Martha Argerich spielte im KKL Ravel

Luzerner Symphoniker: Mit einem Schrecken in den Saisonauftakt

Mit der «Grande Dame» des Pianos, Martha Argerich, startete das LSO in die neue Saison 2016/17. (zvg. LSO)

Beschwingt startete das Luzerner Sinfonieorchester am Mittwoch in seine 211. Saison. Nach Ausflügen auf den Pilatus und in die Viscosistadt wurde nun endlich wieder der Konzertsaal des KKL zum Klingen gebracht. Vor dem Konzert macht es der Intendant im ausverkauften Haus noch spannend.

Wenn der Intendant vor Konzertbeginn auf die Bühne tritt und ankündigt, der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein, heisst das: Solist oder Dirigent sind erkrankt. Und wer die Arbeitsmoral der Musiker kennt, weiss, dass es dann ernst ist. Nach Numa Bischoff Ulmanns erstem Satz ist die Enttäuschung im Saal greifbar. Dann löst er auf: Grande Dame Argerich ist wohlauf. Die kantonalen Finanzen dagegen nicht, was durch die Sparmassnahmen auch das Orchester treffe. Ab Samstag beginnt eine Kampagne, mit der man sich die Unterstützung der Luzerner sichern will. Die Hauptnachricht, die beim Publikum ankommt, ist eher kathartisch: «Argerich spielt. Fürs Erste alles gut.»

Aber zu den schönen Dingen des Abends, nämlich der Musik: Formal betrachtet sieht alles nach einem ganz gewöhnlichen Konzertabend aus. Wie üblich bietet das Programm ein grosses Orchesterwerk, ein Solokonzert und, gleich zum Auftakt, eine moderne Komposition. Aber James Gaffigan und sein LSO zeigen sich musikalisch experimentierfreudig und so soll aus einem soliden Grundprogramm ein spannender Konzertabend werden. Denn jedes Stück allein sprengt die Kategorien, in die man es einzuordnen versucht.

Groove im KKL

Gleich zu Anfang ertönen zwei schrille Trompetentöne und der zackige Beat der Bass-Drum. So beginnt Leonard Bernsteins Prelude, Fugue and Riffs. Die Komposition des Amerikaners oszilliert zwischen Klassik und Jazz. Die von den Blechbläsern vorgetragenen Préludes und von den Holzbläsern intonierten Fugen gehören formal zum Barock, Riffs finden sich in der Jazz- und Rockmusik. Wie auch beispielsweise die Rhapsody in Blue von George Gershwin, entstand das zehnminütige Konzertstück als Auftragskomposition einer Jazzband. Entsprechend bot das LSO seine Blechbläser und Schlagwerker, verstärkt um Gastmusiker, auf.

Die unzähligen Taktwechsel und zum Finale hin atemberaubenden Geschwindigkeiten machen es weder dem Orchester noch Bernsteins Landsmann Gaffigan am Dirigentenpult leicht. Wunderbar laufen die Fugen durch alle Instrumente, selbst das Schlagzeug zeigt seine Interpretation der Melodie. Das Highlight sind die Riffs, denn hier gesellt sich eine Klarinette als Soloinstrument erst zum Klavier, dann zum Tutti. Sie scheint über das Motiv zu improvisieren, tatsächlich sind die swingenden, schnellen Läufe alle von Bernstein so notiert. Der Solo-Klarinettist des Orchesters, Stojan Krkuleski, nimmt sich mutig und mit Gefühl der Herausforderung an und spielt sich mit dem Klavier gegenseitig die Phrasen zu. Das Finale groovt, bis dann die Klarinette plötzlich allein auf der Fermate aushält, die das Tutti mit einem grossen Schlag zum Schweigen bringt.

Ruhepol und Exzellenz

Die Bühne war also bereitet für den Auftritt eines Stars und Lieblings der Schweizer Musikszene, die Luzern erst jüngst zum Festival beehrte: Martha Argerich, Dreh- und Angelpunkt des Tessiner Progettos, das ihren Namen trägt, nahm sich Ravels zweiten Klavierkonzerts an. Ravels Sonaten und sein grosses G-Dur-Klavierkonzert gehören zum Kernrepertoire der Pianistin, schon in den 50er-Jahren spielte sie das Stück ein. Vielleicht kommt es auch aus dieser langen Erfahrung, dass sie wie ein Ruhepol den engagierten Musikern gegenüber wirkt. Keiner der beiden Ecksätze bringt sie aus dieser Ruhe und trotzdem ist ihr Spiel nicht ohne Emotion.

Ganz aus sich herausgehen muss der Solist bei diesem Werk auch nicht – die Heiterkeit ist auch im langsamen zweiten Satz nicht fort. So ist es genau richtig, dass Argerich hier einfühlsam, aber ohne falsches Schwelgen in die feinen Zwiegespräche mit den Holzbläsern geht. Wo jene dann die Führung übernehmen, steht der Pianistin kein bisschen Stolz im Weg – sie fügt sich in die Begleitung. Der dritte Satz fordert viel vom Orchester, auch viele Details, die kaum hörbar zum Gelingen beitragen, aber viel Kraft brauchen. So ist es zwar für das Musikverständnis löblich, dass Argerich als Zugabe diesen Satz wiederholt, für das Orchester aber merklich ein Kraftakt.

In grosser Formation

Dabei steht das längste Musikstück des Abends noch bevor: Bela Bartóks Konzert für Orchester. Es schreibt eine grosse Besetzung vor, inklusive zweier Harfen, viel Blech inklusive Tuba, volle Holzbläser mit Kontrafagott, Englischhorn, Es-Klarinette und Piccolo und ca. 40 Streicher. Die Besetzung also hochromantisch, die Ideale Sinfonie und Konzert aber zum Kompositionszeitpunkt schon im Niedergang. Das spiegelt sich auch im Titel. Keine Sinfonie, sondern ein Konzert nennt Bartók sein Werk und erklärt: «Der Titel rührt daher, dass im Laufe dieses in der Art einer Symphonie geschriebenen Orchesterwerks die einzelnen Instrumente und Instrumentalgruppen konzertierend oder solistisch auftreten.» Das tun sie dann auch, im ersten Satz vor allem die Bläser.

Das Sinfonieideal verlässt auch der eingeschobene vierte Satz, der das Finale auf den fünften Satz verschiebt. Er zitiert ein Thema Schostakowitschs, für das Bartók nichts übrig hatte und dessen Erfolg er dem Kollegen nicht gönnte. Die spöttischen Holzbläser und unzweideutigen Kommentare der Posaunen weisen es ab, die Modulation in andere Tonarten führt es ad absurdum. Eine kleine Ironie, dass Schostakowitsch sich in seiner 9. Sinfonie später einmal auch einen eingeschobenen vierten Satz schreibt, dessen Absurdität allerdings unter den Bedingungen der Sowjetunion ungleich existenzialistischer sein wird. Das Finale, presto, beschliesst einen ertragreichen Konzertabend.

So ein Programm schafft es, dass man den Saal mit mehr Fragen als Antworten verlässt.

Wer wie an diesem Abend ein frisches, tatkräftiges Orchester und dazu eine Solistin von Weltformat aufbietet, kann leicht dazu verleitet werden, damit zufrieden zu sein und ein Programm zu machen, das sich verkauft. Eine Prise Beethoven, vielleicht Tschaikowskis erstes Klavierkonzert, als modern geht dann schon mal ein Komponist der Romantik durch. Dagegen setzte das LSO auf ein eigenwilligeres Programm. Es soll hier nicht zur musikalischen Offenbarung stilisiert werden, denn die Komponisten sind schon eher kanonisch. Trotzdem ist es wichtig, dass das Programm auch Fragen aufwirft und in eine musikalisch – von der Politik gar nicht erst zu reden – schwierige Zeit vorstösst.

Zwischen den Zeiten und zwischen den Stilen

Die Werke des Abends entstanden 1929 (Ravel), 1943 (Bartók) und 1949 (Bernstein). Die sinfonische Tradition und im Grunde alle «klassische Musik» ist gespalten in radikale Zwölftöner, Neoklassizisten, Volksweisen-Spezialisten und Jazzer. Die Mobilität der Musik und Musiker steigt bis über den Atlantik. Ravel zecht in Pariser Kneipen mit Copland und Gershwin. Gespielt wird Jazz, also amerikanischer Import, der in Europa neue Einflüsse aus dem Chanson und der Klassik aufnimmt. Und dann durchbricht der Zweite Weltkrieg die Internationalität für einige Jahre. Es sind Zwischenzeiten und Zwischenstile. Alle Stücke setzen sich auf die eine oder andere Art damit auseinander – müssen sie ja. So ein Programm schafft es, dass man den Saal mit mehr Fragen als Antworten verlässt.

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