Erhöhter Alkoholkonsum während des Lockdown

Luzerner Suchtexperte: «Ich kenne viele, welche die Krise als Chance nutzen»

Greifen jetzt zu Zeiten von Lockdown und Homeoffice einige schon mittags zum Feierabendbier? (Bild: Symbolbild: Julianna Arjes/Unsplash)

Sozialarbeiter Ruedi Studer begleitet Menschen mit problematischem Alkohol- und Medikamentengebrauch. Er sagt, dass die Corona-Krise zwar Süchte verstärken kann – viele aber die Chance nutzen, um ihr Konsumverhalten zu überdenken.

Wochenende auf Balkonien, das Feierabendbier per Videocall mit den Freunden – doch was, wenn der Lockdown und die Isolation dazu führen, dass vermehrt zur Flasche Chardonnay oder zum Bier gegriffen wird, sich nun gar Süchte entwickeln?

Antworten darauf hat Ruedi Studer. Er ist Sozialarbeiter und Geschäftsführer von «Klick», wo unter anderem Menschen mit problematischem Konsum respektive Abhängigkeit von Alkohol und Medikamenten beraten werden.

zentralplus: Ruedi Studer, ich nehme an, bei Ihnen laufen die Drähte heiss.

Ruedi Studer: Nein, ganz im Gegenteil. Neuanmeldungen haben wir deutlich weniger als noch vor der Corona-Krise. Erstaunt Sie das? Er lacht.

zentralplus: Ja. Ein Gang zur Altglas-Sammelstelle verstärkt gerade den Eindruck, dass man zu Zeiten von Homeoffice und Lockdown vermehrt zu Hause zur Flasche greift.

Studer: Dass wir deutlich weniger Neuanmeldungen haben als vor der Krise, kann ganz einfach erklärt werden: Zum einen werden uns viele Klienten durch ihre Ärztin oder von bestimmten Institutionen zugewiesen. In den letzten Wochen fanden aber weniger oder gar keine Kontakte mehr zu Patientinnen oder Klienten statt. Ausserdem mussten sich alle mit anderen Fragen des Alltags beschäftigen. Zum anderen dauert es seine Zeit, bis jemand eine Sucht entwickelt.

zentralplus: Dann sind es oft Angehörige, die sich bei ihnen melden, weil sie sich um jemanden sorgen?

Studer: Es sind primär Ärzte, die Blutwerte analysieren und sehen, dass die Leberwerte einer Patientin erhöht sind. Arbeitgeber, Personalverantwortliche, die merken, dass ein Angestellter oft übernächtigt zur Arbeit erscheint. Und es gibt regelmässig Angehörige und Bezugspersonen. Beispielsweise hat uns eine besorgte Frau angerufen, weil ihr Mann mehr trinkt oder der Sohn kaum noch vom Gamen am PC wegzukriegen ist.

zentralplus: Wann melden sich Betroffene selbst bei Ihnen?

Studer: Es braucht einen grossen Leidensdruck, bis sich jemand von sich aus bei uns meldet. Meistens sind es bestimmte Ereignisse, die jemanden aufrütteln. Zum Beispiel, wenn jemand betrunken in seiner Wohnung gestürzt ist oder Auto gefahren ist und das im Nachhinein Angst macht. Oder wenn man unerwartet von jemandem wegen seines Verhaltens oder Auffälligkeiten angesprochen wird.

Über Klick und Ruedi Studer

Ruedi Studer ist Sozialarbeiter und Geschäftsführer von Klick, der Fachstelle Sucht Region Luzern. Er und sein Team begleiten Menschen, die Anliegen und Fragen zu legalem Konsum- und Suchtverhalten haben: Alkohol, digitale Medien, Glücksspiel, Gamen, Internet-Pornografie, Medikamente, Tabak und Kaufen.

zentralplus: Rechnen Sie denn nicht damit, dass sich während Lockdown und Krise Süchte entwickeln können?

Studer: Bis sich das Alkohol-Trinken, das Gamen oder Fernsehschauen als tatsächliches Problem manifestiert, kann es Monate wenn nicht sogar Jahre dauern. Deshalb rechne ich frühestens in ein paar Wochen bis Monaten mit einer Zunahme von Anfragen bei uns. Es zeigt sich erst im Nachhinein, wenn Personen mit wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise zu kämpfen haben, mit Arbeitslosigkeit, finanziellen Problemen. Oder der Angst, den Anschluss nicht mehr zu finden. Das alles sind Situationen, die vermehrt Suchtverhalten auslösen oder verstärken können.

zentralplus: Weshalb ist die Corona-Krise eine gefährliche Zeit für Menschen, die anfällig auf ein Suchtverhalten sind?

Studer: Die Alltagsstruktur gerät durcheinander. Das Zuhause-Bleiben, die Einsamkeit oder auf engem Raum in der Familie zu sein, Existenzängste, die dauernde mediale Beschäftigung mit Corona-Problemen und -Prognosen, Langeweile. Oder das Umgekehrte: Hoher Arbeitsstress in bestimmten Berufszweigen, die aktuell stark gefordert sind, macht Mühe. Menschen könnten auf die Idee kommen, ihren Gefühlshaushalt mit Alkohol oder anderem Konsumverhalten zu regulieren.

zentralplus: Ist das nur vorübergehend so oder werden diese Verhaltensmuster nach dem endgültigen Schritt zur Normalität beibehalten?

Studer: Ich gehe davon aus, dass sich das bei den meisten Betroffenen wieder auf ein Normalmass einpendelt, sobald sie wieder in ihren üblichen Alltagsrhythmus gelangen.

«Sechs Wochen Corona-Krise allein reichen nicht aus, damit jemand zum Alkoholabhängigen wird.»

zentralplus: Ist das nicht Wunschdenken?

Studer: Es gibt Studien, die beweisen: Personen mit einem zeitweise riskanten Konsumverhalten sind durchaus in der Lage, ihren Konsum selbst zu regulieren und auf ein sozial erträgliches Mass zu bringen. Es ist nicht hochriskant, wenn jemand vor der Corona-Krise ein normales Konsumverhalten hatte und jetzt seit einem Monat etwas mehr Alkohol trinkt. Wenn das aber andauert, kann es heikel werden. Schwieriger könnte es für Personen sein, die vorher schon ein latent kritisches Konsumverhalten hatten oder die nun in prekäre Verhältnisse geraten. Aber sechs Wochen Corona-Krise allein reichen nicht aus, damit jemand zum Alkoholabhängigen wird.

zentralplus: Merken einige erst jetzt, dass sie ein problematisches Verhältnis haben, weil sie das Feierabendbier bereits mittags öffnen?

Studer: Ich kann mir das gut vorstellen. Die soziale Kontrolle, der Alltag und die Struktur fehlen. Wer im Homeoffice arbeitet, bei dem fliesst Privates und Geschäftliches ineinander. Man muss nicht mehr morgens ins Büro und beim Chef einen guten Eindruck hinterlassen. Im Homeoffice kann man verkatert und im Pyjama arbeiten, ohne dass es jemand merkt. Oder man verweilt auf Pornoseiten, weil die Chefin oder die Arbeitskollegen einem nicht auf den Bildschirm schauen können.

«Wir sind keine Abstinenzler, nur weil wir andere bei ihrem Konsum- und Suchtverhalten begleiten und beraten.»

zentralplus: Haben Sie sich selbst auch schon dabei ertappt, dass Sie jetzt eher einmal ein Glas mehr Wein trinken?

Studer: Er lacht. Eine gute Frage. Nein. Ich trinke vielleicht einmal ein Bier, wenn ich mit meiner Frau am Wochenende koche, oder zum Abendessen am Sonntag ein Glas Wein. Ich bin aber privilegiert. Ich kann weiterarbeiten und mein Alltag hat sich nicht stark verändert, ich bin also nicht unter Druck geraten. Ich habe bisher auch von niemandem im Team gehört oder bemerkt, dass sich dessen Eigenkonsum erhöht hätte. Wir sind ja keine Abstinenzler, nur weil wir andere bei ihrem Konsum- und Suchtverhalten begleiten und beraten.

zentralplus: Kennen Sie auch Menschen, die in der Vergangenheit ein eher auffälliges Konsumverhalten hatten und die Krise als Chance nutzen?

Studer: Ja, ich kenne einige. Ein Mann, der nicht mehr seinen Stammtisch besuchen kann und sich vorgenommen hat, nur in Gesellschaft und nicht mehr zu Hause zu trinken, konnte es durchziehen. Er trank im letzten Monat keinen Schluck mehr.

«Sie sagte: ‹Ich geniere mich doch, wenn ich ihm immer wieder sagen muss, er soll mir die kleinen Cüpli-Flaschen bringen›.»

zentralplus: Gibts noch mehr positive Beispiele?

Studer: Ich betreue eine ältere Frau mit einem seit einigen Jahren erhöhten Alkoholkonsum, den sie reduziert hat. Mit über 70 Jahren gehört sie zur Risikogruppe, ihr Bruder geht für sie einkaufen. Sie sagte: «Ich geniere mich doch, wenn ich ihm immer wieder sagen muss, er solle mir die kleinen Cüpli-Flaschen bringen.» Auch gibt es einen jungen Mann, der viel Geld mit Sportwetten verloren hat. Nun steht der Sport still, er kann nicht mehr wetten.

zentralplus: Wie Sie sagten, mussten diese Menschen ihren Konsum zwangsläufig reduzieren. Hält das überhaupt an?

Studer: Das ist schwer zu sagen. Der Lerneffekt durch diese Krise wird sich erst noch zeigen beziehungsweise beweisen müssen. Menschen verfügen über positive Kräfte und solche Erfahrungen können einen guten Effekt haben.

«Ich habe am Telefon viele gesellschaftskritische Aussagen gehört wie: ‹Es war bitter nötig›.»

zentralplus: Wie erklären Sie sich, dass der eine in der Krisensituation mehr trinkt und der andere seinen Konsum reduzieren kann?

Studer: Man spricht in diesem Zusammenhang von «Resilienz». Sie ist bei jedem Menschen anders. Erst in Krisenzeiten zeigt sich vermehrt, wer über welche Kräfte verfügt. Uns erstaunt es ein Stück weit, wie viele unserer Klientinnen so gut mit der Situation umgehen. Ich habe am Telefon viele gesellschaftskritische Aussagen gehört wie: «Irgendwann musste es ja mal zu einer solchen Krise kommen. Es war bitter nötig. Man kann doch nicht immer so weitermachen, noch mehr haben wollen, grösser, schneller und besser werden.»

zentralplus: Was zeichnet Menschen mit einem übermässigen Konsumverhalten denn aus?

Studer: Menschen mit übermässigem Konsumverhalten sind häufig sensible Persönlichkeiten, die unter hohen Ansprüchen an sich selbst leiden, eigene Bedürfnisse zugunsten anderer zurückstellen, sich oft weniger wertvoll vorkommen. Diese Menschen erleben meist eine Diskrepanz zwischen sich und den anderen. Nun merken sie, die Krise betrifft ausnahmslos alle. Sogar Selbstsichere, Erfolgreiche und Prominente kommen in Not. Damit erleben sie die Kluft zwischen sich und den anderen nicht mehr so gross. Das kann sogar eine neue Form von Verbundenheit erzeugen. Ausserdem haben sich unsere Klienten in der Beratung mit sich selbst auseinandergesetzt, reflektieren mehr und bewerten ihr Denken und Handeln womöglich etwas anders. Sie haben dadurch auch ein Stück positiver Selbstwirksamkeit entdeckt und entwickelt. Zudem haben Menschen mit Suchtverhalten nicht selten Leid in ihrem Leben erfahren und die Corona-Krise ist für sie vielleicht gar nicht so bedrohlich wie für jene, die bisher noch nie in existenzielle Not geraten sind. 

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