.

    Das Thema ist wichtig, danke fürs Aufgreifen des Videos. Nun wäre eine vertiefte Auseinandersetzung damit angesagt; sprecht mit den Betroffenen über die Gründe. Investigate!

    👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
    • Profilfoto von Thomas Aeberhard
      Thomas Aeberhard, 14.10.2021, 08:18 Uhr

      Warum bewerben Sie sich nicht als Chefredaktor oder gründen gleich eine eigene Zeitung, wenn Sie alles besser können? Die Welt braucht SIe!

      👍1Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎2Daumen runter
Apple Store IconGoogle Play Store Icon